ZEITZEUGENBERICHTE
Bericht über die Ereignisse Januar 1945
in Dürrlettel / Lutol Suchy

Kurt Kindlers Erlebnisse und Erinnerungen an die Zeit vom 28.1.1945 bis 1950 wurden zusammengefaßt und ergänzt von Frau Dr. Bärbel Voigt (Bilder Archiv HGr und Kurt Kindler)

Die ersten russischen Soldaten kamen mit Panzern als „Vorabformation“ am Morgen des 30.1.1945 nach Dürrlettel, Kreis Meseritz. Unter ihnen auch Offiziere, die mit einigen Bewohnern Deutsch sprachen. Die russischen Soldaten beschossen einige Häuser, so gerieten die Bäckerei und einige Scheunen in Brand. Sie richteten im Haus Nr.14, neben dem Gemeindesaal, der seit Tagen als Behelfslazarett für etwa 50 verwundete Wehrmachtsangehörige diente, eine Kommandantur für die Rote Armee ein.
Russische Soldaten suchten überall in den Häusern nach deutschen Soldaten, besonders nach SS- Angehörigen. Da die erste russische Panzereinheit sehr schnell weiterzog, hofften die Dorfbewohner darauf, daß die Wehrmacht die Gebiete wieder zurückerobern würde. Das war ein Irrtum. In Wirklichkeit kamen im Laufe der nächsten Tage immer mehr russische Armeeeinheiten auch nach Dürrlettel.
Die Dorfbevölkerung war von dem ersten Einmarsch der Russen völlig überrascht worden. Noch am 28.1.1945 hatten einige junge Frauen des Dorfes den Auftrag erhalten, im Dorf und auch am Bahnhof von Dürrlettel, Flugblätter zu verteilen, die es Allen bei Strafe untersagten, die Wohnorte zu verlassen bzw. zu fliehen. Dabei zogen schon seit Tagen, auch durch Dürrlettel, Trecks mit Flüchtlingen aus dem Warthegau in Richtung Westen zur Oder. Sie erzählten von schrecklichen Taten, die, nach dem Einmarsch der Roten Armee auch an Zivilisten begangen wurden.

Von den Verantwortlichen der Kreisleitung Meseritz und des Dorfes wurden diese Berichte als „Propaganda des Feindes“ abgetan und die Dorfbewohner ihrem Schicksal überlassen. Niemand im Dorf konnte sich vorstellen, daß es der Roten Armee schon gelungen war, bis Ende Januar 1945 an vielen Stellen die Obra zu überqueren und daß die Stellungen der Deutschen Wehrmacht bei Tirschtiegel und Meseritz am 29.1.1945 bereits geräumt waren.
So waren die Dorfbewohner völlig ahnungslos, als am 30.1.1945 russische Soldaten mit Panzern vor den Türen standen. Sie ahnten auch nicht, daß sich Dürrlettel zu dieser Zeit bereits in einem Kessel umgeben von der Roten Armee befand und unsere Wehrmachtssoldaten zu großen Teilen schon gefangen, erschossen oder auf dem Rückzug waren. Unsere schwerverwundeten Soldaten, die im Behelfslazarett untergebracht waren, wurden Ende Januar 1945 nur noch von den zwei Gemeindeschwestern Frieda Breuer und Anne Schmidtchen aus dem Dorf betreut. Junge Frauen aus Dürrlettel halfen beim Kochen und bei anderen Arbeiten im Behelfslazarett. Dorfbewohner brachten Suppen und andere Lebensmittel für die Verwundeten. Der geplante Transport nach Schwiebus ins Hauptlazarett war für die Schwerverwundeten nicht mehr möglich gewesen. Aber Ärzte und Sanitäter hatten das Dorf noch rechtzeitig, vor Eintreffen der russischen Soldaten, verlassen können.
Vor der eingerichteten russischen Kommandantur standen immer wieder Panzer. Russische Soldaten, die oft betrunken waren, zogen besonders am Abend von Haus zu Haus, um zu morden, zu plündern und auf der Suche nach Frauen, um sie zu vergewaltigen (siehe: HGr 143, Dez. 1997, auch in weiteren HGr-Ausgaben).
Sie verbreiteten Angst und Schrecken. Viele junge Frauen versteckten sich auf den Heuböden oder verkleideten sich als alte Frauen. Nachts hörten die Dorfbewohner Schreie und Schüsse.


