ZEITZEUGENBERICHTE
Ereignisse im militärischen Bereich während der Besetzung von Meseritz durch die Russen

Von Sanitätsoberfeldwebel Evenius, Sanitätsstaffel der Meseritzer Kasernen
(Fotos: Archiv Heimatgruss).
Der folgende Bericht zeigt, in welchem Chaos sich die deutsche Wehrmacht im Januar 1945 in unserer Heimat hinter der Front befand. Ein Zustand, der für die Flucht der Zivilbevölkerung nicht ohne Auswirkung blieb.


Am 20./21. Januar 1945 hatte der Korpsarzt das Reservelazarett Meseritz (das Reservelazarett befand sich in Räumen der Volksschule Bismarckstr.) besichtigt und bei dieser Gelegenheit dem Standortarzt, O.St.A. Dr. Johannes Klose, wörtlich gesagt: „Sie bleiben mit dem Sanitätspersonal solange hier, bis die Russen kommen. Dann sind sie frei!” Damit waren die vom Generalkommando vorher geheim verfügten Maßnahmen: Verlagerung des Reservelazarettes nach Küstrin, die Zahnstation nach Soldin, gegenstandslos geworden.
In den folgenden Tagen wurden zunächst die Schwerkranken, dann sämtliche Leichtkranken abtransportiert. In das Lazarett rückte ein motorisiertes Feldlazarett mit eigenem Stab und Personal ein. Im erweiterten Krankenrevier des Grenadier-Ersatz-Bataillons 188 änderte sich nichts, auch die Bettkranken blieben dort.
Über die Frontlage wußten wir nichts. Gerüchte, die von Vorstößen russischer Panzer nach Tirschtiegel, Betsche, Brätz, Alt- und Neu-Bentschen, schließlich auch nach Schwiebus wissen wollten, wurden noch nicht ernst genommen.

Seit dem 25. Januar hörte man den ganzen Tag über südöstlich von Meseritz Geschützdonner. Man sprach aber von Eissprengungen auf der Seenkette. Der Dienst ging unverändert weiter.
Eine leichte Nervosität machte sich höchstens bei den rund 300 bis 400 weiblichen Angestellten der Wehrkreisgebührenstelle geltend, denen aber mitgeteilt worden war, sie würden rechtzeitig mit ihrem Gepäck in Sonderzügen abtransportiert werden. Ich verabredete mit dem Standortarzt, daß ich das Sanitätspersonal des erweiterten Krankenreviers und die Leichtkranken hinter die Ostwall-Linie zurückführen solle.
Entweder werde der Standortarzt uns selbst bis Pieske führen oder wir sollten uns in Pieske mit ihm treffen. Da mit der Möglichkeit einer völligen Trennung zu rechnen war, erhielt ich für den äußersten Notfall den schriftlichen Befehl, die Gesamtmannschaft zur Sanitätsabteilung Frankfurt/Oder bzw. Sanitätsabteilung Groß-Berlin zurückzuführen.

Volksschule und Reservelazarett Meseritz
Am 21. sowie nochmalig am 22. Januar 1945 rief mich Hauptfeldwebel Possew vom Reservelazarett an, er habe mehrere Omnibusse für die Wegschaffung der Schwestern und des Sanitätspersonals zur Verfügung. Wir vom Standortarztpersonal und unsere Kranken könnten sich ihnen anschließen. Sobald die allgemeine Lage dies erfordere, werde er uns von der Kaserne abholen. Auch der Standortarzt käme dann mit. Ich könnte mich fest darauf verlassen. In der Nacht vom 20. zum 21. Januar war das Stichwort „Gneisenau” aufgerufen worden. Drei Kompanien des Ersatzbataillons waren sofort abgerückt. In den Kasernen befanden sich danach kaum noch bedingt Kv.-Mannschaften (Kriegsverwenundgsfähige). Näheres über den Einsatz der Gneisenau-Kompanie war nicht bekannt, da sie zusammen mit Truppenteilen aus Landsberg /W. und Schwerin/W. zu einem eigenen Regiment formiert waren. Sie hatten auch ihre eigene Sanitätsformation. Nach ihrem Abzug waren kampffähige Truppenteile weder in Meseritz noch in Schwerin/W. verblieben. Das Regenwurmlager war inzwischen auch von der Kriegsschule geräumt worden, die nach Mecklenburg verlegt wurde.

