Reiseeindrücke einer Polenfahrt im Goldenen Oktober 2014
Text und Fotos: Dr. Martin Sprungala


Seit ich 1981 meine Schulabschlußfahrt nach Polen unternommen habe, hat mich das Land nicht mehr losgelassen, dabei war mein Interesse damals die Geschichte des Altertums und auch eine Fahrt nach Rom wurde angeboten.
Aber Polen war 1981 sehr spannend: das Tauwetter im Ostblock, die Gewerkschaft Solidarnosc, der polnische Papst, aber auch das drohende Kriegsrecht und eine mögliche Intervention der UdSSR. So wählte ich Polen. Ebenso 1986 als Studienreise der Universität, um zu sehen, was das Kriegsrecht aus dem Land gemacht hatte. Damals kam in der Familie die Frage auf: „Woher stammt der Opa?“ Und mein Vater und mein Onkel schickten mich auf Spurensuche, die mich dann letztlich auch in die Posener Heimat meiner Vorfahren führte und zur Doktorarbeit über die Geschichte dieser Region im mittelalterlichen Glogauer Grenzgebiet.
Seither ist viel Zeit vergangen, das Fremde ist gewichen und Polen und seine Menschen wurden mir vertraut. In diesem Jahr kam dann die inzwischen 50. Fahrt, das goldene Jubiläum, zustande und das strahlende Sonnenwetter machte aus diesem Oktober einen wahrhaft goldenen Oktober. In Breslau (Wroclaw) sagte man mir, diesen Begriff kenne man in Polen auch, dort nenne man ihn aber goldenen polnischen Oktober, und er lachte über diesen für Polen so typischen kleinen Nationalstolz. Der Vater eines Schulfreundes, der schon lange einmal wissen wollte, was ich denn immer in Polen suche, wollte mitkommen, um selber einmal die schlesische Heimat seines Großvaters kennenzulernen. Diese beiden Wünsche haben wir im großen Maße erarbeitet. Etwa 30 Dörfer und 20 Städte haben wir im Posener Land und in Schlesien besucht.
Man sollte ruhig mal auf die Idee kommen abseits der Städte und Hotels zu logieren. Wir hatten in Miastko (Städtel, Kr. Lissa, fr. Fraustadt) unser Quartier in einer sehr guten Ferienwohnung, die ganz dem westlichen Standard entsprach. Im Vergleich zu den von uns zuerst ins Auge genommenen Hotels kostete unser Quartier hier nur ein Viertel pro Person und im Nachbarort Brenno hatte jeden Tag ein Lebensmittelgeschäft geöffnet. So brauchte man das Geld nicht einfach „verschlafen“, sondern konnte es ins Reisen und Besuchen investieren.

Von hier aus erkundeten wir das Primenter Klosterland. Das einst in Fehlen (Wieleñ Zaobrzañski) und Priment (Przemêt) beheimatete kleine Zisterzienserkloster verfügte über ein großes Gebiet „im Glogauer Grenzwald“, der 1343 durch König Kazimierz III. dem Großen zu Polen kam. Hier lebten meine Vorfahren seit 1278 als deutsche Untertanen des polnischen Königs. Wie stets in Polen komme ich nicht davon, ohne zu arbeiten. Dieses Mal waren es zwei Aufträge, die ich zu erledigen hatte. Der erste war eine Führung von Schülern aus Schlawa (Slawa) durch ihre Heimatstadt unter der Leitung der Lehrer Roman Frankiewicz (Geschichte) und Przemyslaw Zielnica (Deutsch).

Die zweite Aufgabe war ein Vortrag mit alten deutschen Familien- und Personenfotos aus dem Primenter Klostergebiet in der Gemeindebibliothek in Weine (Wijewo, Kr. Lissa). Die Direktorin war erfreut darüber, daß bei dieser Veranstaltung doppelt so viele Zuhörer, zudem aus drei Landkreisen, zu dem Vortrag kamen und anschließend eine lebhafte Diskussion stattfand.
Natürlich fragte ich mich bei meinen Fahrten durch mir bereits bekanntes Gebiet: Was gibt es Neues? Das Auffälligste ist natürlich die bereits früher feststellbare Omnipräsenz des polnischen Papstes. Wie andersartig der polnische Katholizismus ist, konnten wir bereits im Wallfahrtsort Swiebodzin feststellen.
Die einst evangelische Stadt Schwiebus ist heute ein Hort des Katholizismus. Nach der politischen Wende in Polen (1989) begann der erst kürzlich verstorbene örtliche Pfarrer, Sylwester Zawadzki (1932-2014) mit dem Aufbau des Sanktuariums der Barmherzigkeit Gottes, das auch ein Ort der Marienverehrung ist, südlich der Altstadt.
Dank zahlreicher Spenden aus aller Welt wurde hier 2010 die höchste Christusstatue der Welt errichtet, die ihren Blick nach Westen, nach Deutschland richtet.

