Das 11. Heimatreffen der Meseritzer und
Birnbaumer in Perleberg in der Prignitz
vom 17. – 18.9.2021


Text: Lothar J.M. Andersch
Fotos: Lothar Andersch, A.Fischer v. Mollard, Dirk Schwenke und Wanda Gladisch

Als Gast beim Großen Heimatkreistreffen der Kreise Meseritz und Birnbaum am 18. September 2021 im Hotel Stadt Magdeburg zu Perleberg bin ich gebeten worden, meine Beobachtungen und Gedanken zu Papier zu bringen. Mein Bericht fällt sicher anders aus, als es die Leserinnen und Leser gewohnt sind, sie sollten diese Zeilen aber nicht in Konkurrenz zu Dr. Martin Sprungala lesen, der als Historiker die Heimattreffen vergangener Jahre erschöpfend dargestellt hat, dieses Mal jedoch verhindert war. Das Treffen wird hier also aus der Perspektive eines von außen wiedergegeben, dessen Sicht möglicherweise auch Neues zu bieten hat.
Protokollant wollte ich nicht sein, stattdessen habe ich nachträglich darum gebeten, einen Blick in die Redemanuskripte werfen zu dürfen. Die den Treffen vorausgehende Vorstands- und Beiratssitzung ist diesmal in einer separaten Textdatei protokolliert.



Heimattreffen Perleberg 2021Eine erste Begegnung mit Mitgliedern des Heimatkreises ergab sich nach Anreise am Donnerstagabend bei einem gemeinsamen Abendessen im Hotel Stadt Magdeburg. Persönlich kannte ich bis dahin nur Wojciech Derwich, der seit vielen Jahren dem Heimatverein aktiv verbunden ist. Er, den ich im Sommer 2017 bei einem ersten Besuch in Miêdzyrzecz kennenlernte, ist zum guten Freund geworden.
Seine kulturgeschichtlichen Kenntnissen haben mich der Stadt, dem Powiat Miêdzyrzecki wie der Woiwodschaft Lebus näher gebracht, und sprachlich hat er mir „die Türen geöffnet“, denn ich spreche zwar verschiedene Sprachen, doch bis auf „dzieñ dobry“, „dziêkujê“ und ein paar Brocken mehr kein Polnisch.

Am Vortag des Großen Heimatkreistreffens wird denen, die schon früher angereist sind, am Freitagnachmittag ein Ausflug ins Umland von Perleberg angeboten. Herybert Schulz hat wie schon in früheren Jahren einen Ausflug für Mitglieder und Gäste organisiert und erweist sich als (natur-)kundiger Begleiter durch die Prignitz.
Mitunter liegt Wehmut in seiner Stimme, wenn er bei der Busfahrt über die Dörfer an verstorbene Weggefährten erinnert, die wie er mit dem Zug im Januar 1945 aus der alten Heimat jenseits der Oder in Perleberg eintrafen. Für jeden und jede findet er ein freundliches Wort, weiß irgendein Detail zu berichten, daß sich mit dem Schicksal der Familie oder dem Sesshaftwerden in der neuen Heimat verbindet. Viele lägen längst auf der anderen Seite, er deutet auf die Friedhofmauer, an der wir vorbeifahren und klingt ein wenig betrübt.

Heimattreffen Perleberg 2021Beim Kloster Stift zum Heiligengrabe in der Nähe von Pritzwalk können wir uns zum ersten Mal die Beine vertreten. 1287 als Zisterzienserinnenkloster von askanischen Markgrafen gegründet, wird es kurz nach der Jahrtausendwende zum geistlichen Zentrum und Kulturstandort. Seit 1998 ist das mittlerweile restaurierte Kloster als Denkmal von nationaler Bedeutung anerkannt.

Bei der Plattenburg in der Prignitz legen wir einen etwas längeren Halt ein. Die Wasserburg in der Niederung des Flüsschens Karthane und von weiten Wäldern umgeben, geht auf das späte Mittelalter zurück, im 12. Jahrhundert soll sie von den brandenburgischen Markgrafen gegründet worden sein. Die imposanten Backsteingebäude der Ober- und Unterburg, um zwei Höfe herum angelegt, sind leider weitgehend Wind und Wetter ausgeliefert, Verfall nagt sichtbar am Gemäuer. Ungeachtet dessen war der Besuch der Burganlage ein Höhepunkt der Rundfahrt, er ist kulturgeschichtlich lohnend und außerdem jedem Naturfreund zu empfehlen.

