Vertreibung ist Unrecht
Norbert Tarsten


Je älter man wird, umso mehr erinnert man sich an seine Kindheit. Die Frage nach der Herkunft wird nicht nur wichtig, sie ist präsent, den Alltag bestimmend.
Nach 70 Jahren stehen Bilder vor Augen, klingen Schreie, Rufe, unklare Töne wieder an. Alles verlangt nach einer Auseinandersetzung bzw. Klärung dieser Phänomene menschlichen Daseins. Der Krieg tobte mit allen barbarischen Varianten. In der letzten Phase war er nicht frei von Planungen für die Zeit danach. Rachegefühle sind stark. Sollten sie schon vor 70 Jahren dominierend werden? Wir merken auch in der Gegenwart, wozu sie führen. An einige Vorgänge von damals möchte ich mich erinnern, denn sie waren entscheidend für Schicksale von Millionen.

Die Vertreibung der Deutschen im Osten und aus der Mitte Europas ab 1945, ihre Enteignung, waren Unrecht, und dieses kann auch mit der Zeit nicht Recht werden. Die Behauptung, den deutschen Vertriebenen sei mit der Enteignung ganz recht geschehen, der hat von Recht und Gesetz wenig verstanden. Die Nachahmung der Vertreibung als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele ist leider gängige Praxis auch in unserer Zeit. Man kann und darf ein Unrecht nicht mit einem anderen Unrecht vergelten. So sieht es heute die Mehrheit der Mitgliedsstaaten der UN. Die große Mehrheit der Vertriebenen nach 1945 waren völlig unschuldige Menschen, solche, die von Politik keine Ahnung, bzw. denen sie gleichgültig war, aber auch Gegner des Nationalsozialismus, Sozialdemokraten, im Glauben gefestigte Menschen. Auch Greise sowie Kinder und Jugendliche waren von den Maßnahmen der Vertreibung betroffen.

Wie sieht aber heute die Debatte um die deutsche Vertreibung aus? Deutsche Historiker konzentrieren sich darauf, wie man die Vertreibungen darstellen und erinnern, weniger woran erinnert werden soll. Sichtbar empört über eine derartig lasche Vorgehensweise deutscher Bedenkenträger zeigt sich der Ire Ray M. Douglas in seinem Werk „Ordnungsgemäße Überführung, Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg“.
Im ersten Kapitel „Der Planer“ beschäftigt er sich mit der Rolle des tschechoslowakischen Präsidenten Edward Benes. Dieser erwartet vom Ausgang des Krieges eine Gelegenheit, ein nationales Projekt der „Säuberung“ des slawischen Staates von Deutschen und Magyaren als gegeben.
Ein Mittel zur Lösung des Minderheitenproblems durch Massenvertreibungen? Dieser Plan war allerdings nur mit Unterstützung der Alliierten realisierbar. Politische Eliten in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten plädierten bereits 1948 für die Vertreibung, schon um künftige Konflikte zu vermeiden. Anhand zahlreicher Querelen widerlegte Douglas die Legende, die Westalliierten hätten nur widerwillig die Vertreibung zur Kenntnis genommen und auf humane Durchführung bestanden. Die drei Mächtigen divergierten zwar in ihren Zielvorstellungen, aber sowohl Stalin wie Churchill und Roosevelt sahen in der Vertreibung eine Komponente der gewünschten Veränderungen nach dem Kriege. In einer Rede vor dem Unterhaus am 15. Dezember 1944 läßt Churchill einen Sinneswandel erkennen und nannte die Umsiedlung „das befriedigendste und dauerhafteste Mittel“.