Am 27. Januar 1945 traf eine motorisierte SS-Einheit, etwa in Stärke eines Regimentes, im Bezirk Meseritz ein. Ein Unterarzt meldete sich auf dem Standortarzt-Geschäftszimmer, bat mich um eine Generalstabskarte und fragte anhand dieser, wohin er seine Leichtverletzten schicken könne, damit sie nicht in die Hände der Russen fielen.
Ein ganzes Bataillon seiner Truppe sei beim Auswaggonieren in der Stadt Pinne von den Russen eingeschlossen worden. Sie hätten jetzt Befehl, dieses Bataillon herauszuhauen. Am 28. Januar rückte der Rest des SS-Regiments ab.
Am Spätnachmittag des 28. Januar konnte man in einem Bogen von Nordost bis Süd um Meseritz den Feuerschein von brennenden Ortschaften sehen.
Das Artilleriefeuer hielt an.

Sonntag, den 28. Januar 1945, wurde mittags der Rest des Ersatzbataillons alarmiert. 700 Russen seien, auf der Chaussee nach Schwerin marschierend, gesichtet worden. Tatsache war folgende: die russischen Kriegsgefangenen aus dem Kreise Meseritz sollten unter leichter Bedeckung durch Landesschützen zu einer Sammelstelle geführt werden. Auf diesem Marsch hätten ein paar russische Panzer die Chaussee gekreuzt. Der Transport war daraufhin auseinander gelaufen.


Am Montag, dem 29. Januar 1945 wurde die telefonische Verbindung mit dem Regenwurmlager unterbrochen: russische Panzer waren, durch die Waldschneisen fahrend, nach Nipter durchgebrochen, hatten den Bahnhof und einzelne Häuser in Brand geschossen. Damit war die Chaussee nach Schwiebus in der Folge unbrauchbar. Am Mittag des gleichen Tages versagte auch die telefonische Verbindung mit Schwerin/ W..

Nach späteren Aussagen des Sanitätsunteroffiziers Jeremias vom Stoß Schwerin /W. hatte der Bataillonsstab 466 mit Troß mittags die Stadt in westlicher Richtung verlassen.
Aufklärungsvorstöße seitens des Grenadier- Ersatzbataillons 188 Meseritz, stellten, wie mir der Bataillonsfeldwebel Rump im Laufe des Nachmittags mitteilte, eine starke Besetzung der Chaussee Meseritz - Schwerin durch russische Panzer fest. Es blieb nur noch die Chaussee nach Reppen - Frankfurt/O. offen. Aber es mußte damit gerechnet werden, daß sie aus Richtung Kainscht (vom Süden her) durch die Russen unterbrochen wurde. Dies war die Situation am Montagmittag.
In Meseritz ging der Dienstbetrieb unverändert weiter. Auch die 300 bis 400 weiblichen Angestellten der in der Kaserne untergebrachten Wehrkreisgebührenstelle III warteten nunmehr ruhig bei ihrem Gepäck sitzend auf die angekündigten Sonderzüge. Besondere Nachrichten gingen nicht mehr ein.

Am frühen Nachmittag verschnürte ich mit dem Sanitätsobergefreiten Willi Urban unseren gemeinschaftlich aus alten Brettern und Schrankverschlägen selbst angefertigten Schlitten probeweise, um uns an die Handgriffe zu gewöhnen. Auch dem Personal gab ich Befehl, das Gepäck fertig zu machen.
Ein Versuch, Marschverpflegung aus der Küche zu empfangen, schlug fehl. Man sei bemüht, sie zu beschaffen. Da ich hiermit gerechnet hatte, hatte ich bereits am Sonnabend meinen Kameraden empfohlen, wenigstens etwas von der Brotration zurückzulegen.