Bericht über die Ereignisse Januar 1945 in Dürrlettel / Lutol Suchy

Kurt Kindler lebte mit seiner Mutter und seinen beiden Schwestern im sogenannten Altenteil des Dorfes, da sein Elternhaus die russische Kommandantur geworden war.
Vater und Bruder waren zum Volkssturm bzw. zur Wehrmacht eingezogen worden. Sein Vater fand wenig später in Neu Bentschen bei einem Massaker an Volkssturmangehörigen den Tod. Der Bruder überlebte Krieg und Gefangenschaft.
Anfang 1945 bestand die Zivilbevölkerung in Deutschland fast nur noch aus Kindern, Frauen und alten, wehruntauglichen Männern, so auch in unserem Dorf.
Die russische Kommandantur befand sich nun neben dem Gemeindesaal, in dem sich das Behelfslazarett für die verwundeten Wehrmachtsangehörigen befand. Vor der Kommandantur standen auch am 3.2.1945 wieder Panzer und russische Soldaten. Einige der Soldaten waren wieder im Dorf unterwegs. Am Abend befand sich Kurt Kindler auch im Lazarett. Er half dort beim Holzhacken. Da es schon sehr spät und schrecklich kalt war( -26 C), wollte er die Nacht im Saal des Behelfslazaretts verbringen. Im Saal schliefen die Verwundeten und die beiden Gemeindeschwestern. Er erinnert sich, daß etwa 50 verwundete Soldaten im Saal untergebracht waren, als plötzlich zwei oder drei russische Soldaten hereinkamen. Sie forderten die beiden Krankenschwestern auf mitzukommen. Als diese sich weigerten, erschossen sie sofort die beiden Frauen mit ihren Maschinenpistolen.
Dann verließen sie den Saal, kamen aber kurz danach wieder zurück. So wurde Kurt Kindler Zeuge eines unglaublichen Blutbades.
Im Lazarettsaal spielten sich schreckliche, tumultartige Szenen ab. Die russischen Soldaten gingen nun mit ihren Maschinenpistolen von einem zum anderen Verwundeten, die alle nebeneinander auf dem Boden des Saales lagen und erschossen sie.Vor dem Saal standen weitere russische Armeeangehörige, die das Massaker verfolgten. Wie sich später herausstellte, fanden insgesamt 47 Wehrmachtsangehörige und unsere beiden Gemeindeschwestern im Behelfslazarett von Dürrlettel den Tod.

Hier geschah einer der vielen grausamen Verstöße gegen die Genfer Konvention während des 2. Weltkrieges. Nur einem Verwundeten gelang es, sich so zu verstecken, daß er später aus dem Dorf flüchten konnte. Er überlebte und berichtete später über diese schrecklichen Ereignisse (HGr 54, März 1975). Auch Kurt K. konnte in dieser Nacht eine Gelegenheit nutzen und durch den Hinterausgang des Saales flüchten. Im Dunkeln verbarg er sich, da überall im Dorf noch Panzer und russische Soldaten waren, aus Angst bis zum Morgen in einem Holzschuppen. Daß er überlebte, ist ein Wunder.
Die Leichen der ermordeten Soldaten wurden im Hof aufgestapelt. In den nächsten Tagen mußten einige der älteren männlichen Dorfbewohner die Erschossenen auf Anordnung der russischen Kommandantur auf den Friedhof des Dorfes transportieren und in einem Massengrab verscharren. Die Dorfbewohner, die sich den russischen Soldaten verweigerten oder sich schützend vor Andere stellten, wurden ebenfalls erschossen. Sie wurden von ihren Angehörigen meist in Gärten und auf den Feldern des Dorfes notdürftig begraben. Weiterhin blieben die Dorfbewohner der russischen Willkür ausgesetzt. Noch mehrere Wochen nach dem Einmarsch der Roten Armee bestand im Dorf Kriegszustand mit allen Begleiterscheinungen: Keine Tür durfte verschlossen werden, Vergewaltigungen, Plünderungen, Verschleppungen und sogenannte kurzfristige „Arbeitseinsätze“ für Frauen und Männer gehörten zum Alltag. Es wurde eine polnische Verwaltung im Dorf eingerichtet, die eng mit der russischen Kommandantur zusammenarbeitete.