Es mußte dem britischen und amerikanischen Entscheidungsträger bewußt gewesen sein, daß die Vertreibung von 12 bis 14 Millionen Menschen logistisch nicht zu bewältigen war, aber die humanitäre Katastrophe mit Hunderttausenden von Toten nahm man in Kauf. Für sie stand die Kollektivschuld bereits fest. Die brutale Durchführung der Zwangsumsiedlungen sahen sie als entschuldbar an. Für die Vertreibungsstaaten sollte es auch eine „Entladung der Rachegefühle“ für die Kriegserfahrungen sein.
Welche Gedanken kommen einem Mitteleuropäer Anfang des 21. Jahrhunderts in den Sinn, wenn er an die Geschichte der deutsch-slowakischen Beziehungen denkt? Man nehme die Stimme des verantwortlichen Politikers aus dem deutschen Siedlungsgebiet der Karpaten.
Der Minister für auswärtige Angelegenheiten der slowakischen Republik Mikulas Dzurinda empfahl 2011 einen wahrhaftigen Blick auf die Geschichte des eigenen Volkes zu werfen, als Voraussetzung für eine nachhaltige Zusammenarbeit in Europa. Die Geschichte könne man nach dem Verständnis des Ministers nicht rückgängig machen. Der Geschichte muß man in die Augen schauen und die eigenen Fehler eingestehen. Der Zweite Weltkrieg brachte zwar eine Unterbrechung der Kontinuität guter Beziehungen zwischen der slowakischen Mehrheit und der deutschen Minderheit in der Slowakei.

Die Geschichte der Karpatendeutschen trägt eine wichtige Botschaft: und zwar die vom gegenseitigen Respekt und des einvernehmlichen Zusammenlebens der Mehrheitsbevölkerung und der nationalen Minderheit, wobei sich die nationale Identität mit der bürgerlichen Loyalität ergänzen und bestärken. Das erste demokratische gewählte Parlament der Slowakei nach dem Zweiten Weltkrieg hat in einer Erklärung 2011 das Prinzip der kollektiven Schuld verurteilt und im Namen des slowakischen Volkes sein Bedauern über den Verlust der deutschen Mitbürger zum Ausdruck gebracht. Den Karpatendeutschen wurde die Hand zur Versöhnung gereicht, die auch genommen wurde. So kann sich ein gedeiliches Zusammenleben in Europa entwickeln.

Der Zweite Weltkrieg und damit auch die Verbrechen, die im deutschen Namen begangen worden sind, sie waren nicht die Ursache für die Vertreibung, wie oft rechtfertigend behauptet wird, sondern der Anlaß für die Möglichkeit der Vertreibung. Der historische Kontext ist wichtig. Er beginnt aber nicht erst 1938 oder 1939. Die Ursachen sind komplexer und reichen zum Teil ins 19. Jahrhundert. Der Slawenkongreß 1818 in Prag legte gewissermaßen die Route für die Selbstbestimmung der Slawen in einem eigenen Staate vor.

Erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, als Polen sein Staatlichkeit neu erlangte und die Tschechoslowakei gegründet worden war, forderten die Polen auf der Pariser Friedenskonferenz1919 große deutsche Gebiete bis zur Oder- Neiße-Linie.
Es kam zu Protestaktionen der deutschen Bevölkerung in den Grenzgebieten, denn 11 Gemeinden des Kreises Meseritz wurden dem polnischen Staat zugeschlagen. Den polnischen Opfern der damaligen Auseinandersetzung wurde nach 1915 auf dem alten katholischen Friedhof in Meseritz eine Ruhestätte gewidmet. Über die Rolle der katholischen Kirche in dieser Auseinandersetzung soll hier nicht die Rede sein.
In den Jahren 1919 – 1939 gab es zahlreiche Entgleisungen in der polnischen Presse. Nur eine Stimme sei hier angeführt, und zwar die unter Leitung des Generals Pilsudski im „Mocarstwowiec“ 1930.
„Wir sind uns bewußt, daß der Krieg zwischen Polen und Deutschland nicht vermieden werden kann. Unser Ideal ist, Polen mit den Grenzen an der Oder im Westen und der Neiße in der Lausitz abzurunden und Preußen vom Pregel bis zur Spree einzuverleiben. In diesem Krieg werden keine Gefangenen genommen. Es wird kein Platz für humanitäre Gefühle sein.“
Viele Straßen und Plätze im heutigen Polen tragen den Namen des Generals. Seitens des tschechischen Außenministers gab es schon 1918 Hinweise auf Vertreibungsabsichten. Noch vor dem Münchener Abkommen 1938 hat Benes in Gesprächen bei Stalin, Churchill und Roosevelt für den „Transfer“ einer großen Zahl von Sudetendeutschen geworben. Politiker beider Länder war die Schaffung eines nationalen Staates ohne Minderheiten ein zentrales Ziel und Anliegen.Auf der Potsdamer Konferenz (17.07. - 02.08. 1945) verfügten die Alliierten die Neuordnung Deutschlands und legten auf Druck Stalins die Ostgrenze Deutschlands entlang der Oder-Neiße-Linie fest. Die bisherigen Gebiete östlich dieser Linie wurden unter polnische Verwaltung bzw. sowjetische gestellt; die endgültige Festlegung der Ostgrenze wurde bis zu der Friedenskonferenz zurückgestellt. Diese fand noch nicht statt.

