Seine kulturgeschichtlichen Kenntnissen haben
mich der Stadt, dem Powiat Miêdzyrzecki wie der
Woiwodschaft Lebus näher gebracht, und sprachlich
hat er mir „die Türen geöffnet“, denn ich spreche
zwar verschiedene Sprachen, doch bis auf
„dzieñ dobry“, „dziêkujê“ und ein paar Brocken
mehr kein Polnisch.
Am Vortag des Großen Heimatkreistreffens
wird denen, die schon früher angereist sind, am
Freitagnachmittag ein Ausflug ins Umland von
Perleberg angeboten. Herybert Schulz hat wie
schon in früheren Jahren einen Ausflug für Mitglieder
und Gäste organisiert und erweist sich als
(natur-)kundiger Begleiter durch die Prignitz.
Mitunter liegt Wehmut in seiner Stimme, wenn
er bei der Busfahrt über die Dörfer an verstorbene
Weggefährten erinnert, die wie er mit dem Zug
im Januar 1945 aus der alten Heimat jenseits der
Oder in Perleberg eintrafen. Für jeden und jede
findet er ein freundliches Wort, weiß irgendein
Detail zu berichten, daß sich mit dem Schicksal
der Familie oder dem Sesshaftwerden in der
neuen Heimat verbindet. Viele lägen längst auf
der anderen Seite, er deutet auf die Friedhofmauer,
an der wir vorbeifahren und klingt ein wenig
betrübt.
Beim Kloster Stift zum Heiligengrabe in der Nähe von Pritzwalk können wir uns zum ersten Mal die Beine vertreten. 1287 als Zisterzienserinnenkloster von askanischen Markgrafen gegründet, wird es kurz nach der Jahrtausendwende zum geistlichen Zentrum und Kulturstandort. Seit 1998 ist das mittlerweile restaurierte Kloster als Denkmal von nationaler Bedeutung anerkannt.
Bei der Plattenburg in der Prignitz legen wir einen etwas längeren Halt ein. Die Wasserburg in der Niederung des Flüsschens Karthane und von weiten Wäldern umgeben, geht auf das späte Mittelalter zurück, im 12. Jahrhundert soll sie von den brandenburgischen Markgrafen gegründet worden sein. Die imposanten Backsteingebäude der Ober- und Unterburg, um zwei Höfe herum angelegt, sind leider weitgehend Wind und Wetter ausgeliefert, Verfall nagt sichtbar am Gemäuer. Ungeachtet dessen war der Besuch der Burganlage ein Höhepunkt der Rundfahrt, er ist kulturgeschichtlich lohnend und außerdem jedem Naturfreund zu empfehlen.
Unter einem mächtigen Baum steht hier ein großer Gedenkstein, den die Perleberger Mitglieder des Bundes der Vertriebenen haben aufstellen lassen,
„ZUR ERINNERUNG AN OPFER UND LEID DURCH FLUCHT UND VERTREIBUNG ALS FOLGE DES 2. WELT-KRIEGES
PDV PERLEBERG 1995“.
Schatzmeister Aribert Heinrich, betagter Heimatfreund, der heute in Darmstadt lebt, wusste Anekdotisches zu erzählen. Den Findling aus der Gegend, auf dem die Inschrift steht, habe die Gemeinde in Rechnung stellen wollen. Genauere Erkundigungen hätten allerdings die Zweifel bestätigt, daß einem solchen pekuniären Ansinnen die rechtliche Grundlage fehlt.
Auf freiem Feld gibt es Kaffee und Kuchen, für mich als Gast wieder eine Gelegenheit, mit dem einen oder der anderen ein kurzes Wort zu wechseln.
So ich es richtig verstanden habe, hat den Streuselkuchen, von Herybert Schulz in einer Perleberger Bäckerei bestellt, eine Nachfahrin aus der alten Heimat gebacken. Den Kaffee dazu schenkt freundlicherweise der Busfahrer aus. Am späteren Nachmittag ging es in großem Bogen zurück nach Perleberg. Herybert Schulz begleitete die Rückfahrt wieder als sachkundiger Führer durch die Prignitz, dazu mit aufschlussreichen kleinen Berichten über die ersten Jahre nach dem Krieg, als es darum ging, sich in der neuen Heimat eine Existenz aufzubauen. Ich, ein Nachkriegskind, konnte aus dem Munde eines Zeitzeugen noch wieder einmal hören, mit welcher „Gründlichkeit“ Nazideutschland bis zum bitteren Ende funktioniert hat.