Heimattreffen Perleberg 2021Unter einem mächtigen Baum steht hier ein großer Gedenkstein, den die Perleberger Mitglieder des Bundes der Vertriebenen haben aufstellen lassen,
„ZUR ERINNERUNG AN OPFER UND LEID DURCH FLUCHT UND VERTREIBUNG ALS FOLGE DES 2. WELT-KRIEGES
PDV PERLEBERG 1995“.
Schatzmeister Aribert Heinrich, betagter Heimatfreund, der heute in Darmstadt lebt, wusste Anekdotisches zu erzählen. Den Findling aus der Gegend, auf dem die Inschrift steht, habe die Gemeinde in Rechnung stellen wollen. Genauere Erkundigungen hätten allerdings die Zweifel bestätigt, daß einem solchen pekuniären Ansinnen die rechtliche Grundlage fehlt.

Heimattreffen Perleberg 2021Auf freiem Feld gibt es Kaffee und Kuchen, für mich als Gast wieder eine Gelegenheit, mit dem einen oder der anderen ein kurzes Wort zu wechseln.
So ich es richtig verstanden habe, hat den Streuselkuchen, von Herybert Schulz in einer Perleberger Bäckerei bestellt, eine Nachfahrin aus der alten Heimat gebacken. Den Kaffee dazu schenkt freundlicherweise der Busfahrer aus. Am späteren Nachmittag ging es in großem Bogen zurück nach Perleberg. Herybert Schulz begleitete die Rückfahrt wieder als sachkundiger Führer durch die Prignitz, dazu mit aufschlussreichen kleinen Berichten über die ersten Jahre nach dem Krieg, als es darum ging, sich in der neuen Heimat eine Existenz aufzubauen. Ich, ein Nachkriegskind, konnte aus dem Munde eines Zeitzeugen noch wieder einmal hören, mit welcher „Gründlichkeit“ Nazideutschland bis zum bitteren Ende funktioniert hat.

Heimattreffen Perleberg 2021Bei Ankunft mit einem der letzten Reichsbahn- Züge, die Ende Januar 1945 noch aus Meseritz über die Oder kamen, bevor die Brücken vor der heranrückenden Sowjetarmee gesprengt wurden, war für Unterkunft und Verpflegung gesorgt. Die zwei Gendarmen, die den jungen Herybert und seine Freunde bei einer ersten nächtlichen Erkundung am Ort aufgriffen, wollten sich von den Jungs nichts „von den Russen“ erzählen lassen, die bald auch hier sein würden.



Treffen in pandemischen Zeiten Versöhnung über Kriegsgräbern
Das offizielle Heimatkreistreffen fand am Samstag, dem 18. September statt. Einlass der Besucher war 9 Uhr, „für Geimpfte, Genesene oder neg. Getestete“, wie der Programmzettel diskret im kleiner Gedruckten auswies. Warum findet das hier Erwähnung? Weil die Einladung für mich zeigt, daß man bei aller Vorsicht in Zeiten des Corona- Virus einzelne Mitglieder und Gäste nicht mittels verdeckter Impfpflicht ausgrenzen wollte.
Eine gewisse Spannung liegt in der Luft, weil nicht genau bekannt ist, wer alles trotz Corona kommen wird. Am Ende sind es weniger als beim letzten Mal, der Vorsitzende, Herr Albrecht Fischer von Mollard kann am Samstagvormittag aber immerhin an die 60 Heimatfreunde der Kreise Meseritz und Birnbaum willkommen heißen, namentlich die polnischen Gäste, Frau Prof. Dr. Malgorzata Czabañska-Rosada - ihr Mann Pawel konnte sie aufgrund eines kurzfristig erforderlichen berufsbedingten Einsatzes nicht begleiten -, ihren Bruder Tomasz Czabañski (POMOST) sowie dessen Stellvertreter, Schwiegersohn Piotr Sramski, die aus Poznañ/Posen angereist sind, außerdem Wojtek Derwich aus Miêdzyrzecz/ Meseritz, der anstelle des verhinderten Museumsdirektors Andrzej Kirmiel einen seiner Heimatstadt verbundenen Freund als Gast mitgebracht habe, Lothar Andersch aus Hamburg.