Viele Millionen Menschen verloren schlagartig ihre Heimat in den Ostgebieten, ca. 114.000 qkm gingen unter fremde „Verwaltung“. Menschen, die bisher noch nicht geflohen waren, erwartete nun ein grausames Schicksal. Mit wenig Gepäck ausgestattet, mußten sie Haus und Hof verlassen und wurden in eine ungewisse Zukunft gen Westen getrieben. Etwa 2 Millionen Menschen, darunter Kinder, Alte und auch zahllose Frauen überlebten die katastrophalen Umstände der Vertreibung nach 1945 nicht. Viele verhungerten unterwegs. Unzählige Frauen wurden Opfer von Vergewaltigungen, Hunderttausende andere wurden von der Roten Armee nach Sibirien verschleppt. Nur weige überlebten den Gulag. Zigtausende Zivilisten wurden in Zwangslagern teils bis 1950 interniert, wie zum Beispiel in Potulice / Potulitz bei Bromberg oder im berüchtigten Lager Postelberg in Böhmen, wo im Juni 1945 ca. 2500 deutsche Zivilisten exekutiert wurden.

Für die zahllosen Opfer der Vertreibung, die an der Straße liegen blieben, hat noch kein politischer Repräsentant unseres Landes auch nur eine Kerze angezündet. Einseitige Berichte über Obrawalde bei Meseritz bis einschließlich 1945 sind bekannt. Grausame Folgen des Entzugs von Lebensmitteln fanden auch anderswo im Kreise statt. Wer holte wohl die Leichenteile von den Bäumen an der Eisenbahnstrecke Betsche – Politzig im Frühjahr 1945? Fanden sie eine Ruhestätte? Wo? Offiziell ruhten zu diesem Zeitpunkt schon die Kriegswaffen. Die Rote Armee hatte weitgehend die Verwaltung der besetzten Gebiete an die polnische Seite übertragen. Eine zivile Verwaltung wurde langsam aufgebaut. Ab 18. Mai 1945 hatte z.B. der Bahnhof in Meseritz bereits einen polnischen Vorsteher. Die polnische Armee verkündete am 26. Juni 1945 einen Befehl, in dem es hieß:
„Es ist ein historischer Tag in der Geschichte Polens gekommen, der Hinauswurf des germanischen Ungeziefers aus den seit Jahrhunderten polnischen Gebieten. Jeder Soldat muß sich darüber im Klaren sein, daß er heute eine geschichtliche Mission erfüllt, auf deren Verwirklichung Generationen gewartet haben“.

Wie der Chronist der Nachkriegszeit Stefan Cyraniak ermittelt hat, wurden in den Monaten Juni – Juli 1945 aus der Stadt und dem Kreis Meseritz 12.000 Personen der deutschen Bevölkerung in Gebiete jenseits der Oder ausgesiedelt. Gleichzeitig strömten Siedler aus Ost- und Zentralpolen ein, um den deutschen Besitz zu übernehmen. Obwohl seit dem Jahr der Vertreibung , oder wie man damals sagte: der Ausreise, Umsiedlung, Repatriierung sieben Jahrzehnte vergangen sind, bleiben viele Fragen auf beiden Seiten offen. Von Versöhnung können nur Menschen „schwadronieren“, die geringe bzw. keine Kenntnisse von Fakten haben. Dabei spielen auch mentale Unterschiede eine Rolle.
Wer aber die Vergangenheit nicht kennt, kann wohl nur über sehr große Anstrengungen eine Verständigung zugunsten der gemeinsamen Zukunft anstreben und dann auch gestalten. Anzeichen gibt es bereits. Das dürfte besonders die Träger und Förderer dieser Bestrebungen beflügeln und zum Weitermachen ermutigen. Nur zaghaft wurde der Versuch der neuen Urteilsfindung des polnischen Historikers Jan Josef Lipski nach 1981 verbreitet, der folgende Deutung vornahm: „Das uns angetane Böse, auch das größte, ist keine Rechtfertigung und darf auch keine sein für das Böse, das wir selbst anderen zugefügt haben.“ Die Jahre nach der politischen Wende – auch in Polen – haben noch viele andere Urteile hervorgebracht. Damit sind nicht nur die Einwände gegen das „Zentrum gegen Vertreibung“ in Berlin gemeint.