Gegen 20 Uhr kam Assistenzarzt Dr. Denker in das erweiterte Krankenrevier mit der Mitteilung, das Personal des Reservelazarettes sei abgefahren. Ich erwiderte, das sei gegen die Verabredung und fragte ihn, wo sich der Standortarzt befinde? Er zuckte die Schultern und sagte, er sei wohl mitgefahren. Auch das im Reservelazarett befindliche Feldlazarett habe die Räume bereits einem motorisierten Hauptverbandplatz übergeben. Ich bemerkte, ich werde zusammen mit Sanitätsfeldwebel Groß den Versuch machen, den Stand - ortarzt zu finden und ging mit Groß in die Stadt. Auf der Hauptstraße fuhren ununterbrochen Trecks, dazwischen einzelne versprengte Soldaten. Wir hielten ein paar davon an und fragten sie, was vorn los sei: Die Panzer seien bei Bobelwitz und Heidemühle durchgebrochen, es gehe alles zurück. Vor den Haustüren sahen wir Meseritzer Einwohner ihre Habe auf kleine Handwagen und Schlitten packen. Die Frage, ob die Stadt Räumungsbefehl erhalten habe, konnte keiner beantworten. Am Sonntagnachmittag aber war an die Bevölkerung noch folgender Aufruf erlassen worden:


»Bevölkerung von Meseritz!
Ich habe feststellen müssen, daß im Verlaufe des heutigen Tages durch irgendwelche nicht kontrollierbaren Gerüchte Unruhe, besonders unter den Frauen, hervorgerufen worden ist. Ich teile mit, daß die militärische Lage von unserer Front keinen Grund zur Beunruhigung gibt. Der Kreis Meseritz / Schwerin /W. wird unter allen Umständen gehalten. Bisher haben überhaupt nur schwache Kräfte des Feindes die Kreisgrenze bei Tirschtiegel erreicht. Die verbreiteten Gerüchte über eine bevorstehende Räumung sind falsch. Der Befehl zu einer evtl. Räumung wird einzig und allein durch mich gegeben. Ich muß erwarten, daß die Bevölkerung mir das nötige Vertrauen schenkt. Wer ohne meinen Befehl türmt, entzieht sich damit auch der Fürsorge der Partei.«
Kreisleiter Menze


Feldwebel Groß und ich gingen zunächst zur Wohnung des Standortarztes. Niemand öffnete. Wir gingen weiter zum Bahnhof, erfuhren aber, von zurückkommenden Einwohnern, das dort keine Züge mehr seien. Unser Suchen im Lazarett verlief ebenfalls ergebnislos. Ein fremder Stabsarzt, Führer des Hauptverbandplatzes, fragte uns, woher wir denn noch kämen? Im Lazarett befinde sich niemand mehr, er rücke mit seinen Leuten jetzt ab. In der Telefonzentrale des Lazarettes war aber noch der Sanitätsgefreite Graupmann von der Hauptsanitätsstaffel Meseritz anwesend. Vom Verbleib des Standortarztes wußte er angeblich auch nichts. Dieser sei wohl entweder mit dem Personal oder mit einem der letzten Züge abgefahren.
Graupmann sagte uns weiter, es seien noch 2 Busse***, die das Lazarett angefordert habe, nach Meseritz unterwegs. Er habe telefonisch Bescheid aus Frankfurt /O., daß sie bestimmt kommen würden. Das gesamte Standortarzt-Personal und die 12 Kranken könnten mit Gepäck auf diese Weise abtransportiert werden*** Ein Bus fiel durch Chassisbruch aus. Meine Frage an den Führer des Hauptverbandplatzes, ob wir - evtl. nur unsere Kranken - mit seinem Kraftwagen mitfahren könnten, wurde verneint. Die Wagen seien bereits voll besetzt.
(Dies war, wie ein Blick in die zum Teil offenstehenden Türen der Wagen zeigte, nicht der Fall.)
Die Wagen standen vor dem Lazarettgebäude mit bereits laufenden Motoren. Ich schickte Feldwebel Groß mit dem Fahrrad zur Kaserne zurück, um das Personal und die Kranken zum Abmarsch fertig machen zu lassen und verblieb bei Graupmann, der betonte, die Busse müssten seinen Informationen nach spätestens um 21 Uhr in Meseritz sein.