Bei Ankunft mit einem der letzten Reichsbahn- Züge, die Ende Januar 1945 noch aus Meseritz über die Oder kamen, bevor die Brücken vor der heranrückenden Sowjetarmee gesprengt wurden, war für Unterkunft und Verpflegung gesorgt. Die zwei Gendarmen, die den jungen Herybert und seine Freunde bei einer ersten nächtlichen Erkundung am Ort aufgriffen, wollten sich von den Jungs nichts „von den Russen“ erzählen lassen, die bald auch hier sein würden.
Treffen in pandemischen Zeiten Versöhnung über Kriegsgräbern
Das offizielle Heimatkreistreffen fand am Samstag, dem 18. September statt. Einlass der Besucher war 9 Uhr, „für Geimpfte, Genesene oder neg. Getestete“, wie der Programmzettel diskret im kleiner Gedruckten auswies. Warum findet das hier Erwähnung? Weil die Einladung für mich zeigt, daß man bei aller Vorsicht in Zeiten des Corona- Virus einzelne Mitglieder und Gäste nicht mittels verdeckter Impfpflicht ausgrenzen wollte.
Eine gewisse Spannung liegt in der Luft, weil
nicht genau bekannt ist, wer alles trotz Corona
kommen wird. Am Ende sind es weniger als beim
letzten Mal, der Vorsitzende, Herr Albrecht Fischer
von Mollard kann am Samstagvormittag aber
immerhin an die 60 Heimatfreunde der Kreise
Meseritz und Birnbaum willkommen heißen, namentlich
die polnischen Gäste, Frau Prof. Dr.
Malgorzata Czabañska-Rosada - ihr Mann Pawel
konnte sie aufgrund eines kurzfristig erforderlichen
berufsbedingten Einsatzes nicht begleiten -, ihren
Bruder Tomasz Czabañski (POMOST) sowie
dessen Stellvertreter, Schwiegersohn Piotr
Sramski, die aus Poznañ/Posen angereist sind,
außerdem Wojtek Derwich aus Miêdzyrzecz/
Meseritz, der anstelle des verhinderten Museumsdirektors
Andrzej Kirmiel einen seiner Heimatstadt
verbundenen Freund als Gast mitgebracht habe,
Lothar Andersch aus Hamburg.
Daß trotz der Pandemie eine große Anzahl
der Einladung zum 11. Großen Heimatkreistreffen
nach Perleberg gefolgt sei, zeuge von tiefer
Freundschaft, die aus Verbundenheit zur Heimat
erwachse. Der Vorsitzende verweist hier ausdrücklich
auf die aktuelle Ausgabe der Vereinszeitschrift
HEIMATGRUSS Nr. 238, September 2021
darin die Geschichte über das im Saal anwesende
Mitglied Martin Meißner, der jetzt in Werder an
der Havel lebt.
Als erstem Deutschen ist dem gebürtigen
Meseritzer am 22. Juni d. J. der Ehrentitel
„Zasluzony dla Miasta Miêdzyrzecz“ (Für Verdienste
um die Stadt Miêdzyrzecz/Meseritz) verliehen
worden. Herr Fischer von Mollard gratuliert ihm
im Namen aller Heimatfreunde. Alltäglich sei der
Vorgang nämlich nicht in den sich kompliziert gestaltenden
polnisch-deutschen Beziehungen.
Allerdings nähre diese Auszeichnung die Hoffnung,
daß Entspannung und Entkrampfung möglich
sind, Vorstand und Beirat würden sich
weiterhin mit ganzer Kraft dafür einsetzen.