Unterschiedlich werden wohl auch die Aspekte des Gedenkens an die Ereignisse vor 70 Jahren sein. Erinnerungskultur kann verschiedene Facetten annehmen. Wird man der Opfer beider Seiten von damals gedenken? Werden eventuell noch 30 Jahre vergehen, bis die Zahl 100 erreicht ist und die nachfolgende Generation ein Urteil in ihrem Zeitgeist fällt?




Gegengewicht - Eine Antwort auf den Text von N. Tarsten
Albrecht Fischer von Mollard


Unter der Überschrift „Vertreibung ist Unrecht“ erinnert sich Norbert Tarsten „an einige Vorgänge von damals [1945], ... denn sie waren entscheidend für Schicksale von Millionen“. Er beruft sich dabei auf Ray M Douglas und dessen Buch „Ordnungsgemäße Überführung – Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg“ und kommt am Ende seiner Analyse zu einer bitteren Erkenntnis: „Von Versöhnung können nur Menschen „schwadronieren“, die geringe bzw. keine Kenntnisse von Fakten haben“.

Als Verfechter einer aktiven Versöhnungspolitik gegenüber unseren östlichen Nachbarstaaten möchte ich diesem arroganten, anmaßenden Urteil nachdrücklich widersprechen. Der Autor macht es sich zu einfach, wenn er sich nur an „einige“ geschichtliche Tatsachen der jüngeren deutschen und europäischen Geschichte erinnert und andere, die nicht in sein Weltbild passen, einfach ausblendet. Insofern versteht er sich selbst durchaus auf das Schwadronieren, das er anderen vorwirft. „Der wahrhaftige Blick auf die Geschichte des eigenen Volkes“, wie er den slowakischen Außenminister zitiert, scheint ihm selbst offenbar verstellt zu sein und die Mahnung „Der Geschichte muß man in die Augen schauen und die eigenen Fehler eingestehen!“ gilt vermutlich nur für andere.

Als Beleg „zahlreicher Entgleisungen in der polnischen Presse“ 1919 – 1939 zitiert Norbert Tarsten den polnischen General Pilsudski, der 1930 habe verlauten lassen, polnisches Ideal sei, „Polen mit den Grenzen an der Oder im Westen und der Neiße in der Lausitz abzurunden“. Um seinem selektiven Erinnerungsvermögen ein wenig auf die Sprünge zu helfen, sei in diesem Zusammenhang die NS-These vom „Volk ohne Raum“, entstanden 1926, erwähnt oder besser, ergänzt und dazu ein Zitat des Reichsbauernführer Darré von 1936: „Der natürliche Siedlungsraum des deutschen Volkes ist das Gebiet östlich unserer Reichsgrenze bis zum Ural, im Süden begrenzt durch Kaukasus, Kaspisches Meer, Schwarzes Meer und die Wasserscheide, welche das Mittelmeerbecken von der Ostsee und der Nordsee trennt“. Im Vergleich dazu, meine ich, war Pilsudskis Vision doch relativ bescheiden.

Sodann geht der Verfasser auf die Festlegung der Oder-Neiße-Linie ein und schreibt, „die endgültige Festlegung der Ostgrenze [Deutschlands] wurde bis zu der Friedenskonferenz zurückgestellt. Diese hat noch nicht stattgefunden“. Hier tut sich erneut eine Erinnerungslücke auf, denn die Frage nach der Endgültigkeit der deutschen Ostgrenze ist mit der Vertragsunterzeichnung der sog. „4 plus 2 Verhandlungen“ im Jahre 1990 abschließend und völkerrechtlich verbindlich geklärt worden.