Um 21.15 Uhr verabredete ich mit Graupmann, er solle mit dem Wagen zur Kaserne fahren, um uns abzuholen. Ich selbst ging zum Marktplatz, um den Sanitäts-Uffz. Fuchs von unserem bevorstehenden Abmarsch zu unterrichten. Da in dessen Geschäft auch auf stärkstes Klopfen nicht geöffnet wurde, setze ich meinen Weg zur Kaserne fort. Immer noch fluteten auf der Hauptstraße ununterbrochen die Trecks, Handwagen und Schlitten. Es war bitter kalt. Schon am späten Nachmittag hatte das Thermometer -15° gezeigt. In den Straßen lag hoher festgefrorener Schnee.
Vor dem Eingang zum erweiterten Krankenrevier stand der zweite Pkw des Standortarztes, den Feldwebel Groß gerade von vier nicht marschfähigen Kranken besteigen ließ. Die entsprach einem früheren Befehl des Standortarztes. Mein Personal kam mir entgegen und berichtete, der Assistenzarzt Dr. Denker wolle uns nicht abmarschieren lassen. Er habe vor, einen Verbandsplatz zu errichten.
Ich meldete mich bei ihm, machte ihn darauf aufmerksam, daß der Hauptverbandsplatz bereits abrücke, die Truppe regellos zurückflute, mit unseren Sanitäter-Dienstgraden, die sämtlich nur a.v. seien, nichts anzufangen sei und ich schriftlichen Befehl vom Standortarzt habe, beim Einrücken der Russen mit Personal und Kranken bis hinter den Ostwall zurückzugehen. Dies entspreche auch der Anordnung des Korpsarztes.
Er zerriß den Befehl, sagte, jetzt habe der Standortarzt nichts mehr zu sagen, jetzt sei er „Taktischer Leiter“. Ich selbst könne ja machen, was ich wolle. Er werde mit einigen bereits namentlich bestimmten Sanitäter-Dienstgraden einen Verbandsplatz errichten und auch „die Kasernen verteidigen“.
Er habe bereits eine Maschinenpistole und Handgranaten (die er danach an uns verteilte). Ich erwiderte, unter diesen Umständen würde ich selbstverständlich bleiben. Er befahl uns dann noch, wir sollten im Keller mehrere Maschinenpistolen empfangen, uns abends ruhig ausziehen und schlafen gehen.

Als Dr. Denker gegangen war, versammelte sich das Sanitätspersonal, da es wegen des Vorfalles sehr erregt war und mich auf die Bestimmungen der Genfer Konvention hinwies (Teilnahme am Kampf). Ich beruhigte und sagte, wir würden schon Mittel und Wege finden, um diese Verrücktheit des Assistenzarztes zu parieren. Mir war dabei klar, daß ich im alleräußersten Notfalle, um das Leben von zwei Dutzend nicht kampffähigen Menschen zu retten, auch vor dem Äußersten nicht zurückschrecken würde.
Dem Personal befahl ich, angezogen zu bleiben und den Kranken entsprechenden Bescheid zu geben. Auf meine Frage, wo das Personal der Zahnstation sei, wurde mir erwidert, die beiden Unterärzte und die drei Dentisten hätten die Kaserne sofort nach der ersten Ansprache von Dr. Denker verlassen. Den zerrissenen Marschbefehl des Standortarztes ersetzte ich durch einen neuen. Ob der Assistenzarzt berechtigt war, entgegen der Anordnung des Korpsarztes und den letzten Befehlen des Standortarztes auf eigene Faust zu handeln, soll hier nicht untersucht werden. Bei Übernahme der Verantwortung hätte er andererseits für rechtzeitige Fortschaffung der Kranken sorgen müssen, wozu er nicht die geringsten Anstalten traf. Auf keinen Fall durften an das Sanitätspersonal Maschinenwaffen verteilt werden und auch zur Verteidigung der Kaserne durften diese nicht aufgefordert werden. Jede Gegenwehr gegen seinen Befehle entsprang der Notwehr.

Ich ging danach zum Bataillonsstab und fragte Feldwebel Rump, welche Nachrichten vorlägen. Hörte aber wiederum lediglich, daß man keine Verbindung mit den Nachbarstandorten hätte, vorerst also abwarten müsse. Meine Frage, ob man Verbindung mit den vor Meseritz liegenden Kompanien des Ersatzbataillons habe, wurde mit einem Achselzucken beantwortet. Da ich freundschaftlichen Kontakt mit Rump besaß, entnahm ich dem Ganzen, daß das Bataillon selbst nicht wußte, was vorging.