Herr Fischer von Mollard dankt allen, die das
Treffen vorbereitet haben, insbesondere Herybert
Schulz und dem Ehepaar Kiefer vom Hotel Stadt
Magdeburg, wünscht den Anwesenden frohe Stunden des Wiedersehens und anregende Gespräche,
verleiht seiner Hoffnung Ausdruck, daß
man sich am 28. und 29. Mai 2022 im Schützenhof
in Paderborn wiedersieht.
Versöhnung über Kriegsgräbern
Als nächstes spricht Herr Tomasz Chabañski aus
Poznañ, Leiter des Vereins POMOST, der sich der
Erforschung deutscher Kriegsgräber in Polen widmet.
Er freue sich auf die Begegnung und das
Gespräch mit Bekannten. Das Heimattreffen finde
eine Woche nach der Seligsprechung seines
Landsmanns, Kardinal Stefan Wyszyiñski durch
die Katholische Kirche statt, der trotz Verfolgung
und Einkerkerung den Polen immer Beistand und
Hoffnung gegeben habe, die schwere Zeit des
Stalinismus und Kommunismus durchzustehen.
Kardinal Stefan Wyszyiñski sei es auch gewesen,
der schon kurz nach Kriegsende für die polnisch-
deutsche Versöhnung eintrat. Er war einer
der Initiatoren und Unterzeichner der Botschaft
der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder,
in der ein denkwürdiger Satz gefallen sei:
„Wir vergeben und bitten um Vergebung“.
Diese Worte hätten in den 1990er Jahren mit
Änderung der politischen Verhältnisse in Polen
auch den Ausschlag zur Gründung des Vereins
POMOST gegeben, der sich die Erforschung und
Bergung deutscher Kriegsopfer in polnischer Erde
zur Aufgabe gemacht habe.
Bis dato seien die sterblichen Überreste von über 25.000 deutschen Soldaten exhumiert und auf Friedhöfe umgebettet worden. Die Arbeit des Vereins POMOST sei vor zwei Monaten vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge mit der Übergabe eines Georadars ausgezeichnet worden, mit dem sich potentielle Gräber eingriffslos lokalisieren ließen.
In den beiden letzten Jahren habe POMOST
auch auf dem Gebiet des ehemaligen Kreises
Meseritz gearbeitet, u.a. in Obergörzig, Schierzig
Hauland, Politzig und Betsche. Auf dem Friedhof
in Schilln habe man den am 1. September 1939
gefallenen Richard Schrappe exhumieren können,
dabei durch Zufall das Grab des polnischen Grenzschutzsoldaten
Antoni Paluch entdeckt, der am
gleichen Tag gefallen ist. Beide seien die ersten
Opfer des Zweiten Weltkriegs im Raum Meseritz
gewesen. Man habe ihre Überreste im Juli 2021
in Glinna und Schilln feierlich beigesetzt.
Tomasz Chabañskis besonderer Dank geht an
Herrn Werner Schulz und seine Tochter Ilona
Schulz, die bei der Lokalisierung einer Beerdigungsstelle
bei Hauland wertvolle Hilfe geleistet
hätten. Anfang des Jahres habe man die lange
gesuchte Beerdigungsstelle im Wald bei Schierzig
entdeckt. Bei der Gelegenheit seien noch andere
Gräber gefunden worden, u.a. in Schwerin/Warthe
und Zielomischel, die im nächsten Jahr exhumiert
würden.
Abschließend stellt Tomasz Chabañski den Anwesenden
seinen Stellvertreter vor, Schwiegersohn
Piotr Sramski, der seit drei Jahren engagiert im Team POMOST mitarbeitet. Seine Aufgabe sei
es, Informationen zu bearbeiten und Zeugen zu
finden. Er hoffe, daß, wenn er in vier Jahren in
den Ruhestand trete, Piotr die Führung von
POMOST übernehmen könne. Er bedanke sich
bei allen, die in den letzten zwei Jahren mit
POMOST in Mail- und Briefkontakt standen.
Anekdoten aus alter Zeit
Frau Dr. Malgorzata Chabañski-Rosada, Universität
Gorzów Wielkopolski (Landsberg an der
Warthe), die seit 20 Jahren rege Kontakte mit dem
Heimatkreis Meseritz e.V. pflegt und Korrespondentin
des HEIMATGRUSS ist, bringt mit einem
kurzen Beitrag literarisches Kolorit ins Programm.