Eindrucksvoll, bewegend und mit grausamen Einzelheiten schildert der Autor die Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen (!) Ostgebieten, die wir Meseritzer Heimatfreunde z. T. in unserer Kindheit noch miterlebt haben. Bedauerlicherweise setzen seine Erinnerungen dabei jedoch erst 1945 ein. Daß in den Anfangsjahren, als sich die Kriegswalze vom Territorium des Deutschen Reiches aus noch vorwärts bewegte und ein deutscher Sieg möglich schien, insbesondere unsere östlichen Nachbarn das gleiche Schicksal erleiden mußten, daß bis zu 11 Millionen Zwangsarbeiter ganz überwiegend aus Polen und der Sowjetunion, z. T. von der Straße weg verschleppt, im Deutschen Reich zu buchstäblichen Hungerlöhnen (wenn überhaupt) in der Rüstungsproduktion arbeiten mußten und Millionen ihr Leben verloren, daß von den weit mehr als 5 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Hand mehr als 3 Millionen umkamen, alle diese Deutschland belastenden Tatsachen kommen in den Erinnerungen von Norbert Tarsten nicht vor. Dennoch meint er feststellen zu müssen: „Von Versöhnung können nur Menschen „schwadronieren“, die geringe bzw. keine Kenntnisse von Fakten haben“.

In dem Beitrag wird aus dem Befehl der polnischen Armee vom 26. Juni 1945 zitiert, in dem vom „Hinauswurf des germanischen Ungeziefers aus den seit Jahrhunderten polnischen Gebieten“ die Rede ist. Leider erinnert sich der Autor nicht an die Zeit zuvor, als in Polen und in der Sowjetunion die sog. „Untermenschen hausten“ und im Deutschen Reich die „Herrenrasse“ residierte. Zur Begriffserklärung möge ein Zitat aus einer Rede von Robert Ley, Leiter der Deutschen Arbeitsfront, vom Oktober 1939, also aus den Anfangstagen des Krieges, dienen: „Wir können unseren Auftrag nur daher nehmen, daß wir sagen, es ist von Gott gewollt, daß eine höhere Rasse über eine mindere herrschen soll, und wenn für beide nicht genügend Raum ist, dann muß die mindere Rasse verdrängt und, wenn notwendig, zum Vorteil der höheren Rasse ausgerottet werden.“ Angesichts dieser „markigen“ Worte eines Mitgliedes der damaligen NS-Führung sollte sich die Empörung des Verfassers über den polnischen Armeebefehl relativieren.
Im gottlob nicht eingetretenen Fall eines deutschen „Endsieges“ wäre doch vom deutschen Oberkommando mit Sicherheit ein Befehl vergleichbaren Inhalts an die Überlebenden in den besetzten Gebieten herausgegeben worden. Mir persönlich fällt zu dieser speziellen NS-Ideologie Lukas 14, Vers 11 ein: Denn wer sich selbst erhöhet, der soll erniedriget werden; und wer sich selbst erniedriget, der soll erhöhet werden. Wie wahr, wie wahr!

Zwar erklärt der Autor spitzfindig, der Zweite Weltkrieg sei „nicht die Ursache ..., sondern der Anlaß für die Möglichkeit der Vertreibung“, einen Hinweis auf den Ausgangspunkt dieser globalen Katastrophe 1939-1945 erwartet seine Leserschaft jedoch vergeblich. Es sei ihm ins Gedächtnis gerufen, daß Hitler und die ihn umgebenden NS-Verbrecher in ihrer Hybris ohne Not, ohne echten Anlaß, beginnend mit dem Überfall auf Polen am Ende halb Europa mit ihrem Terrorregime überzogen hatten, unter dem die europäischen Juden mit 6 Mio. Opfern in ganz besonderem Maße leiden mußten. Durch den vom Deutschen Reich vom Zaun gebrochenen Krieg hatte allein die Sowjetunion 27 Mio. Opfer zu beklagen - das entspricht einem Drittel der heutigen Bevölkerung Deutschlands - Polen rd. 5,8 Mio., davon etwa 3 Mio. polnische Juden.