Plötzlich ging in der ganzen Kaserne das Licht aus. Auf dem Korridor begegnete ich dem Angestellten Heinrich vom Geschäftszimmer des Standortältesten. Er wußte ebenfalls nichts über die Gesamtsituation. In der Nacht bin ich noch mehrmals zum Bataillonsstab gegangen, um Informationen einzuholen. Aber auch eine Patrouillenfahrt, die Feldwebel Rump auf Befehl des Bataillonsführers mit dem Motorrad in Richtung Schwerin /W. machte, verlief ohne Ergebnis. Mit meinen Kameraden war ich inzwischen zur Kammer gegangen, um Pelzwesten zu empfangen. Marschportionen waren auch in der Nacht nicht zu erhalten. In den Bataillonsgeschäftszimmern saßen die Schreiber und Stabshelferinnen mit Kerzenbeleuchtung bei ein paar Flaschen Sekt. Die Stimmung war gut, wenn auch einzelnen Frauen die Tränen im Gesicht standen.

Infanteriekaserne Meseritz


Um 1.50 Uhr morgens, am Dienstag 30. Januar 1945, hörte ich, angezogen auf meinem Bett liegend, Lärm über uns auf dem Korridor des Bataillonsstabes. Als ich mein Zimmer verlassen hatte, traf ich den Sanitätsobergefreiten Urban, dem der Lärm ebenfalls aufgefallen war. Wir gingen hinauf. Das Sanitätspersonal rannte über den Korridor. Ich betrat das Zimmer des Bataillonsführes und fragte ihn, ob ich für das Sanitätspersonal und die Kranken irgendetwas veranlassen solle. Er fragte mich erstaunt: „Was? Sie sind auch noch hier? Schnellstens zum Abrücken fertig machen!“
Ich weckte den Assistenzarzt, teilte ihm die Anordnung des Kommandeurs mit, instruierte das Sanitätspersonal und ließ die Schlitten auf den Korridor tragen. Wir verglichen unsere Uhren — es war 5 Minuten vor 2 Uhr. Er befahl, wir sollten die letzten 8 Kranken wecken. Und fragte mich dann unter 4 Augen, wie er selbst denn fortkommen könne? Ich wies darauf hin, daß in einem Pkw des Stabes wohl noch Plätze frei seien und man werde dort wohl froh sein, einen Sanitätsoffizier bei sich zu haben.
Er sagte: „Das ist eine Idee!“ Er werde hinaufgehen und sofort zurückkommen. Wir warteten. Als er nach 10 Minuten noch nicht zurückgekommen war, gab ich den Befehl, die beiden Handschlitten auf den Kasernenhof zu bringen, um das Gepäck dort festzubinden und bei den Schlitten anzutreten. Dort standen auch die Fuhrwerke, Kraftwagen und ein bespannter Schlitten des Bataillonsstabes, alle abmarschbereit.


Um 2.15 Uhr ging die Schranke an der Kasernenwache in die Höhe. Gleichzeitig mit dem zweiten Fuhrwerk des Stabes verließ das Sanitätspersonal mit den 8 Kranken die Kaserne. Der Berliner Rundfunk spielte: „Schlösser, die im Monde liegen...“
Infolge der hohen Schneeverwehungen auf der Nebenstraße zur Chaussee nach Frankfurt/O.war das Schlittenziehen zunächst sehr anstrengend.
Die dünnen Bretter schnitten tief in den Schnee ein. Auf meinem Schlitten, der für das Gepäck von zwei Mann berechnet war, lagen Rucksäcke, Koffer, Taschen, Decken und Kartons von 8 Mann. Der zweite Schlitten war ebenfalls überladen. Alle Mann zogen und schoben. Auf der Chaussee fuhr Wagen hinter Wagen. Zeitweise waren sie zu dreien nebeneinander. In die Lücken schoben sich die Fußgänger. Tausende waren in dieser Nacht unterwegs. Die Straße bot rechts und links am Rande den Eindruck eines Rückzugweges: Stahlhelme, Gasmasken, zerfahrene und verbogene Fahrräder, verlorene Kartons und heruntergefallene Koffer lagen seitwärts. Im Vorübergehen stocherte ich mit einem Skistock in einem aufgeplatzten Koffer: gute, fast neue Damengarderobe. Auf eine Entfernung von nur wenigen Kilometern zählten wir drei verbeulte Kinderwagen. Es ging vielfach bergauf.