Sie spricht über ihre Forschungsarbeit der letzten zwei Jahre, die das kulturelle wie literarische Erbe der ehemaligen deutsch-polnischen Grenzregion zum Gegenstand hat. 189 Sagen und Legenden hätten sie und ein Mitarbeiter im Dreieck Meseritz-Schwerin-Birnbaum entdeckt. In absehbarer Zeit sei eine Veröffentlichung dieser literarischen Zeugnisse geplant. Den Anwesenden gibt sie zwei amüsante Anekdoten aus Strzyzewo/Strese und Bobowicko/ Bobelwitz zum Besten aus einer polnischen und einer deutschen Quelle. Ich will versuchen das Beispiel aus deutscher Quelle hier aus dem Gedächtnis zusammenfassen: Ein Bauer kommt an eine verschlossene Wegschranke, verärgert macht er sich auf die Suche nach dem Wächter, lässt allerdings dummerweise seinen Ziegenbock dort angebunden zurück, um bei Rückkehr die Schranke geöffnet und sein Tier jämmerlich verendet hoch oben in der Luft baumelnd vorzufinden.
Der Toten gedenken
In einem kurzen Totengedenken, das den offiziellen
Teil des Programms beschloss, gedachte der
aus Nipter (Nietoperek) stammende fast 95-jährige
Aribert Heinrich derer, die seit dem letzten
Heimatkreistreffen im Jahr 2019 verstorben sind,
namentlich der Sr. Oberin Brigitte Baller (Eisenach)
und Edeltraud Belzig (Berlin).
Aribert Heinrich erinnert an die Gräber derer,
die 1945 zwischen Obra und Warthe auf der Flucht
über die Oder und auf dem Weg nach Berlin ihr
Leben ließen, und fügt wörtlich hinzu: „Wir gedenken
der polnischen Nachbarn, die unter dem
NS-Regime leiden mussten.“ Zum Schluss gemahnt
er an die Opfer gegenwärtiger Konflikte und
Kriege, schließt im Gedenken alle Menschen ein,
die auf der Flucht leiden oder umkommen.
Heimat trotz Verlusterfahrung
Im Anschluss an den offiziellen Teil lausche ich
den Gesprächen meiner Tischnachbarn, die teils
auch auf Polnisch geführt wurden; anfangs noch
Zuhörer ergibt sich für mich bald auch Gelegenheit,
eigene Beobachtungen einzubringen und ein
paar Fragen loszuwerden. Die zwanglose Atmosphäre
machte mir den Einstieg in einen Gedankenaustausch
leicht, der „Fürwitz des Gastes“ auf
den Heimatverein kam zu seinem Recht. In Perleberg
sitze ich nicht der Väter- und Müttergeneration
aus den Kreisen Meseritz und Birnbaum
gegenüber, vielmehr den „Kindern“, die Ende Januar
1945 vor der heranrückenden Roten Armee
mit Mutter und/oder Großeltern über die Oder nach Westen geflohen sind. Oder später nach
Kriegsende aus der Heimat vertrieben wurden.
Weil der freimütige Geist deutsch-polnischer
Begegnung, die ich in Perleberg erlebe, mich beeindruckt,
frage ich mich, was wohl die Heimattreffen
in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren
bestimmt haben mag. Waren unter den Teilnehmern
von damals nicht auch Nationalsozialisten,
die in der alten Heimat zu den überzeugten Verfechtern
eines „Tausendjährigen Reiches“ gehört
hatten?
Auch in Meseritz hat am 9. November
1938 die Synagoge gebrannt! Und es ist kaum
anzunehmen, daß niemand etwas von den Euthanasie-
Morden in der Meseritz-Obrawalde gewusst
hat, die Heilanstalt bot schließlich manchem
einen Arbeitsplatz.