Daß trotz der Pandemie eine große Anzahl der Einladung zum 11. Großen Heimatkreistreffen nach Perleberg gefolgt sei, zeuge von tiefer Freundschaft, die aus Verbundenheit zur Heimat erwachse. Der Vorsitzende verweist hier ausdrücklich auf die aktuelle Ausgabe der Vereinszeitschrift HEIMATGRUSS – Nr. 238, September 2021 – darin die Geschichte über das im Saal anwesende Mitglied Martin Meißner, der jetzt in Werder an der Havel lebt.
Als erstem Deutschen ist dem gebürtigen Meseritzer am 22. Juni d. J. der Ehrentitel „Zasluzony dla Miasta Miêdzyrzecz“ (Für Verdienste um die Stadt Miêdzyrzecz/Meseritz) verliehen worden. Herr Fischer von Mollard gratuliert ihm im Namen aller Heimatfreunde. Alltäglich sei der Vorgang nämlich nicht in den sich kompliziert gestaltenden polnisch-deutschen Beziehungen.
Allerdings nähre diese Auszeichnung die Hoffnung, daß Entspannung und Entkrampfung möglich sind, Vorstand und Beirat würden sich weiterhin mit ganzer Kraft dafür einsetzen. Herr Fischer von Mollard dankt allen, die das Treffen vorbereitet haben, insbesondere Herybert Schulz und dem Ehepaar Kiefer vom Hotel Stadt Magdeburg, wünscht den Anwesenden frohe Stunden des Wiedersehens und anregende Gespräche, verleiht seiner Hoffnung Ausdruck, daß man sich am 28. und 29. Mai 2022 im Schützenhof in Paderborn wiedersieht.


Versöhnung über Kriegsgräbern
Als nächstes spricht Herr Tomasz Chabañski aus Poznañ, Leiter des Vereins POMOST, der sich der Erforschung deutscher Kriegsgräber in Polen widmet.
Er freue sich auf die Begegnung und das Gespräch mit Bekannten. Das Heimattreffen finde eine Woche nach der Seligsprechung seines Landsmanns, Kardinal Stefan Wyszyiñski durch die Katholische Kirche statt, der trotz Verfolgung und Einkerkerung den Polen immer Beistand und Hoffnung gegeben habe, die schwere Zeit des Stalinismus und Kommunismus durchzustehen.
Kardinal Stefan Wyszyiñski sei es auch gewesen, der schon kurz nach Kriegsende für die polnisch- deutsche Versöhnung eintrat. Er war einer der Initiatoren und Unterzeichner der Botschaft der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder, in der ein denkwürdiger Satz gefallen sei:
„Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Diese Worte hätten in den 1990er Jahren mit Änderung der politischen Verhältnisse in Polen auch den Ausschlag zur Gründung des Vereins POMOST gegeben, der sich die Erforschung und Bergung deutscher Kriegsopfer in polnischer Erde zur Aufgabe gemacht habe.

Heimattreffen 2021Bis dato seien die sterblichen Überreste von über 25.000 deutschen Soldaten exhumiert und auf Friedhöfe umgebettet worden. Die Arbeit des Vereins POMOST sei vor zwei Monaten vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge mit der Übergabe eines Georadars ausgezeichnet worden, mit dem sich potentielle Gräber eingriffslos lokalisieren ließen.

In den beiden letzten Jahren habe POMOST auch auf dem Gebiet des ehemaligen Kreises Meseritz gearbeitet, u.a. in Obergörzig, Schierzig Hauland, Politzig und Betsche. Auf dem Friedhof in Schilln habe man den am 1. September 1939 gefallenen Richard Schrappe exhumieren können, dabei durch Zufall das Grab des polnischen Grenzschutzsoldaten Antoni Paluch entdeckt, der am gleichen Tag gefallen ist. Beide seien die ersten Opfer des Zweiten Weltkriegs im Raum Meseritz gewesen. Man habe ihre Überreste im Juli 2021 in Glinna und Schilln feierlich beigesetzt.