St. Josef-Kirche mit Marmorstatue Johannes Paul II Das 35 Meter hohe Bauwerk der Christus- König-Statue (Pomnik Chrystusa Króla) ist zwei Meter höher als der „Cristo de la Concordia“ im bolivianischen Cochabamba und sechs Meter höher als der „Cristo Redentor“ im brasilianischen Rio de Janeiro, wenn man die Sockel bzw. Hügel außer Acht läßt, auf denen sie stehen.

Auch im Osten Wollsteins findet man ein neu errichtetes Kirchenzentrum, die St. Josef-Kirche mit einer großen Marmorstatue Johannes Paul II.
Bis heute sind die Kirchen gut besucht, auch mit jungen Leuten. Zwar gibt es inzwischen viele Klagen darüber, daß die Gläubigkeit, vor allem der Jugend, rückläufig sei, aber es ist doch ein noch immer deutlich erkennbarer Unterschied gegenüber Deutschland.
Und, was jedem auffällt, ist der Personenkult um Maria und die Heiligen, vor allem der erst im April 2014 heiliggesprochene polnische Papst Johannes Paul II. (Karol Wójtyla), dem fast in jeder größeren Kirche inzwischen eine Statue gewidmet ist, ganz zu schweigen von Straßen und Plätzen, die nach ihm benannt wurden.

Denkmal für die Aufständischen von 1919, Rathaus Wollstein (Wolsztyn)Eine weitere Auffälligkeit sind nationale Denkmäler, die seit Jahren - wie vor der Meseritzer Burg - auch dort gesetzt werden, wo sie historisch nichts zu suchen haben, so z. B. ein Denkmal für zwei Kämpfer des Großpolnischen Aufstands in dem deutschen Dorf Schussenze (Ciosaniec, Kr. Bomst).

Ein neues Denkmal für die Aufständischen von 1919, einen bronzenen Soldaten mit Fahne, konnte ich vor dem Rathaus in Wollstein (Wolsztyn) entdecken.
Dies ist vollkommen in Ordnung, aber ich hätte mir gewünscht, daß in Schwenten/Swiêtno auch mal eine Tafel an den „Freistaat“ von 1919 erinnern würde - und nicht nur private Seiten polnischer Bürger im Internet.


Das Jahr 2014 erinnert an den Ausbruch des 1. Weltkrieges und bei den vielen Besuchen in den Posener Orten fielen uns auch diese auf. In der Pfarrkirche von Schussenze (Ciosaniec), die 2014 einhundert Jahre alt wurde, ohne daß man dies – trotz meines Hinweises – feierlich beging, entdeckte der damalige Pfarrer Remigiusz Król unter der alten Farbschicht im Hauptschiff alte Bemalungen. Es war eine gemalte Gedenktafel für die Opfer des 1. Weltkriegs aus dem gesamten Kirchspiel.

gemalte Gedenktafel, Pfarrkirche von Schussenze (Ciosaniec)Diese hat er wieder restaurieren lassen. Solche Gedenktafeln fanden wir in vielen Orten am Kirchengebäude oder innen: in der ehemaligen evangelischen und auch der katholischen Kirche in Wollstein, in Bukwitz und Luschwitz (Bukowiec Górny i Wloszakowice, Kr. Lissa, fr. Fraustadt). In dem Dorf Weine (Wijewo) befindet sich sogar das einzige mir bekannte Denkmal für den 1. Weltkrieg auf öffentlichem Grund.



Weitere Erkundungen führten uns in das Fraustädter Land, den westlichen Teil, der zuletzt zum Kreis Fraustadt (Wschowa) gehörte, und in den östlichen Teil, den Kreis Lissa (Leszno). Das sog. Fraustädter Land war eine Sonderverwaltungszone seit den Tagen Kazimierz III., denn hier lebten deutsche Bauern, Handwerker und Adelige nach ihrem alten angestammten deutschen Recht, das der König ihnen auch weiterhin gewährte.

Natürlich gehörten dazu auch Besuche in den Posener Städten Lissa (Leszno) mit der Kleinstadt Reisen (Rydzina), Wollstein (Wolsztyn), das seit Jahren seines berühmten Bewohners Dr. Robert Koch gedenkt, Unruhstadt (Kargowa), Rakwitz (Rakoniewice) bis hin nach Posen (Poznañ) selbst.

alte Fachwerkkirche SchwentenAuch eine Fahrt in den südlichen Teil des Kreises Meseritz gehörte zu unserem Reiseziel.
Früh morgens ging es los. Erst einmal besuchten wir das Dorf Schwenten (Swietno), das im Jahr 1919 von sich reden machte, weil sein Pastor hier einen Freistaat ausrief, sich auf die Punkte von US-Präsident Wilson berufend, denn das „Volk von Schwenten“ wollte bei Deutschland bleiben. Und es gelang: im Juni 1920 entschied die Entente-Grenzkommission des Versailler Friedensvertrages, daß Schwenten bei Deutschland bleiben konnte. Daran und an das nationale Gepräge der Zeit bis 1945 im Dorf sind heute im polnischen Swietno natürlich keinerlei Spuren mehr zurückbehalten. Nur die alte Fachwerkkirche erinnert an die einstigen evangelischen deutschen Siedler dieses Dorfes.


Klosteranlage Obra


Als nächstes suchten wir das benachbarte Klosterdorf Obra mit seiner Klosteranlage auf. Dann ging es weiter nach Unruhstadt, dessen namensgebende Gründer aus der großen Gutsherrschaft Birnbaum stammten. Nach einer kleinen Brotzeit am Linier See erreichten wir Bomst (Bomst).

BomstDie kleinen flachen Häuser der ehemaligen Bomster Neustadt erinnern noch immer daran, daß hier im 17. Jahrhundert Glaubensflüchtlinge aus Schlesien angesiedelt wurden, die ihr Brot vor allem als Tuchmacher und Weber verdient haben.
Die alte evangelische Neustädter Kirche steht heute leer und wird schon sehr marode. Ganz anders die natürlich noch immer genutzte Stadtkirche am Marktplatz von Bomst.
Babimost rühmt sich heute, ein Zentrum der polnischen Musikkultur des Ziegendudelsacks zu sein, auch wenn einem der Verdacht kommt, daß diese Tradition erst nachträglich in kommunistischer Zeit hierher verpflanzt wurde, um im weitgehend deutsch besiedelten Raum des Kreises Bomst zu belegen, daß dieses Gebiet immer schon polnisch war.
Nicht deutsch, dafür aber in weiten Teilen des ehemaligen Preußen sprichwörtlich bekannt waren die Dörfer nördlich von Bomst, Groß und Klein Posemukel. Auch wenn heute der Name Podmokle lautet, machten wir am Ortseingang ein Foto, um sagen zu können, wir sind über Posemukel gekommen. Damit verließen wir den alten Kreis Bomst und betraten den südlichen Kreis Meseritz.

Holzkirche KuschtenUnsere erste Station hier war Kuschten mit seiner beeindruckend schönen schwarz gestrichenen Holzkirche. Hier fanden wir noch alte Gräber von Pastoren, so mit der Aufschrift: „Vereint in Gott ruht hier der hochwürdige Pfarrer von Kuschten, Otto Golombek, geb. 12. Nov. 1888, gest. 8. Febr. 1921“. Weiterhin sind zwei weitere Pfarrergräber zu finden: von Joseph Wirth (1814-1889), der seit 1844 hier tätig war, und der 2004 verstorbene Bomster Dekan Antoni Sroka (1925-2004).

In Kuschten war auch Adalbert Reiche (1867-1936) aus Falkenwalde (Sokola Dabrowa) im Kreis Schwerin von 1898 bis 1904 tätig, dessen Ehrengrab in Schussenze (Ciosaniec, Kr. Bomst) wir ebenfalls gesehen haben. Reiche war von 1904 bis zu seinem Tod im Primenter Klosterdorf Schussenze Pfarrer und Dekan des Dekanats Fraustadt. Seine Hauptarbeit war die Erneuerung der Schussenzer Kirche, die in diesem Jahr vor 100 Jahren eingeweiht worden ist.
Natürlich sahen wir auch den zweisprachigen Gedenkstein der ehemaligen Bewohner von Kuschten und das ziemlich marode wirkende Gutshaus mit der modernen Industrieanlage nebenan.