Aber meine Kameraden, insbesondere zwei der Kranken, die unterwegs fast Unglaubliches geleistet hatten, waren in fliegender Eile erfinderisch. Mit keuchenden Lungen wurden die Schlitten an ein die Wagen überholendes Gefährt herangezogen und dort befestigt. Mußte es stoppen, dann waren die Schlitten im Handumdrehen losgemacht, die Kufen vorn angehoben, um die Richtung ändern zu können, und bald hingen die Schlitten wieder an einem anderen Gespann. Trotzdem war es eine elende Schinderei. Die Gefahr war, daß unsere beiden Schlittengruppen bei diesem verschiedenen Tempo auseinandergerieten. So mußte ich immer die Verbindung aufrechterhalten. Von den zwei oder drei nebeneinander fahrenden Wagenkolonnen hatte eine immer eine Stockung, eine andere dagegen beschleunigtes Tempo. Unser aller Kunst bestand darin, diese verschiedenen Geschwindigkeiten richtig auszunutzen, um vorwärts zu kommen, dabei zwischen den Pferden herumzuschnellen und die Schlitten in die richtige Spur zu bekommen.

Bei Zwangsaufenthalten schob und verkeilte sich alles ineinander. Die Straße war teilweise so glatt oder sie ging bergab, daß die übermüdeten Pferde zu gleiten anfingen und die Deichseln sich in die Vorderwagen eingruben. Einmal stand ein Pferd mit beiden Vorderbeinen auf den Kartons unseres Schlittens und scheute dabei. Bei der Glätte und in den Schneeverwehungen kamen uns unsere Skistöcke sehr zugute. Mitunter gab es minutenlange Stopps für den gesamten Treck.
Pferde fielen und mußten ausgeschirrt werden. Ein Bauer rief einem anderen zu, dessen Pferd sich die Beine gebrochen hatte: „Da liegt dein Vermögen im Dreck!” Aber Vermögen galt auf diesem Wege nichts mehr. Man sah kaum hin, als südlich der Chaussee eine russische Werferbatterie in Richtung Regenwurmlager schoß. Man wunderte sich nicht, als Granaten über die Chaussee heulten.
Ein kleiner Polizeioffier, der eine bespannte Polizeiabteilung führte, war unermüdlich dabei, Ordnung in dieses Wagenchaos zu bringen. Im Galopp ritt er neben der Chaussee auf und ab, über die Felder und drohte jedem mit Erschießen, der nicht mit seinem Gefährt Kurs halten würde und brachte bis Tempel jedes Wagenknäuel zum Auflockern.
Auch als die Granaten über die Chaussee heulten, entstand glücklicherweise keine Panik. Es war gar kein Platz dafür vorhanden. Kurz hinter den letzten Häusern von Meseritz wurde ein gelähmter Mann im Selbstfahrer von seiner Frau gezogen. Er arbeitete mit beiden Händen krampfhaft, um durch den hohen Schnee zu kommen. Helfen aber konnte man ihm nicht. Denn wir führten schon Kinder an der Hand oder zogen Schlitten mit Kindern. Eine Handvoll Kekse, die mir Unteroffizier Fuchs vor dem Abrücken gegeben hatte, verteilte ich an ein Kinderpärchen, dessen Schlitten Kamerad Urban zog, damit die Mutter das Jüngste tragen konnte.
Einen unserer Kranken mußten zwei beim Marschieren stützen. Er hatte erst die Ruhr überstanden und war aus Schwäche gestürzt. Nach einiger Zeit konnten wir einen Lkw anhalten und diesen Kranken sowie die Frau mit den drei kleinen Kindern aufladen.
In Höhe des Ostwalls, kurz vor dem Dorf Pieske, stand seitwärts der Chaussee eine Batterie Flak zum Abmarsch in westlicher Richtung bereit. An den Hängen südoÅNstlich von Pieske sah man einige Geschütze, etwa ein halbes Dutzend. Auch sie schossen nicht. Eine Bedienungsmannschaft war weder hier noch dort zu sehen. Die Nacht war sehr hell. (Einzuschieben wäre hier, das der Stab des Festungskommandanten „Oder-Warthe-Bogen”, der im Meseritzer Amtsgebäude untergebracht war, Meseritz mit Kraftfahrzeugen und Akten sowie Gepäck bereits am Sonntagnachmittag verlassen hatte.)