Tomasz Chabañskis besonderer Dank geht an Herrn Werner Schulz und seine Tochter Ilona Schulz, die bei der Lokalisierung einer Beerdigungsstelle bei Hauland wertvolle Hilfe geleistet hätten. Anfang des Jahres habe man die lange gesuchte Beerdigungsstelle im Wald bei Schierzig entdeckt. Bei der Gelegenheit seien noch andere Gräber gefunden worden, u.a. in Schwerin/Warthe und Zielomischel, die im nächsten Jahr exhumiert würden.
Abschließend stellt Tomasz Chabañski den Anwesenden seinen Stellvertreter vor, Schwiegersohn Piotr Sramski, der seit drei Jahren engagiert im Team POMOST mitarbeitet. Seine Aufgabe sei es, Informationen zu bearbeiten und Zeugen zu finden. Er hoffe, daß, wenn er in vier Jahren in den Ruhestand trete, Piotr die Führung von POMOST übernehmen könne. Er bedanke sich bei allen, die in den letzten zwei Jahren mit POMOST in Mail- und Briefkontakt standen.


Anekdoten aus alter Zeit
Frau Dr. Malgorzata Chabañski-Rosada, Universität Gorzów Wielkopolski (Landsberg an der Warthe), die seit 20 Jahren rege Kontakte mit dem Heimatkreis Meseritz e.V. pflegt und Korrespondentin des HEIMATGRUSS ist, bringt mit einem kurzen Beitrag literarisches Kolorit ins Programm.
Sie spricht über ihre Forschungsarbeit der letzten zwei Jahre, die das kulturelle wie literarische Erbe der ehemaligen deutsch-polnischen Grenzregion zum Gegenstand hat. 189 Sagen und Legenden hätten sie und ein Mitarbeiter im Dreieck Meseritz-Schwerin-Birnbaum entdeckt. In absehbarer Zeit sei eine Veröffentlichung dieser literarischen Zeugnisse geplant. Den Anwesenden gibt sie zwei amüsante Anekdoten aus Strzyzewo/Strese und Bobowicko/ Bobelwitz zum Besten – aus einer polnischen und einer deutschen Quelle. Ich will versuchen das Beispiel aus deutscher Quelle hier aus dem Gedächtnis zusammenfassen: Ein Bauer kommt an eine verschlossene Wegschranke, verärgert macht er sich auf die Suche nach dem Wächter, lässt allerdings dummerweise seinen Ziegenbock dort angebunden zurück, um bei Rückkehr die Schranke geöffnet und sein Tier jämmerlich verendet hoch oben in der Luft baumelnd vorzufinden.

Heimattreffen 2021


Der Toten gedenken
In einem kurzen Totengedenken, das den offiziellen Teil des Programms beschloss, gedachte der aus Nipter (Nietoperek) stammende fast 95-jährige Aribert Heinrich derer, die seit dem letzten Heimatkreistreffen im Jahr 2019 verstorben sind, namentlich der Sr. Oberin Brigitte Baller (Eisenach) und Edeltraud Belzig (Berlin).
Aribert Heinrich erinnert an die Gräber derer, die 1945 zwischen Obra und Warthe auf der Flucht über die Oder und auf dem Weg nach Berlin ihr Leben ließen, und fügt wörtlich hinzu: „Wir gedenken der polnischen Nachbarn, die unter dem NS-Regime leiden mussten.“ Zum Schluss gemahnt er an die Opfer gegenwärtiger Konflikte und Kriege, schließt im Gedenken alle Menschen ein, die auf der Flucht leiden oder umkommen.


Heimat trotz Verlusterfahrung
Im Anschluss an den offiziellen Teil lausche ich den Gesprächen meiner Tischnachbarn, die teils auch auf Polnisch geführt wurden; anfangs noch Zuhörer ergibt sich für mich bald auch Gelegenheit, eigene Beobachtungen einzubringen und ein paar Fragen loszuwerden. Die zwanglose Atmosphäre machte mir den Einstieg in einen Gedankenaustausch leicht, der „Fürwitz des Gastes“ auf den Heimatverein kam zu seinem Recht. In Perleberg sitze ich nicht der Väter- und Müttergeneration aus den Kreisen Meseritz und Birnbaum gegenüber, vielmehr den „Kindern“, die Ende Januar 1945 vor der heranrückenden Roten Armee mit Mutter und/oder Großeltern über die Oder nach Westen geflohen sind. Oder später nach Kriegsende aus der Heimat vertrieben wurden. Weil der freimütige Geist deutsch-polnischer Begegnung, die ich in Perleberg erlebe, mich beeindruckt, frage ich mich, was wohl die Heimattreffen in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren bestimmt haben mag. Waren unter den Teilnehmern von damals nicht auch Nationalsozialisten, die in der alten Heimat zu den überzeugten Verfechtern eines „Tausendjährigen Reiches“ gehört hatten?

