Unter den Linden Lesser Ury
Der Maler des alten Berlin - von Leonhard v. Kalckreuth

In der winzigen Birnbaumer Gasse, die hinter der Katholischen Kirche zur "Kleinen Warthe" (die es, weil zugeschüttet, heute nicht mehr gibt) hinunterführt und die zwischen den 2 Weltkriegen nach den ebendort herstammenden Kaufhauskönigen "ulica Tietza" hieß, wurde Lesser (Elazar) Ury eigenen Angaben zufolge am 7. November 1861 in einem Haus neben der Synagoge als Sohn von Joseph und Fanny Ury geboren.

Über den Beruf des Vaters ist nichts bekannt. Die Familie mag später zerrüttet gewesen sein, festzustehen scheint, daß Lesser Ury im Alter von ca. 10 Jahren zusammen mit seiner Mutter und einem älteren Bruder nach Berlin übersiedelte, wo der Junge bis etwa 1878 oder 1879 zur Schule ging, möglicherweise aber auch schon eine Handwerkslehre begonnen hatte.

Die 1880er Jahre sehen Lesser Ury kurzzeitig in Kassel, wo dort ausgestellte Werke der bedeutendsten Niederländer, allen voran Rembrandts, eine Attraktion für den zur Malkunst Berufenen darstellten.
Sein weiterer Weg führte ihn an die seinerzeit wohl bekannteste deutsche Kunstakademie nach Düsseldorf, wo er sich am 21.4.1879 als Student eintragen ließ. 1880 setzt er seine Studien in Brüssel fort, zieht aber schon im gleichen Jahr weiter nach Paris und pendelt während der nächsten 2 Jahre zwischen Brüssel und Paris hin und her.

SeenlandschaftSchließlich nimmt er für 2 Jahre seinen Wohnsitz in Woluwe, einem Brüsseler Vorort. Aufenthalte in Berlin (1884-1886) und München bringen ihn in Verbindung mit einigen der bedeutendsten Maler jener Epoche.

1887 findet er mit Berlin seinen endgültigen Wirkungsort. Dort entsteht zum ersten Mal eine Verbindung mit dem 14 Jahre älteren Max Liebermann, der einem wohlhabenden Elternhaus entstammte und zum Zeitpunkt, als Lesser Ury mit ihm in Kontakt trat, als Künstler schon arriviert war.

Es entwickelte sich eine ambivalente Beziehung, geprägt einerseits durch gegenseitige Bewunderung, andererseits durch das Unterlegenheitsgefühl des einer niedrigeren sozialen Schicht entstammenden Ury. Immerhin ebnet Liebermann Ury manche Wege und Ury wächst allmählich in die Rolle des "Chronisten mit dem Malerpinsel" des sich immer rasanter zu einer Metropole von Weltrang entwickelnden Berlin hinein.

Café Bauer Im Winter 1889/ 90 hat Ury seine erste Ausstellung, in der Galerie Gurlitt. Die Aufnahme beim Publikum ebenso wie bei Malerkollegen ist, gelinde gesagt, umstritten, man bezeichnet seine Arbeiten als "verrückt, Schmierereien, brutal". Nur ganz Wenige erkennen das seherische und suchende Genie, das ihm innewohnt. Ein Aufenthalt in Italien macht ihm deutlich, daß die Helligkeit des Südens seinem Malstil nicht entspricht.

Lesser Ury wird nun ein geschätzter Porträtist, besonders gefragt bei der israelitischen Gemeinde Berlins, die ihm mancherlei Unterstützung zuteil werden läßt. Er malt Industrielle wie den AEG-Gründer Emil Rathenau und Literaten wie den Kritiker Alfred Kerr, er verkehrt im »Romanischen Café«, dem berühmten Intellektuellen-Treffpunkt an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.

1901 bezieht er seine Wohnung mit Atelier am Nollendorfplatz 1, die er bis zu seinem Tode behalten sollte. Er bleibt ebenso umstritten wie erfolgreich, wenngleich sein Bekanntheitsgrad denjenigen seiner Zeitgenossen Liebermann, Corinth und Slevogt nie erreichen sollte.

Man kann ihn als Impressionisten mit expressionistischen Zügen bezeichnen, der Religionsphilosoph Martin Buber bezeichnete ihn als eine promethetische Figur. Ein Zeitgenosse merkt an: Max Liebermann ist der größere Künstler, Lesser Ury der größere Maler. Ein Zerwürfnis ließ die beiden in ihren letzten Lebensjahren getrennte Wege gehen.

Sein Tod im Oktober 1931 bewahrte Lesser Ury davor, erleben zu müssen, daß seine Bilder als »Entartete Kunst« bezeichnet wurden und aus allen deutschen Museen und anderen öffentlichen Sammlungen entfernt werden mußten. Birnbaum hatte Lesser Ury nie wieder gesehen. Begraben liegt er auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee.

Atelier

Alle Abbildungen aus dem Buch "Lesser Ury, Zauber des Lichts". Mit freundlicher Genehmigung des Gebrüder Mann Verlag, Berlin