Angesichts der erdrückenden historischen Fakten zu meinen, die Versöhnung mit unseren östlichen Nachbarn sei ein Akt deutscher Gnade, als seien noch „Rechnungen offen“ oder die Aufrechnung der gegenseitig verübten Verbrechen vor und während des Krieges würde nach 70 Jahren noch zu irgend einem sinnvollen Ergebnis führen, ist m. E. fernab jeglicher Realität. Wir Deutsche haben allen Anlaß, dankbar zu sein, daß wir wieder als geachtetes Mitglied in die Völkergemeinschaft aufgenommen worden sind, obgleich das Deutsche Reich seinen Nachbarn den barbarischen „Vernichtungskrieg“ aufgezwungen und dabei, wie erst nach und nach ans Licht kam, insbesondere gegenüber den östlichen Völkern keine Grausamkeit ausgelassen hatte.

Dem Grundsatz „Vertreibung ist Unrecht“ wird sicherlich niemand widersprechen, er ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Weit mehr Gewicht hat in der Geschichte das seit Jahrtausenden unter der Menschheit angewandte „Recht des Stärkeren“.
Das mag zwar bedauerlich und mit den Prinzipien einer rechtsstaatlichen Zivilisation nicht zu vereinbaren sein, ist jedoch eine Tatsache. Auch Hitler hatte schon vor Kriegsbeginn in der Tschechoslowakei dieses „eherne Gesetz“ für sich beansprucht. Daß er wenige Tage vor dem Überfall auf Polen den Staat zwischen sich und seinem Erzrivalen Stalin vertraglich aufteilte, ist für unseren Nachbarn mehr als eine geschichtliche Episode, es ist eine bittere Erfahrung, die Norbert Tarsten in seiner Analyse wie so viele andere Fakten nicht einmal für erwähnenswert hält.

Zusammenfassend stellt der Artikel sicherlich keinen Beitrag zur Versöhnung dar, was vermutlich auch nicht in der Absicht des Verfassers lag. Die ausschließlich rückwärts orientierte Betrachtung des deutsch-polnischen Verhältnisses halte ich für bedauerlich und weder sinn- noch hilfreich, zumal sie absolut willkürlich und unvollständig ist und insoweit letztendlich keinerlei Aussagekraft besitzt. Unsere Chancen liegen vor uns, d. h. in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit! Und die Zukunft kann nur Aussöhnung mit Polen heißen anstatt gegenseitiges Aufrechnen der zahllosen Kriegsverbrechen auf beiden Seiten. Selbstverständlich bedeutet Versöhnen auch Erinnern und Ermahnen, aber die am Ende des Beitrages angesprochene Erinnerungskultur darf nicht nur ein partielles Erinnern sein, bei dem lediglich das selbst erfahrene Leid beklagt, das dem Nachbarn zugefügte Unheil jedoch völlig außerhalb der Betrachtung bleibt, wie im Artikel „Vertreibung ist Unrecht“ geschehen.

Seit ich 2003 im Rahmen der Gedenksteinweihe auf dem ehemaligen ev. Friedhof in meiner Heimatstadt Tirschtiegel/Trzciel unseren Freund Tomasz Czabanski und seinen Verein POMOST („Die Brücke“) kennengelernt habe, ist er für mich persönlich das beispielhafte Vorbild für aktive und gelebte Versöhnung zwischen unseren Völkern und Ländern. Er hatte sich schon vor 20 Jahren als praktizierender Christ die Aufgabe gestellt, die bei Kriegsende im freien Gelände verscharrten Körper toter Soldaten und Zivilpersonen in Polen zu finden, zu exhumieren, mit kirchlichem Segen auf Sammelfriedhöfen beizusetzen und, sofern möglich, den noch lebenden Angehörigen mit Hilfe der Erkennungsmarke eine entsprechende Information über die endgültige Ruhestätte zukommen zu lassen. Für sein Engagement mußte er im eigenen Land anfangs mancherlei persönliche Nachteile bis hin zum Arbeitsplatzverlust in Kauf nehmen, hat sich aber dennoch von seinem selbst gewählten Weg nicht abbringen lassen. Wenn er die Gebeine eines deutschen Soldaten ausgräbt, fragt er sicher nicht vorher, ob jener möglicherweise zu Lebzeiten vor 70 oder mehr Jahren Verbrechen an seinem Volk begangen hat, um ihn dann liegen zu lassen – nein, er handelt und erfüllt seine Aufgabe. Für sein Engagement kann man ihm und dem Verein POMOST nicht oft genug dankbare Anerkennung zollen.




