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Spurensuche - die Schriftstellerin Inge Deutschkron besucht Pszczew/Betsche
Wanda Strozczynska
Im Gemeinde-Kulturhaus klingelt das Telefon. Es
ist ein Anruf aus Berlin, am Apparat eine Dame
von der „Stiftung Inge Deutschkron“, die den Besuch
von Inge Deutschkron und einigen Vertretern
ihrer Stiftung (insgesamt 5 Begleitpersonen)
in Pszczew ankündigt und um Hilfe bei der Organisation
und Gestaltung des Aufenthaltes bittet.
Die Leiterin des Kulturhauses, Frau Wanda
Zagun, kommt dieser Bitte gerne entgegen. Ein
Termin, der 19. Oktober 2015 mit Übernachtung
und Verpflegung bei Zaneta
und Lukasz Robak auf dem
„Folwark“ (dem ehemaligen
Betscher Gut) wurde vereinbart.
Der 19. Oktober war ein
trüber Herbsttag mit frischem
Wind vom See. Ein Kleinbus
mit den Gästen aus Berlin fuhr
vor dem „Folwark“ vor.
Lukasz Robak, der Hausherr,
begrüsste herzlich die Gäste,
besonders den prominenten
Gast, Frau Inge Deutschkron,
die sich mit ihren 92 Jahren
auf den Weg nach Betsche
aufgemacht hatte, den Geburtsort
ihres Vaters. Die zierliche
Dame ist sehr neugierig
und aufgeschlossen.
Ich begrüsste Frau
Deutschkron mit einem kleinen Herbststräußchen
und erinnerte sie an unsere Begegnung vor einigen
Jahren in Berlin. Ich besuchte damals die Vorstellung
ihres Theaterstücks „Ab heute heißt du
Sara“ im Grips-Theater. Das Stück und die Theateraufführung
haben mich sehr beeindruckt. In der
Pause hatte ich die Gelegenheit, mich kurz mit der
Autorin, die bei der Aufführung anwesend war, zu
unterhalten.
Ich war auch sehr erfreut, Herrn Benjamin
Deutschkron, den Sohn von Leonhard Deutschkron,
mit dem ich über viele Jahre im freundschaftlichen
Kontakt stand (er ist vor zwei Jahren in Israel,
wo er lebte, gestorben) unter den Gästen zu
begrüssen. Er lebt mit seiner Familie in der
Schweiz, ist Professor an der Universität in Lausanne.
Zu den weiteren Gästen gehörte auch Herr
André Schmitz, Vorstandsvorsitzender der
Schwarzkopf-Stiftung „Junges Europa“.
Frau Inge Deutschkron betonte in ihrer Begrüssung,
daß Sie sehr glücklich ist, hier zu sein,
um den Ort, an dem ihre Vorfahren gelebt haben,
kennenzulernen. Hier in Betsche ist ihr Vater Martin
Deutschkron geboren, der ihr viel von seiner Kindheit
und Jugendzeit erzählte, auch von Meseritz
und seiner Schulzeit in dem dortigen Gymnasium.
Nach dem Mittagsessen in den sehr schön
renovierten Räumen der alten Brennerei wurde der
Kaffee serviert. Lukasz Robak zeigte eine Power
Point-Präsentation über Betsche /Pszczew und die
Umgebung. Darunter viele Fotos von Leonhard
Deutschkron, dem Cousin von Inge Deutschkron,
während seiner Besuche in Pszczew.
Dabei waren auch Aufnahmen von der Einweihung
des Gedenksteines am jüdischen Friedhof
im Jahr 1985. Leonhard Deutschkron reiste
damals aus Israel an, um bei der Feier dabei zu
sein. Er hielt eine Gedenkrede und ein Gebet in
aramäischer Sprache.
Seinen Sohn Benjamin haben diese Fotos
sehr berührt.
Ein Ritt in die Vergangenheit
Anschließend unternahmen wir eine Kutschfahrt. Wir fuhren durch die Straßen und Gassen, an den Häusern der ehemaligen jüdischen Besitzer vorbei.
Dank der wunderbaren und sehr unterhaltsamen Lektüre von Dr. Erich Binder, der die Geschichte seiner Familie, die hier lebte, aber auch seine Erinnerungen an die vielen Betscher niedergeschrieben hatte, konnte ich einiges zu den einzelnen Häusern und den jüdischen Familien, die dort lebten, erzählen:
Zamkowastraße/ Schloßstraße, neben der Tankstelle:
ein kleines jüdisches Häuschen
Posener Straße, Eckhaus am Markt: Familie Georg Deutschkron, Großvater von Benjamin Deutschkron
Posener Straße, in der Nähe der Kirche: Gasthof/Hotel, Familie Treitel
Posener Straße: Siegbert Schlessinger, Händler von Tierfellen, ein begnadeter Skatspieler, Spielpartner des Grafen Wilhelm zu Dohna
Kirchstraße, Eckhaus (Backsteinhaus): Simon Deutschkron, Großvater von Inge Deutschkron
Kirchstraße, linke Seite: Familie Treitel (Obst- und Gemüsehändler)
Kirchstraße, rechte Seite: Mietshaus der Fam. Luis Treitel, mit einem Obst- und Gemüsegeschäft
Am Markt, rechte Seite: Haus der Familie Rychwalski
(Schneidermeister, 1940 umgekommen in Auschwitz)
Ziegenstraße: Rosa Bernstein, Einfamilienhaus und Süsswarengeschäft
(existiert nicht mehr)
Meseritzer Straße: das jüdische Bethaus, Synagoge
Während der Kutschfahrt wurde natürlich viel fotografiert,
um all die Spuren und Eindrücke festzuhalten.
Wir kamen auch am jüdischen Friedhof und dem
Gedenkstein vorbei. Danach ging es weiter zum
Heimatmuseum „Dom szewca“ „Schusterstube“
am Marktplatz. Dort wurden die
Berliner Gäste schon erwartet
und von Frau Wanda Zagun,
Herrn Krystian Grabowski,
dem stellvertretenden Bürgermeister
und dem Direktor des
Meseritzer Museums, