Geburtshaus Tietz in Birnbaum Von der Warthe an den Rhein
Portrait des Großkaufmanns Leonhard Tietz - von Leonhard v. Kalckreuth

Heimat, Familie, Jugend
Da, wo Birnbaum sich am bescheidensten darstellt, zwischen Markt und Hafen, wird dem jüdischen Ehepaar Jakob und Johanna Tietz geb. Kwieletzka nach einem Sohn und einer Tochter am 3. März 1849 ein zweiter Sohn geboren, den es Leonhard nennt. Der Vater betreibt ein bescheidenes Fuhrgeschäft, dem er noch ein kleines Gemischtwarengeschäft angliedern konnte, hauptsächlich mit Textilien. Nach einer weiteren Tochter, Jenny, wird dem Ehepaar 1858 mit Oscar ein dritter Sohn geschenkt.

Leonhard und Oscar sind die beiden Tietz-Brüder, die in die Geschichte des deutschen Warenhauswesens eingehen: Leonhard allein, Oscar gemeinsam mit beider Onkel Hermann, daher "Hertie". (Birnbaum ist im übrigen der Ausgangspunkt auch für andere Unternehmer, die heute als Begründer des modernen Einzelhandels gelten: neben der auf diesem Gebiet so aktiven Familie Tietz stammen auch die Schocken, Knopf und Wronker aus Birnbaum).

Onkel Herman und Bruder Oscar TietzLeonhard besucht ab 1854 die Schule in Birnbaum, absolviert danach eine Lehre in einem Gemischtwarengeschäft entfernter Verwandter in Prenzlau (Uckermark), wird anschließend Kommis (Handlungsgehilfe), dann Reisender bei einem Engros-Geschäft, das von anderen Verwandten als Firma "Gebrüder Tietz" in Birnbaum betrieben wird (und später nach Berlin zieht).

Leonhard Tietz ist klein von Statur und schwächlich von Gesundheit, aber voll hellen Geistes, flink in seinen Bewegungen, schnell in seiner Sprache, freundlich, liebenswürdig, charmant, ein guter Tänzer und ein kleiner Scherzbold, aber auch ein Rationalist, wissensdurstig und vielfältig interesssiert, auch in kultureller Hinsicht. Er hat den hohen Intelligenzgrad, der die spanischen Juden (Sephardim) schon früher in die höchsten Stellen brachte. Gute Warenkenntnisse, Erfahrungen und Erfolge im Umgang mit der Kundschaft und den Lieferanten, Erlebnisse auf Reisen und bei Messebesuchen in Leipzig und Frankfurt/M. förden in ihm die Absicht, sich kaufmännisch selbständig zu machen.

Ehepaar Flora und Leo TietzEnde 1876, nun 27 Jahre alt, übernimmt er mit einem einstigen Birnbaumer Schulfreund in Frankfurt/O. die bereits bestehende Firma B. Winkelmann als Nachfolger und betreibt in Kompagnie ein Kurz-, Weiß- und Wollwarengeschäft. Als Leonhard Tietz nach gut 2 Jahren die Verlobung mit seiner Jugendfreundin Flora Baumann bekanntgibt, bricht die Partnerschaft der Geschäftsinhaber auseinander; der Kompagnon befürchtet, daß seine und Leonhards Frau sich nicht verstehen. Tietz löst die Geschäftsverbindung gegen eine Abfindung von 3000 Talern und wendet sich mit Flora einer neuen, nun alleinigen Firmengründung zu. Ort dieser Geschäftsinitiative wird Stralsund.

Der erste eigene Laden in Stralsund
Zielstrebig geht Leonhard Tietz an die Gründung seines ersten eigenen Geschäfts: 1879 kauft er in der Hauptverkehrsstraße von Stralsund, der Ossenreyerstr. 31, das dortige Ladenlokal von einem Hern Holst und eröffnet am 14. August ein "Garn-, Knopf-, Posamentier- und Wollwaren-Geschäft en gros & en detail, verbunden mit einer besonderen Abteilung Specialität sämtlicher Artikel zur Damen- und Herrenschneiderei."

Erster Laden in Stralsund Daß das keine flüchtige Spekulation, sondern die solide Gründung seiner beruflichen und häuslichen Existenz ist, geht daraus hervor, daß er, nunmehr 30jährig, bereits im Oktober 1879 seine am 20.5.1855 in Birnbaum geborene , also jetzt 24jährige, Jugendfreundin Flora Baumann heiratet. Die teilt mit ihm die anfallende Arbeit, betreut, während er geschäftlich unterwegs ist, den Laden. Der private Name Leonhard Tietz erscheint nun zum ersten Mal als Firmenname, und die Stralsunder Gründung wird das Stammhaus des späteren Warenhauskonzerns Leonhard Tietz, der heutigen Kaufhof AG.

Das Geschäft floriert, und schon im nächsten Jahr zieht Leonhard Tietz innerhalb der Ossenreyerstraße um in das Haus Nr. 21, wo er das Erdgeschoß als Laden und Wohnung, den Keller und das Obergeschoß als Lager verwenden kann. Von Anfang an betreibt Tietz sein Unternehmen nach dem schon von den frühen franz ösischen Warenhäusern praktizierten Prinzip "Großer Umsatz, kleiner Nutzen" auf der Grundlage von öffentlich ausgezeichneten Festpreisen und Barzahlung. Die Methode ist also nicht neu, sie bringt allenfalls regional im Osten Deutschlands eine überraschende Neuerung, die sich bald durchsetzt. In Stralsund arbeitet, ebenfalls seit 1879, Wertheim nach diesem Prinzip. Bisher ist es dort im Einzelhandel üblich, die Ware geruhsam durch Feilschen und Anschreiben (also Borg) umzusetzen. Das neue System erfordert schnelleren Umschlag des Lagers, Ermitteln und Anreizen des Kundenbedarfs, günstigen Einkauf beim Lieferanten (möglichst direkt beim Hersteller). Damit kommt Leonhard Tietz auch der Notwendigkeit entgegen, die sich aus der zunehmenden Industrialisierung ergebende Massenproduktion in Massenabsatz unter die Konsumenten zu bringen.

In dem geräumigen Haus Ossenreyerstr. 21 nimmt Tietz Waren aus der Bekleidungsbranche in sein Sortiment auf. 1885 richtet er unter dem Dach des Hauses eine eigene Posamentenfabrik ein, stellt eine Strickmaschine zum Anstricken von Strümpfen auf und installiert im Laden eine besondere Kassenstelle. Das Geschäft hat nun 10 Mitarbeiter, unter ihnen Frau Floras Cousine Johanna Wolff; ab 1881 ist Floras jüngerer Bruder Sally Lehrling. Nach seiner Lehre bereist Sally Baumann für das Geschäft seines Schwagers besonders die Insel Rügen. Überhaupt werden für die Leitung der sich künftig mehrenden Filialen vornehmlich Verwandte herangezogen, meist von Frau Floras Seite.

Fühler in den Süden
Inzwischen unternimmt Leonhard Tietz, durch den Erfolg seines Systems in Stralsund bestätigt und animiert, Ausweitungsversuche in andere Gegenden. Die Zielrichtung ist Süddeutschland. 1884 kauft er ein Geschäft in Schweinfurt, dessen Leitung dem jüngeren Bruder von Frau Flora Tietz, Sally Baumann übertragen wird. Die notwendigen verlockenden Preisangebote sollen unter Ausschaltung des Großhandels erreicht werden, indem die gesamte Tietz-Verwandtschaft, die an den verschiedensten Plätzen schon gleichartige Geschäfte betreibt, gemeinsam bei den Fabrikanten einkauft - was dem Großhandel und auch dem Einzelhandel gar nicht gefällt, aber den Käufern von Nutzen ist.

Da die Firma H. & C. Tietz in Nürnberg näher an Schweinfurt liegt und zudem bereits einen Laden im entfernteren Mainz gemietet hat, kommt es mit Leonhard zum Austausch der beiden Projekte. Aus einem Zeitungsinserat von 1888 über die Eröffnung eines Ladens unter dem Hauptnamen Leonhard Tietz in Amberg (Leitung: Flora-Bruder Max Baumann) geht hervor, wo der Tietz-Clan bereits überall "mit gleichen Geschäften" vertreten ist. Es werden 22 Städte mit dem Nachkürzel "u.a." zwischen Prenzlau, Karlsruhe, Landau, Regensburg und Krimmitzschau aufgeführt. Da aber der vielversprechende Platz München, auf den Leonhard Tietz zielt, bereits von Bruder Oscar ins Auge gefaßt ist, st ößt Leonhard auch die Amberger Filiale ab. Zwischen den Brüdern gibt es nun - wie später zwischen den Albrecht-Brüdern (ALDI) - eine klare Gebietsabsprache: Oscar gründet seine Filialen im Süden, Leonhard im Westen. Gemeinsam bleibt der Einkauf für die Großfamilie ab Fabrik.

Wechsel ins Rheinland
Da Leonhard Tietz Geschäftsverbindungen nach Elberfeld hat, ist ihm der rheinisch-bergische Raum mit seiner emporstrebenden Mittel- und Kleinindustrie, besonders im Textilbereich, nicht unbekannt. Er ist verschiedentlich auf Einkaufsreisen hier gewesen und sieht eine gute Umsatz-Chance bei dem kaufkräftigen und lebenszugewandteren Publikum als im Vorpommerischen. So gründet er, in seinem vierzigsten Lebensjahr und zehn Jahre nach seinem Start in Stralsund, 1889 seine erste Filiale in Westdeutschland, in Elberfeld. Am Mittwoch, dem 8. Mai 1889 öffnet sich die Tür des - wiederum nur kleinen - Ladens von 10 Metern Breite und mit nur einem Schaufenster in der Herzogstr. 25. Es gibt, zunächst, nur 3 Verkäuferinnen; Leiter des Geschäfts ist der ältere Bruder von Frau Flora Tietz, Max Baumann. Der Zulauf ist groß, der Umsatz entsprechend großartig. Nach 2 Tagen muß das Geschäft vorübergehend geschlossen werden, um das Lager zu ergänzen. Und schon im August 1889, also nur 3 Monate nach Eröffnung der Filiale, findet ein Umzug in das Haus Herzogstr. 17 statt, wo größere Räume vorhanden sind und das Geschäftslokal am Samstag, den 24.8., eröffnet wird. Nur 2 Jahre später wird das immer größer gewordene Geschäft in einen eigenen Neubau Ecke Herzogstraße/Grünstraße verlegt. Schon 1890 war eine Filiale in der Nachbarstadt Barmen eröffnet worden, die lt. Zeitungsinserat "dort genau zu den hier allseits anerkannten billigsten Preisen verkauft".

Das Tietzsche Rezept funktioniert, das junge Unternehmen wird weit und breit schnell bekannt, Hausbesitzer in vielen Städten des Rheinlands bieten Läden zur Miete an. So wird eine weitere Zweigniederlasssung in Koblenz, in gemieteten Räumen, eingerichtet. Die Leitung übernimmt Frau Tietzens Vetter Louis Schloss, der seine Stelle als Bankprokurist im thüringischen Nordhausen dafür aufgibt. 1890 wird die Zweigniederlassung Elberfeld zur Hauptniederlassung des Tietz-Gesamtunternehmens umgewandelt. Leonhard und Flora verlegen ihren Wohnsitz von Stralsund nach hier.

ersters Geschäft in Köln 1891 setzt Leonhard Tietz seinen Fuß nach Köln und zwar instinktsicher oder klug berechnet mitten ins Herz der Stadt, oder, genauer gesagt, haarscharf an den Rand des Herzens der Stadt - man weiß ja: er sucht sich zunächst eine günstige Ausgangsposition in einem kleineren Laden in leicht peripherer Lage, um, wenn es nicht gut geht, sich ohne große Verluste zurückziehen zu können, oder aber, wenn es gut geht mit zwei, drei Schritten, d.h. kurzen Umzügen, gleich mitten im wimmelnden Verkehrs- und Absatznetz zu domizilieren. Die Rechnung ging glänzend auf, schon im Oktober 1895 wird ein für die damalige Zeit sehr moderner Geschäftsbau in der Hohe Str. 45, heute der Standort des Flaggschiffs der Kaufhof Warenhaus AG, wie das Unternehmen seit 1.1.1989 heißt, er öffnet. Das Unternehmen verlegt 1893 seinen Hauptsitz nach Köln, wo zu dieser Zeit schon 3 Geschäfte existieren.

Anzeige Das Unternehmen breitet sich nun rasant in Westdeutschland und Belgien aus und zu Beginn des Ersten Weltkriegs gebietet Leonhard Tietz über 18 Häuser in Deutschland und 6 Häuser in Belgien mit insgesamt 40.000 qm und 5550 Angestellten. Am 17. März 1905 war die Fa. Leonhard Tietz in eine Aktiengesellschaft mit einem Gründungskapital von 10 Millionen Mark umgewandelt worden, die in Gänze von der Großfamilie übernommen wurden, so daß das Unternehmen auch weiterhin in Familienbesitz blieb. 1912 war der Ausbau des Stammhauses Köln in Angriff genommen worden. Halle Kaufhof Was der Architekt Wilhelm Kreis geschaffen hatte und am 8. April 1914 übergeben und als größtes modernstes Warenhaus Europas festlich eröffnet wurde, erregte Aufsehen und Bewunderung in ganz Europa: das "Paradies der Käufer" - in Abwandlung von Emile Zola's "Paradies der Damen". Für dieses Symbol des "Triumphes der Qualität" soll der Bauherr Leonhard Tietz seinem Architekten an diesem Tag auf besondere Weise gedankt haben. Sobald sich die Festgesellschaft zu Tisch begeben hat, fordert der alte Herr den überraschten Architekten auf, seine Serviette zu lüften: darunter ist eine hohe Prämie versteckt - eine Handvoll Goldstücke.

Keiner der Inhaber der Fa. Tietz gehört zu den orthodoxen Juden, aber an den hohen jüdischen Feiertagen besuchen sie die Synagoge und halten das Geschäft geschlossen. Leonhard Tietz wird für seine Verdienste mit dem Roten-Adler-Orden ausgezeichnet. Er entwickelt sich auch zum Kunstkenner, Sammler und Mäzen, der dem Kölner Wallraf-Richartz-Museum wichtige Werke zuwendet. Von Max Liebermann läßt er sich porträtieren.

Portrait Am 14. November 1914 stirbt Leonhard Tietz im 65. Lebensjahr und auf der Höhe des von ihm gegründeten Unternehmens. Begraben wird er auf dem Israelitischen Friedhof in Köln-Deutz.

Ihrer Herkunft aus Birnbaum bewußt, machten die Brüder Leonhard und Oscar Tietz ebenso wie die ihnen nachfolgende Generation der Familie der Stadt in den ersten 3 Jahrzehnten des 20. Jhs. bedeutende Zuwendungen. Ein daran erinnernder, 1912 aufgestellter, Gedenkstein für Oscar Tietz am Ufer des Küchensees war von den Deutschen 1939 weggeräumt worden. 2002 wurde dieser wieder an seinem alten Platz aufgestellt.

Auch die "ulica Tietza" (Tietzstrasse in Birnbaum), die ihren Namen unter den Nationalsozialisten verloren und unter den Kommunisten nicht wiedererlangt hatte, erhielt ihn inzwischen wieder zurück.

Alle Abbildungen aus dem Buch "Peter Fuchs, 100 Jahre Kaufhof 1891-1991". Mit freundlicher Genehmigung von Peter Fuchs, © Peter Fuchs 1991