Ich will nicht verhehlen, daß ich in jungen Jahren
mit „Heimat“ eher die nationalistischen Töne
der Vertriebenenverbände verband, die Anfang der
1970er lautstarken Protest gegen die Ostpolitik
der Regierung Brandt/Scheel erhoben. Waren
darunter nicht auch die, die seiner Zeit den verheerenden
Raubzügen der Nationalsozialisten
durch Europa ihren Segen gegeben hatten? Für
mich hatten nicht wenige derer, die ihre alte Heimat
beschworen, diese selbst in Nibelungentreue
verspielt. Freilich abstrahiert ein solches Urteil vom
Einzelfall, lässt „die Gerechten mit den Ungerechten
leiden“. Indes schien es bei nüchterner Betrachtung
der Fakten vertretbar, war es doch keine
Minderheit, die dem Nazi-Regime die Treue
gehalten hatte.
Skepsis war also angebracht gegenüber denen,
die von „Verrat an der Heimat“ redeten, um
gegen eine Politik der Aussöhnung zu Felde zu
ziehen, die eine Anerkennung der Grenzen in
Europa als notwendige Voraussetzung eines friedlichen
Nebeneinanders erkannt hatte.
Das Wort
„Heimat“ schien der vergiftete Ausdruck eines
Deutschtums, das Europa im 20. Jahrhundert zwei
verheerende Kriege beschert hatte.
Der Kniefall Willy Brandts im ehemaligen Warschauer
Ghetto im Dezember 1970 machte deshalb
großen Eindruck auf mich. Endlich ein sichtbares
Eingeständnis von Schuld, und das von einem
Deutschen, der kein Mitläufer war. Im Gegenteil,
als Sozialdemokrat wurde er selbst verfolgt
und ins Exil getrieben. Sein Schritt half friedliche
Nachbarschaft zu befördern, es galt die Realitäten
anzuerkennen, wollte man nicht erneut
menschliches Leid heraufbeschwören.
Diese politische Sicht der Dinge, die Leser und
Leserinnen des HEIMATGRUSS jener Tage mehrheitlich
nicht teilten, wie unter der Überschrift „Der
Riß“ in der Nr. 38 vom März 1971 nachzulesen
wäre, hege ich nach wie vor, sehe allerdings heute
doch mehr und anderes, wenn von verlorener
Heimat die Rede ist. Für verlorenen materiellen
Besitz hat die Bundesrepublik in gewissem Umfang
Entschädigung leisten, nicht aber die alte
Heimat zurückgeben können. Die hatte das Nazi-
Regime mit Terror und Krieg verspielt.
Auch wenn eine solche Verlusterfahrung mir
erspart geblieben ist, weiß ich dennoch um das
Gefühl der Verlorenheit. Menschen werden von
einer Landschaft, von vertrauten Räumlichkeiten,
von der Alltagskultur in einer Gemeinschaft geprägt,
prägen ihrerseits die Orte mit, an denen
sie leben. Das Zuhause für immer zurücklassen
zu müssen, ist für die meisten sehr schmerzlich.
Die alles stehen und liegen lassen mussten, verlässt
das Heimweh daher nie.
Als Gast habe ich das Perleberger Treffen
allerdings keineswegs als nostalgische Veranstaltung
erlebt, sondern als Begegnung zwischen
Menschen beiderseits der Oder, zwischen Polen
und Deutschen, die für denselben Fleck Erde das
Wort „oiczyzna“ bzw. „Heimat“ verwenden und
zu Recht, denn die einen sind heute dort beheimatet,
wo die anderen es einmal waren. Und was
ihre Eltern und Großeltern angeht, teilen diese
vielfach das bittere Schicksal der Vertreibung, das
mit dem Hitler-Stalin-Pakt seinen Anfang im polnischen
Osten nahm, um ein paar Jahre später
am Ende eines verbrecherischen Krieges auch
den deutschen Osten zu ereilen.
Engagement wäre erwünscht
Umso erfreulicher war es für mich zu beobachten,
daß es der Generation derer, die als Kinder
aus den ehemaligen Kreisen Meseritz und Birnbaum
fliehen mussten oder vertrieben wurden, offenkundig
in den letzten zwei Jahrzehnten gelungen
ist, über die Oder hinweg einen Dialog unter
Nachbarn zu beleben aus dem Bewusstsein, eine
Heimat zu teilen, ist eine fruchtbare Zusammenarbeit
erwachsen. Bei Tisch das polnisch-deutsche
Stimmengewirr war hörbarer Ausdruck, und beim
geselligen Beisammensein erzählten mir Teilnehmer(
innen) von ihren Verbindungen nach Polen
zu den neuen Bewohnern der alten Heimat.