Schloß Neudorf bei Bentschen Wir suchten nun den Weg zum Schloß Neudorf am Bentschener See, doch der dorthin ausgewiesene Weg entwickelte sich zu einem holprigen Feldweg, so suchten wir eine andere Route, die wir erst kurz vor Bentschen fanden.
Entlang des langgezogenen großen Bentschener Sees ging es über wieder sehr schlechte Wege nach Schloß Neudorf. Das ehemalige Schloß der Grafen zur Lippe, zuletzt der Familie v. Rosenberg, war durch Zäune gesichert und auch der Versuch es zu umgehen scheiterte. Der von der Sammlung Duncker bekannte Anblick vom See war nicht zu finden. Erst zuhause erfuhr ich, daß der heutige Eigentümer der Fabrikbesitzer aus Siedlec (Kr. Wollstein) ist. Er hat das Schloß für seine Familie gekauft, doch die wollte dort nicht wohnen. Nachdem Schloß Neudorf eher ein Reinfall war, kam uns der Zufall zur Hilfe, als wir die alte, bekannte Holzkirche von Klastawe auf unserem Weg entdeckten und sofort besichtigen wollten.

Holzkirche von KlastaweAuch wenn wir auf dieser Fahrt stets überraschendes Glück hatten und viele Kirchen offen waren oder gar uns aufgeschlossen wurden, hier hatten wir dieses Glück nicht, obwohl hier gearbeitet wurde.
Mein Begleiter war entsetzt, daß die Arbeiter einfach Feierabend machten und alles stehen und liegen ließen, auch die offene Kreissäge. Das hätte er sich in seiner Firma als Schreiner nie erlauben dürfen, stellte er fest.
In Bentschen parkten wir vor der Innenstadt und besuchten den Marktplatz, der so ganz anders aussah als die bisher üblichen. Das übliche Bild war ein Platz und mitten darauf das Rathaus. Die Kirche stand immer abseits. Hier war es anders und die Kirche dominierte den Marktplatz.
Beim Rundgang entdeckten wir an der Obra ein Denkmal für einen Kanuten – dachten wir. Schon beim Näherkommen kam mir dessen Gesicht so bekannt vor. Es war Papst Johannes Paul II., der einst auch auf der Obra gerudert war. Endlich mal ein originelles Denkmal, dachten wir bei uns angesichts der in Überzahl vorhandenen winkenden Papststatuen: ein in sich gekehrt wirkender Ruderer.

Nach einem weiteren Bummel und Besuch der Apotheke, denn eine hartnäckige Erkältung versuchte uns die Freude an diesem goldenen Oktober zu vermiesen, mußten wir uns auf den Rückweg machen, denn an diesem Tag stand der Vortrag in der Gemeindebibliothek an.
Kirche am Bentschener MarktDen letzten Teil der Reise bildete die Fahrt nach Niederschlesien. Unsere Besuche in Schlesien waren oftmals Neuland und auch deshalb schon sehr interessant, vor allem, weil man hier auf eine ganz andere Geschichte trifft, denn Schlesien war Teil des Heiligen Römischen Reiches und unterstand der Böhmischen Krone, die zuletzt in österreichisch-habsburgischer Hand war.

Man findet hier viel weniger polnische, dafür mehr deutsche Geschichte. Unsere Ziele waren die Landeshauptstadt Breslau, der Hauptverwaltungssitz Liegnitz und viele kleinere bis größere Orte wie Wahlstatt (Legnickie Pole), der Ort der Mongolenschlacht von 1241, Groß Rosen, das schreckliche schlesische Konzentrationslager, die Städte Jauer und Schweidnitz mit ihren berühmten Friedenskirchen, zudem ein Ausflug ins Riesengebirge nach Hirschberg, Krummhübel mit der bekannten nordischen Stabkirche Wang mit Blick auf die Schneekoppe.

Freidenskirche Schweidnitz Polen lohnt sich als Reiseziel, wenn man mit offenen Augen und etwas Wissen um die Geschichte hierhin fährt. Man braucht keine Fernreisen, um Altbekanntes und Neues hier zu entdecken, wie mein Begleiter feststellte. Vieles, was er an deutschen Kulturdenkmälern bereits anderswo entdeckt und bewundert hatte, konnte er auch hier entdecken.