Auch in Meseritz hat am 9. November 1938 die Synagoge gebrannt! Und es ist kaum anzunehmen, daß niemand etwas von den Euthanasie- Morden in der Meseritz-Obrawalde gewusst hat, die Heilanstalt bot schließlich manchem einen Arbeitsplatz.
Ich will nicht verhehlen, daß ich in jungen Jahren mit „Heimat“ eher die nationalistischen Töne der Vertriebenenverbände verband, die Anfang der 1970er lautstarken Protest gegen die Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel erhoben. Waren darunter nicht auch die, die seiner Zeit den verheerenden Raubzügen der Nationalsozialisten durch Europa ihren Segen gegeben hatten? Für mich hatten nicht wenige derer, die ihre alte Heimat beschworen, diese selbst in Nibelungentreue verspielt. Freilich abstrahiert ein solches Urteil vom Einzelfall, lässt „die Gerechten mit den Ungerechten leiden“. Indes schien es bei nüchterner Betrachtung der Fakten vertretbar, war es doch keine Minderheit, die dem Nazi-Regime die Treue gehalten hatte.

Skepsis war also angebracht gegenüber denen, die von „Verrat an der Heimat“ redeten, um gegen eine Politik der Aussöhnung zu Felde zu ziehen, die eine Anerkennung der Grenzen in Europa als notwendige Voraussetzung eines friedlichen Nebeneinanders erkannt hatte.
Das Wort „Heimat“ schien der vergiftete Ausdruck eines Deutschtums, das Europa im 20. Jahrhundert zwei verheerende Kriege beschert hatte.
Der Kniefall Willy Brandts im ehemaligen Warschauer Ghetto im Dezember 1970 machte deshalb großen Eindruck auf mich. Endlich ein sichtbares Eingeständnis von Schuld, und das von einem Deutschen, der kein Mitläufer war. Im Gegenteil, als Sozialdemokrat wurde er selbst verfolgt und ins Exil getrieben. Sein Schritt half friedliche Nachbarschaft zu befördern, es galt die Realitäten anzuerkennen, wollte man nicht erneut menschliches Leid heraufbeschwören.

Diese politische Sicht der Dinge, die Leser und Leserinnen des HEIMATGRUSS jener Tage mehrheitlich nicht teilten, wie unter der Überschrift „Der Riß“ in der Nr. 38 vom März 1971 nachzulesen wäre, hege ich nach wie vor, sehe allerdings heute doch mehr und anderes, wenn von verlorener Heimat die Rede ist. Für verlorenen materiellen Besitz hat die Bundesrepublik in gewissem Umfang Entschädigung leisten, nicht aber die alte Heimat zurückgeben können. Die hatte das Nazi- Regime mit Terror und Krieg verspielt.
Auch wenn eine solche Verlusterfahrung mir erspart geblieben ist, weiß ich dennoch um das Gefühl der Verlorenheit. Menschen werden von einer Landschaft, von vertrauten Räumlichkeiten, von der Alltagskultur in einer Gemeinschaft geprägt, prägen ihrerseits die Orte mit, an denen sie leben. Das Zuhause für immer zurücklassen zu müssen, ist für die meisten sehr schmerzlich. Die alles stehen und liegen lassen mussten, verlässt das Heimweh daher nie.

Als Gast habe ich das Perleberger Treffen allerdings keineswegs als nostalgische Veranstaltung erlebt, sondern als Begegnung zwischen Menschen beiderseits der Oder, zwischen Polen und Deutschen, die für denselben Fleck Erde das Wort „oiczyzna“ bzw. „Heimat“ verwenden – und zu Recht, denn die einen sind heute dort beheimatet, wo die anderen es einmal waren. Und was ihre Eltern und Großeltern angeht, teilen diese vielfach das bittere Schicksal der Vertreibung, das mit dem Hitler-Stalin-Pakt seinen Anfang im polnischen Osten nahm, um ein paar Jahre später am Ende eines verbrecherischen Krieges auch den deutschen Osten zu ereilen.