Vertreibung ist Unrecht - Fortsetzung der Überlegungen
Norbert Tarsten


Eine Auswahl von Zitaten oder die Nennung von historischen Bezügen birgt stets die Gefahr mißverstanden zu werden. Mir wird eine Tendenz unterstellt, die an der eigentlichen Absicht, das Thema Vertreibung im Jahre 2015 anzusprechen, vorbeistreift.
Wenn der Verfasser des Beitrags im letzten Heimatgruß (Nr. 215 - S. 45ff) - Albrecht Fischer von Mollard - mit seinen Ausführungen eine notwendige Ergänzung für notwendig hält, so kann man ihm nur zustimmen und dankbar sein. Die Überschrift meines Beitrags lautete aber nicht: Kriegsvorbereitung, Kriegsverlauf, sondern ich konzentrierte mich auf ein Phänomen der Kriegsfolgezeit: Vertreibung

Jedes der genannten Themen ist komplex genug, um gesondert im Rahmen eines Meinungsaustausches auch in der Heimatzeitschrift behandelt zu werden. Dabei geht es leider nicht ohne Kürzungen. Kausalrechtfertigungen - hier: Vertreibung - gekoppelt mit der Theorie der Kollektivschuld lehne ich ab. Sie scheinen mir schlechte Säulen einer humanen Verständigung auf dem Wege zur Versöhnung zu sein. Durch ihre Gewichtung bergen sie Ansätze auch für neue Ungerechtigkeiten. Breit macht sich eine Tendenz, autorisierte Meinungen zu übernehmen, dabei Fakten nicht zur Kenntnis zu nehmen, um medienwirksam glänzen zu können.
Mit der Auswahl der Zitate beweist Albrecht Fischer von Mollard die Fähigkeit, zur Stützung der eigenen Auffassung entsprechende Belege zu finden. Weniger geht es ihm dabei darum, ob sie einen Bezug zum Thema haben.
Die von mir zitierten Stimmen haben einen realen Bezug zur Wirklichkeit nach 1945 gefunden; in der Gegendarstellung ist dies nicht der Fall.
Wäre es nicht nur wünschenswert - aber auch möglich, in einer Darstellung zunächst einen Prozeß ohne Aufrechnung darzulegen, diesen dann zu beurteilen, um weitere Maßnahmen ergreifen zu können. Predigerschulen empfehlen da möglicherweise auch anderes Vorgehensweise.

Tatsachen darzustellen – so wie sie waren – nah an den historischen Ereignissen und nicht im Geiste einer im Nachhinein gesetzten Moral, erfordern auch eine unabhängige Wissenschaft, die nicht im Auftrage der Herrschenden und zum politischen Nutzen der Gegenwart tätig ist. Dies bleibt bedauerlicherweise ein Wunsch. Leider ist die Landgewinnung und -behauptung (Nutzung) durch Vertreibung der Bevölkerung weiterhin ein Mittel der Politik im 21. Jh. Diese läuft nicht ohne staatliche bzw. auch philosophische Grundlagen; eine Art Legitimation für das verbrecherische Handeln.
Die Überschrift umfaßt bereits ein sehr komplexes Thema, das durch die Ereignisse besonders des Jahres 2015 eine brandaktuelle Geltung bekam. Gemeinschaftlich versucht Europa dagegen anzugehen. Die Ergebnisse sind enttäuschend für Betroffene. Das Vorgehen gegen das Verbrechen der Vertreibung stände auch im Einklang mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die UN.