Ich weiß beispielsweise um den regen Austausch
mit dem Museum in Miêdzyrzecz, dessen
geschätzter Direktor, Andrzej Kirmiel, der wechselvollen
Geschichte der Stadt und Region vorurteilslos
begegnet, was jeder bestätigen wird, der
das Muzeum Ziemi Miêdzyrzeckiej im Flusswinkel
zwischen Obra und Packlitz besucht und durch
die sehenswerte Ausstellung Deutsche und andere
Bewohner von Meseritz geht.
Und wer in der Zeitschrift des Vereins blättert,
wird erkennen dass der HEIMATGRUSS, der sich
seit März 2011 „Zeitschrift von Zeitzeugen“ nennt,
dieser Selbstbeschreibung durchaus gerecht wird.
In den Beiträgen, ob von polnischer oder deutscher
Seite, geht es um die Geschichte und Kultur
einer gemeinsamen Heimat.
Aus den Reihen der Mitglieder ist zu hören,
dass die Zeitzeugen, die in ihrer Kindheit noch in
der Neumark gelebt haben, weniger werden. Die
Liste der Verstorbenen, die vierteljährlich im
HEIMATGRUSS veröffentlicht wird, wächst. Das
Gefühl der Zeitewigkeit aus jungen Jahren ist dem
der Endlichkeit gewichen. Viele, die man kannte,
sind nicht mehr, die Abwesenheit der Weggefährten
ist immer wieder Thema in den Tischgesprächen,
eine wehmütige Stimmung ist zu
spüren.
Als ich mich im Saal des Hotels Magdeburg
umschaue, sehe ich vor allem alte Menschen,
zähle mit meinen 71 Jahren zu den Jüngeren. Nur
wenige der alten Mitglieder werden von Töchtern oder Söhnen begleitet, die Nachfahren sind kaum
vertreten.
Werden die Enkel noch Heimattreffen der persönlichen
Begegnung veranstalten, oder allenfalls
einmal im Internet nach Spuren der Vorfahren
suchen? Kulturverlust ist nicht undenkbar erst
recht nicht im digitalen Zeitalter, das uns angeblich
mit einem Klick die ganze Weltgeschichte zu
Füssen legt. Das lässt mich an einen Vortrag denken,
den Jan Philipp Reemtsma vor Jahren in
Hamburg gehalten hat.
Einigen Leser(inne)n ist der Sozial- und Literaturwissenschaftler
möglicherweise in Zusammenhang
mit der Wanderausstellung
„Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht
19411944“ bekannt, die nach 1995 große Wirkung
zeigte, aber auch Kontroversen auslöste.
Das Thema seines Vortrags an der Freien Akademie
der Künste war damals allerdings ein anderes,
die Figur des Nathan in Gotthold Ephraim
Lessings Stück „Nathan der Weise“ (1779). Es
ging um Nathans Humanität, um die Toleranzidee
der Aufklärung, um die in der zentralen Ringparabel
versteckte Botschaft vernünftigen, umsichtigen
Handelns. Dann war aber auch von
Kulturverlust die Rede, weil nämlich Lessings dramatisches
Gedicht von jungen Menschen kaum
mehr gelesen werde und Gefahr laufe, aus dem
Kanon des Faches Deutsch an höheren Schulen
gestrichen zu werden. Das könne man als Verlust
empfinden und wie er, Jan Philipp Reemtsma,
bedauern, aber aufzuhalten sei der Gang der Dinge
letztlich nicht.