Engagement wäre erwünscht
Umso erfreulicher war es für mich zu beobachten, daß es der Generation derer, die als Kinder aus den ehemaligen Kreisen Meseritz und Birnbaum fliehen mussten oder vertrieben wurden, offenkundig in den letzten zwei Jahrzehnten gelungen ist, über die Oder hinweg einen Dialog unter Nachbarn zu beleben aus dem Bewusstsein, eine Heimat zu teilen, ist eine fruchtbare Zusammenarbeit erwachsen. Bei Tisch das polnisch-deutsche Stimmengewirr war hörbarer Ausdruck, und beim geselligen Beisammensein erzählten mir Teilnehmer( innen) von ihren Verbindungen nach Polen zu den neuen Bewohnern der alten Heimat.

Ich weiß beispielsweise um den regen Austausch mit dem Museum in Miêdzyrzecz, dessen geschätzter Direktor, Andrzej Kirmiel, der wechselvollen Geschichte der Stadt und Region vorurteilslos begegnet, was jeder bestätigen wird, der das Muzeum Ziemi Miêdzyrzeckiej im Flusswinkel zwischen Obra und Packlitz besucht und durch die sehenswerte Ausstellung Deutsche und andere Bewohner von Meseritz geht. Und wer in der Zeitschrift des Vereins blättert, wird erkennen dass der HEIMATGRUSS, der sich seit März 2011 „Zeitschrift von Zeitzeugen“ nennt, dieser Selbstbeschreibung durchaus gerecht wird. In den Beiträgen, ob von polnischer oder deutscher Seite, geht es um die Geschichte und Kultur einer gemeinsamen Heimat.

Aus den Reihen der Mitglieder ist zu hören, dass die Zeitzeugen, die in ihrer Kindheit noch in der Neumark gelebt haben, weniger werden. Die Liste der Verstorbenen, die vierteljährlich im HEIMATGRUSS veröffentlicht wird, wächst. Das Gefühl der Zeitewigkeit aus jungen Jahren ist dem der Endlichkeit gewichen. Viele, die man kannte, sind nicht mehr, die Abwesenheit der Weggefährten ist immer wieder Thema in den Tischgesprächen, eine wehmütige Stimmung ist zu spüren.

Heimattreffen 2021


Als ich mich im Saal des Hotels Magdeburg umschaue, sehe ich vor allem alte Menschen, zähle mit meinen 71 Jahren zu den Jüngeren. Nur wenige der alten Mitglieder werden von Töchtern oder Söhnen begleitet, die Nachfahren sind kaum vertreten. Werden die Enkel noch Heimattreffen der persönlichen Begegnung veranstalten, oder allenfalls einmal im Internet nach Spuren der Vorfahren suchen? Kulturverlust ist nicht undenkbar – erst recht nicht im digitalen Zeitalter, das uns angeblich mit einem Klick die ganze Weltgeschichte zu Füssen legt. Das lässt mich an einen Vortrag denken, den Jan Philipp Reemtsma vor Jahren in Hamburg gehalten hat.

Einigen Leser(inne)n ist der Sozial- und Literaturwissenschaftler möglicherweise in Zusammenhang mit der Wanderausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944“ bekannt, die nach 1995 große Wirkung zeigte, aber auch Kontroversen auslöste. Das Thema seines Vortrags an der Freien Akademie der Künste war damals allerdings ein anderes, die Figur des Nathan in Gotthold Ephraim Lessings Stück „Nathan der Weise“ (1779). Es ging um Nathans Humanität, um die Toleranzidee der Aufklärung, um die in der zentralen Ringparabel versteckte Botschaft vernünftigen, umsichtigen Handelns. Dann war aber auch von Kulturverlust die Rede, weil nämlich Lessings dramatisches Gedicht von jungen Menschen kaum mehr gelesen werde und Gefahr laufe, aus dem Kanon des Faches Deutsch an höheren Schulen gestrichen zu werden. Das könne man als Verlust empfinden und wie er, Jan Philipp Reemtsma, bedauern, aber aufzuhalten sei der Gang der Dinge letztlich nicht.