Wenn die große Vertreibung von 1945 nicht als Unrecht an Millionen von Menschen in Mitteleuropa verstanden wird, bleibt nicht nur eine Art Opferkonkurrenz bestehen, sondern auch die genannte Erklärung stellt sich im Nachhinein als verfehlte Illusion dar. Dem Autor des Beitrags - Albrecht Fischer von Mollard - würde ich in der Auffassung zustimmen.
Chancen für eine Zukunft, die besser sein soll als die Vergangenheit, muß eine Annäherung zwecks Versöhnung vorangehen. Auf das Verhältnis zu Polen bezogen, ist es sehr wichtig; allerdings verabscheuen die Polen Anbiederungen.
Ein Sprichwort macht da die Runde: Spuck ihm ins Gesicht und er meint: Es ist Regen. (im Original: Pluj mu w twarz, a powie ze deszcz pada.) Das Erinnern ist wichtig, davon machen auch Autoren, Politiker, Journalisten, Geistliche u.v.a. Gebrauch. Dabei darf nicht vergessen werden, daß dieses Prinzip des Umgangs mit Fakten für beide Seiten insbesondere in einer Nachbarschaft gelten sollte.
Auffällig scheint mir in der Haltung des Autors - indirekt die Beanspruchung der„ Gnade der späteren Geburt“. Erkennbar ist dies in der Anwendung der modernen Merkmale des Umgangs mit der deutschen Vergangenheit. Die biblische Überlieferung scheint in Vergessenheit geraten zu sein: Wer ohne Schuld ist, werfe als erster den Stein.
Die Erinnerungskultur in unserer pluralistisch konzipierten Gesellschaft ist stets auch eine Angelegenheit, die zur Auseinandersetzung herausfordert. Die Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat ist Vergangenheit, über die aber debattiert und auch gestritten wird. Der Zwei-Plus -Vier-Vertrag hat diesbezüglich keine Verbote verhängt. Das Junktim bei der Vereinigung ist bekannt.
Fundamentale Wahrheiten über die Vertreibungen der Deutschen, wie und warum sie geschahen, werden neuerdings verschwiegen. Unrecht muß man Unrecht nennen.

Am 18. November 2015 jährte sich zum 50.sten Male der Tag der Übergabe des Hirtenbriefes der polnischen katholischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder in Rom am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils.
Weder in Tschenstochau, wo die Vertretung der deutschen Bischofskonferenz mit den polnischen Bischöfen des Ereignisses gedachten, fiel das Wort Vertreibung.
Auch im Dom-Forum in Köln, wo man den Teil der Briefes ausgestellt hatte, der die bekannte Wendung enthält: „Wir vergeben und bitte um diese“ fiel das Wort Vertreibung. Redner beider Seiten vermittelten bei dieser Präsentation des von einer Ausstellung aus Polen zurückgekehrten Briefes den Eindruck, es ging den polnischen Bischöfen 1965 um die Anerkennung der Oder- Neiße-Linie als polnische Westgrenze, dies als Voraussetzung für eine Verständigung und Versöhnung. Erneut erfuhren polnische Gläubige nicht, welche Gründe die polnischen Bischöfe 1965 hatten, im Namen aller Polen die Deutschen um Verzeihung zu bitten.
Ob die verdienstvolle Arbeit des polnischen Kardinals Hlond von 1945 bei der Errichtung der kirchlichen polnischen Verwaltung in den „wiedergewonnenen Gebieten“ Tabu bleiben soll, steht hier als Frage? Empfindsamkeiten oder die Rücksichtnahme darauf bleiben wohl weiterhin Hindernisse für eine gute Verständigung und Versöhnung zwischen den Nachbarländern.

Das Verschmerzen des Heimatverlustes infolge der Vertreibung fällt nicht leicht, zumal die Hintergründe für die Aufnahme des Themas Vertreibung für einen Beitrag in der Heimatzeitschrift uns nunmehr täglich präsentiert werden, füllen somit weiterhin unser Gedächtnis; abgesehen von Vergleichen, die gelegentlich auch von Politikern gezogen werden. Sie bleiben nicht ohne Widerhall. Da brachte schon einmal jemand die Erkenntnis zum Ausdruck: Dein Gedächtnis ist dein größter Feind!