Mich beschäftigt hier der gleiche Gedanke und
damit die Frage, wie lange der Heimatverein wohl
noch weiterbestehen wird? Die freundschaftlichen
Verbindungen nach Miêdzyrzecz und Miêdzychód,
die für mich in Perleberg erkennbar waren, wären
es jedenfalls wert. Jenseits wie diesseits der Oder
sind sie ein lebendiges Beispiel für den europäischen
Gedanken. Statt Vorurteilen das Feld zu
überlassen, die in der Geschichte allzu lange das
Verhältnis von Deutschen und Polen bestimmt
haben, wird hier ein gemeinsames kulturelles Erbe
gepflegt und in persönlicher Begegnung ein gegenseitiges
Verständnis befördert.
In diesem Zusammenhang darf dann auch
nicht der Aufruf des Vorsitzenden vergessen werden:
Der Heimatverein sucht Kandidat(inn)en, die
bereit sind, ehrenamtlich im Beirat mitzuarbeiten,
verbunden mit dem Hinweis, daß ein Internetanschluss
vonnöten sei. Die zeitliche Belastung
halte sich in Grenzen, das Gremium trete in der
Regel einmal im Jahr zur gemeinsamen Sitzung
mit dem Vorstand zusammen.
„Heimkehr“ in ein offenes Europa
Ein reger Gedankenaustausch ist es gewesen, ich
habe mich wohlgefühlt. Der Vorsitzende der
Heimatkreise Meseritz und Birnbaum, Herr Fischer
von Mollard, will es mir angesehen haben, wie er
mir beim Abschied mit auf den Weg gibt. Dem würden
auch andere beipflichten.
Hier sollte ich für die Leser und Leserinnen noch
nachtragen, daß es mich seit einigen Jahren immer
wieder in die Landschaft zwischen Obra und
Warthe zieht: Die Stadt, die einmal Meseritz hieß,
Miêdzyrzecz, habe ich in mein Herz geschlossen.
Obwohl meine Familie gar nicht aus Meseritz
stammt, ich in Miêdzyrzecz also nur ein Zugereister
bin, den sie in Hamburg einen „Quiddje“ nennen
würden, weil er kein Plattdeutsch spricht, in
diesem Fall allerdings kein Polnisch!
Auf den Spuren meines Vaters, der wie gesagt
auch keiner war, bin ich für meine Begriffe jedenfalls
„ein halber Meseritzer“ geworden. Mein Vater
Herbert war Berliner, Jahrgang 1903, kam als
14-Jähriger im März 1917 nach Meseritz, um die
Präparandenanstalt in der Schwiebuser Straße
und später das katholische Lehrerseminar in Paradies
(Paradyz) zu besuchen, wo er im April 1923
seine Prüfung bestand. Nachzulesen ist das etwas
ausführlicher in meinem Beitrag „Hundert
Jahre danach eine Reise nach Meseritz“ im
HEIMATGRUSS, Nr. 224, vom März 2018.
Während ich diese letzten Sätze schreibe, habe ich einen peruanischen Vals im Ohr, sein Titel „Todos vuelven“. Drei ältere Herren, Lehrerkollegen an der Alexander von Humboldt Schule in Lima, sangen diesen melancholischen Vals von César Miró zum Abschied a cappella. „Todos vuelven a la tierra en que nacieron, al embrujo incomparable de su sol“. Was uns vom Gestern bleibt, ist die Sehnsucht. „Alle kehren heim an den Ort, wo sie geboren sind, zum Zauber ohnegleichen seines Lichts“, lauten die ersten Zeilen des Liedes und rühren an einen wunden Punkt in unserer Seele.
Die Sehnsucht begleitet uns ein Leben lang,
doch das Gestern bleibt nur Erinnerung. Gleichwohl
sind die Orte der Kindheit, die Sie, liebe
Heimatfreunde, mit den Eltern lassen mussten,
in einem Europa offener Grenzen nicht länger
verschlossen. Keine Schlagbäume behindern eine
Wiederkehr, wenngleich auf neue, andere Art und
Weise, in der Begegnung mit den Menschen, die
das elterliche Erbe nutzen und hegen. Und das,
so meine ich beim Zusammentreffen in Perleberg
gespürt zu haben, verbuchen Sie auch als Gewinn.
Das nächste Heimatkreistreffen wird am 28. 29.5.2022 in Paderborn stattfinden.