Mich beschäftigt hier der gleiche Gedanke und damit die Frage, wie lange der Heimatverein wohl noch weiterbestehen wird? Die freundschaftlichen Verbindungen nach Miêdzyrzecz und Miêdzychód, die für mich in Perleberg erkennbar waren, wären es jedenfalls wert. Jenseits wie diesseits der Oder sind sie ein lebendiges Beispiel für den europäischen Gedanken. Statt Vorurteilen das Feld zu überlassen, die in der Geschichte allzu lange das Verhältnis von Deutschen und Polen bestimmt haben, wird hier ein gemeinsames kulturelles Erbe gepflegt und in persönlicher Begegnung ein gegenseitiges Verständnis befördert.
In diesem Zusammenhang darf dann auch nicht der Aufruf des Vorsitzenden vergessen werden: Der Heimatverein sucht Kandidat(inn)en, die bereit sind, ehrenamtlich im Beirat mitzuarbeiten, verbunden mit dem Hinweis, daß ein Internetanschluss vonnöten sei. Die zeitliche Belastung halte sich in Grenzen, das Gremium trete in der Regel einmal im Jahr zur gemeinsamen Sitzung mit dem Vorstand zusammen.


„Heimkehr“ in ein offenes Europa
Ein reger Gedankenaustausch ist es gewesen, ich habe mich wohlgefühlt. Der Vorsitzende der Heimatkreise Meseritz und Birnbaum, Herr Fischer von Mollard, will es mir angesehen haben, wie er mir beim Abschied mit auf den Weg gibt. Dem würden auch andere beipflichten.
Hier sollte ich für die Leser und Leserinnen noch nachtragen, daß es mich seit einigen Jahren immer wieder in die Landschaft zwischen Obra und Warthe zieht: Die Stadt, die einmal Meseritz hieß, Miêdzyrzecz, habe ich in mein Herz geschlossen. Obwohl meine Familie gar nicht aus Meseritz stammt, ich in Miêdzyrzecz also nur ein Zugereister bin, den sie in Hamburg einen „Quiddje“ nennen würden, weil er kein Plattdeutsch spricht, in diesem Fall allerdings kein Polnisch!

Auf den Spuren meines Vaters, der wie gesagt auch keiner war, bin ich für meine Begriffe jedenfalls „ein halber Meseritzer“ geworden. Mein Vater Herbert war Berliner, Jahrgang 1903, kam als 14-Jähriger im März 1917 nach Meseritz, um die Präparandenanstalt in der Schwiebuser Straße und später das katholische Lehrerseminar in Paradies (Paradyz) zu besuchen, wo er im April 1923 seine Prüfung bestand. Nachzulesen ist das etwas ausführlicher in meinem Beitrag „Hundert Jahre danach – eine Reise nach Meseritz“ im HEIMATGRUSS, Nr. 224, vom März 2018.
Während ich diese letzten Sätze schreibe, habe ich einen peruanischen Vals im Ohr, sein Titel „Todos vuelven“. Drei ältere Herren, Lehrerkollegen an der Alexander von Humboldt Schule in Lima, sangen diesen melancholischen Vals von César Miró zum Abschied – a cappella. „Todos vuelven a la tierra en que nacieron, al embrujo incomparable de su sol“. Was uns vom Gestern bleibt, ist die Sehnsucht. „Alle kehren heim an den Ort, wo sie geboren sind, zum Zauber ohnegleichen seines Lichts“, lauten die ersten Zeilen des Liedes – und rühren an einen wunden Punkt in unserer Seele.

Die Sehnsucht begleitet uns ein Leben lang, doch das Gestern bleibt nur Erinnerung. Gleichwohl sind die Orte der Kindheit, die Sie, liebe Heimatfreunde, mit den Eltern lassen mussten, in einem Europa offener Grenzen nicht länger verschlossen. Keine Schlagbäume behindern eine Wiederkehr, wenngleich auf neue, andere Art und Weise, in der Begegnung mit den Menschen, die das elterliche Erbe nutzen und hegen. Und das, so meine ich beim Zusammentreffen in Perleberg gespürt zu haben, verbuchen Sie auch als Gewinn.

Das nächste Heimatkreistreffen wird am 28. – 29.5.2022 in Paderborn stattfinden.