Als wir bei Pieske den Ostwall kreuzten, verließ gerade die Fahrerersatzabteilung 3 das Dorf, das für sie Standort war. Ein Feldwebel der Abteilung, der auf der Chaussee stand, kontrollierte meinen Marschausweis und gab uns den Weg frei. In Pieske schoben sich neue Wagenkolonnen aus den seitwärts gelegenen Dörfern in den Treck. Der Hauptverbandsplatz, den wir im Meseritzer Lazarett gesehen hatten, verließ mit seinen Kraftwagen gerade den Ort. Meine Absicht, dort nach dem Standortarzt Meseritz zu fragen, war bei dem völligen Durcheinander undurchführbar.
In Höhe Pieske überholte uns ein 700 Mann starker Volkssturmtransport, der mit leichten Rucksäcken und Spazierstöcken ausgerüstet war. Sie kamen aus der Prenzlauer Gegend, hatten bei Pieske kehrt gemacht und waren jedenfalls beweglicher als wir. Da an ein Sammeln hinter dem Ostwall — eine Absicht, die bei den dienstlichen Erörterungen zwischen dem Standortarzt und mir wiederholt eine Rolle gespielt hatte — bei der Gesamtsituation nicht zu denken war, mußten wir weiter.

Inmitten der Trecks erreichten wir um 6 Uhr früh, am Dienstag dem 30. Januar, den Ort Tempel. Unsere Körperkräfte waren erschöpft. Ich wollte dort auf jeden Fall Quartier machen, gegebenenfalls die erste russische Welle in dem etwa 1km seitwärts der Frankfurter Chaussee gelegenen Dorfe, an uns vorübergehen lassen.
Mit Sanitätsunteroffizier Fuchs betrat ich ein größeres Gehöft und fragte den Besitzer, dessen Wagen gerade den Torweg verließen, ob wir in seiner Scheune übernachte könnten. Zu unserem Glück hatten wir den Amtsvorsteher vor uns. Er machte uns darauf aufmerksam, daß vor kurzem ein Transportzug mit etwa einem Bataillon Infanterie auswaggoniert worden sei und daß dieser Zug wohl noch auf dem Bahnhof stehe. Trotz unserer Müdigkeit zogen wir die Schlitten durch den gerade hier besonders hoch zusammengewehten Schnee bis zu dem etwa 1,5 km entfernten Bahnhof.

Das Dorf war zum größten Teil bereits geräumt. Die letzten Fußgänger kamen uns entgegen. Der Bataillonskommandeur ließ gerade seine Kompanien in Schützenlinien östlich vom Orte entwickeln. Er selbst stand noch auf der Güterrampe. Ich meldete mich bei ihm und er fragte, ob die Russen bereits Meseritz besetzt hätten. Auskunft, ob der Zug den Bahnhof noch verlassen werde, war vom Bahnpersonal nicht zu erhalten.
Er war von Zivil und Militär bereits stark besetzt. Wir krochen in die gedeckten Güterwagen. Ich entdeckte am Stationsgebäude ein Brennholzlager und befahl, Holz für die eisernen Waggonöfen davon zu nehmen. Wie lange der Zug dort noch gehalten hat, kann ich nicht sagen. Die schwer beweglichen, vereisten Wagentüren mußten wegen der Kälte geschlossen gehalten werden. Später hieß es, die Lokomotive sei nach Zielenzig gefahren, um Wasser zu tanken. Wir schliefen, der ganze Zug schlief.
Wahrscheinlich ist es am späten Nachmittag weitergegangen. Vermutlich haben wir die Nacht vom 30. zum 31. Januar 1945 auf einem Gleis in Reppen gestanden, denn am Vormittag des 31. Januar langte unser Zug, der letzte, der das Nord-Sternberger-Land verließ, in Frankfurt/Oder an.

Ich übergab dem Sanitätsunteroffizier Scheffler die Kranken, befahl ihm, mit dem Zug, der nach Berlin weiter geleitet werden sollte, mitzufahren und die Kranken einem Berliner Lazarett zuzuführen sowie sich selbst bei der Sanitätsabteilung Groß - Berlin zu melden.




Mit Briefen, Berichten und Bildern wollen wir im Jahr 2015 an die Zeit vor 70 Jahren erinnern, eine Zeit, in der wir noch Kinder waren. Sie dürfen nach so langer Zeit mit Zustimmung ihrer Schreiber und Empfänger, mit gebührender Achtung und im Interesse unserer Geschichte veröffentlicht werden. Durch ihre Nähe zu den Ereignissen sind sie für uns unübertroffene Zeitzeugen. Wir danken unseren Heimatfreunden dafür, daß sie uns ihre wertvollen Zeitzeugnisse zur Verfügung stellen.