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Am 26.2.1945 wurden in Dürrlettel alle Männer im Alter von 15 bis 70 aufgefordert, sich sofort bei der russischen Kommandantur zu melden. Es wurden, soweit ich mich erinnere, 43 Personen erfaßt. Sie sollten sich warm anziehen und Verpflegung für eine Woche mitnehmen. Zu den Erfaßten gehörte auch Kurt K. und der Bruder von Frau Kabelitz, geb. Rutschke (HGr 143, Dezember 1997). Die Männer wurden unter Bewachung von Russisch oder Polnisch sprechenden Milizen nach Meseritz gebracht.
Im dortigen Rathauskeller sperrte man sie zunächst ein. Einige der Männer, die als zu alt oder krank galten, wurden zurück ins Dorf geschickt. Die anderen brachte die Miliz ohne jede Erklärungen über Schwerin / Warthe nach Posen. So erging es vielen Männern aus den Dörfern unserer Gegend. Auf dem Weg und in Posen war an eine Flucht nicht zu denken. Wer es dennoch wagte, wurde sofort erschossen. In Posen kamen alle Männer in ein großes Sammellager. Die Verpflegung reichte nicht, alle hungerten. Nach etwa 10 Tagen wurden die Zusammengetriebenen in Viehwaggons zu je 90 Personen in Richtung Osten, nach Russland in die Ukraine transportiert.

Die Fahrt dauerte unter ständiger Bewachung drei Tage und Nächte. In dieser Zeit bekam niemand etwas zu essen und kaum etwas zu trinken. Viele starben und wurden während der Stopps aus dem Zug geworfen. Das Lagergebiet, in die man die Zwangseingewiesenen brachte, befand sich in der Region Dnepropetrovsk in der heutigen Ukraine. Die Baracken, in denen die nun Gefangenen leben sollten, mußten sie in einem Steppengebiet erst selbst errichten. Schwere körperliche Arbeit bei völlig unzureichender Verpflegung und extremen Witterungsverhältnissen führten immer wieder zu vielen Todesfällen und schweren Krankheiten.
Kurt K. konnte nur auf Grund seiner guten Kondition die Infektionskrankheiten, die Schikanen, Hunger und die Kälte überleben. Im Oktober 1946 waren von den 1400 Gefangenen, die mit Kurt K. zusammen im April 1945 in die Ukraine transportiert wurden, wie er später erfuhr, 500 verstorben. Aber auch Kurt K. war ab Mitte 1946 nicht mehr „arbeitsfähig“, deshalb schickten die Russen ihn im Oktober 1946 zusammen mit anderen arbeitsunfähigen Zivilgefangenen nach Deutschland zurück.

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Der Transport zurück erfolgte wieder in offenen Viehwaggons bis Frankfurt / Oder. Hier wurden die halb verhungerten und kranken Männer entlassen. Sie wußten noch nicht, daß die Gebiete östlich der Oder nun zu Polen gehörten und daß ihre Angehörigen aus diesen Gebieten schon am 25. Juni 1945 innerhalb von zwei Stunden vertrieben worden waren.
Kurt K. fand Arbeit bei einem Bauern und konnte seine Familie durch viele glückliche Zufälle in Sandau an der Elbe wiederfinden. Bis 1950 hat Kurt K. dann in Sachsen - Anhalt bei Bauern gearbeitet, bevor er über die sogenannte „ Grüne Grenze“ nach Westdeutschland flüchtete. Die Angst vor erneuter Gefangenschaft begleitete ihn in dieser Zeit in der DDR ständig. In Westfalen ist er geblieben, hat 37 Jahre gearbeitet und auch eine Familie gegründet und lebt heute noch dort. Kurt K. hat, nachdem er von der Exhumierung der Wehrmachtssoldaten in Dürrlettel im März 2012 erfahren hatte, trotz schmerzhafter Erinnerungen nochmals über seine Erlebnisse von 1945-1950 gesprochen. Auch andere ehemalige Dorfbewohner aus Dürrlettel haben seine Berichte bestätigt und ergänzt. Laut dem Statistischen Bundesamt Stuttgart von 1958 kamen von den ca. 642.000 Bewohnern Ostbrandenburgs fast 250.000 im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung ums Leben. Durch das lange Festhalten der verantwortlichen Nazibehörden an Treckverboten gelang es nur einem Drittel der Bevölkerung über die Oder bzw. der Neiße zu fliehen, um oft wenigstens das Leben zu retten. Immer noch vermutet man Tausende von Toten (Soldaten u. Zivilisten), 1945 verscharrt in Wäldern, Gärten und auf Feldern in den ehemaligen deutschen Gebieten östlich der Oder.

Stalin ließ ca. 30 000 Zivilisten 1945 in Gebiete der damaligen Sowjetunion deportieren, wie viele davon wirklich überlebten, ist bis heute nicht klar zu beziffern. Für Dürrlettel stellte Georg Gebauer (ehemaliger Bürgermeister) bereits für den Heimatgruß im März 1975 folgende Statistik zusammen:


Gesamteinwohnerzahl
1.9.1939
742 Personen
Gefallen als
Soldaten
65
Bei der Besetzung durch die
Rote Armee ab 30.1.1945
22
In Gefangenschaft
verstorben
18
Als Folge der Vertreibung verstorben 40


Am 19.3.2012 konnten die bei Massakern in Dürrlettel ermordeten 47 Wehrmachtsangehörigen und die beiden Rotkreuzschwestern auf dem Friedhof von Lutol Suchy/ Dürrlettel exhumiert werden. Die Exhumierung wurde von der Organisation“ POMOST“, unter Leitung von Herrn Tomasz Czabanski durchgeführt (HGr 201, Juni 2012). Die Exhumierten wurden inzwischen auf dem Soldatenfriedhof Glinna in Stare Czarnowo unter Nr. 19585-19630, Block. 15, Reihe 17-18, Grab: 819-868, bestattet.

Die 21 gefundenen Erkennungsmarken sind dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. in Kassel übergeben worden. Leider ist eine Identifizierung der Erkennungsmarken durch die Deutsche Dienststelle (Wehrmachtsauskunftsstelle) in Berlin bisher noch nicht möglich gewesen (Stand März 2014). Es ist kein Geheimnis, daß auf den Feldern und in einigen Gärten des Dorfes immer noch - besonders zivile - Opfer seit den Kriegsereignissen vom Januar- Februar 1945 vergraben sind. Im Juni 2013 konnten wir zusammen mit der heutigen polnischen Bevölkerung, den polnischen Behörden und ehemaligen deutschen Bewohnern des Dorfes Dürrlettel / Lutol Suchy auf dem Friedhof einen Gedenkstein einweihen, der besonders an die Toten der geschilderten Ereignisse vom Januar/ Februar 1945 erinnern soll.

Bericht über die Ereignisse Januar 1945 in Dürrlettel / Lutol SuchySo sollen die Schilderungen von Kurt K. für alle, die diese Zeit selbst erleben mußten, aber besonders auch für die nach dem Krieg geborenen Menschen, eine Mahnung sein, nie wieder Krieg zwischen den Völkern Europas zuzulassen.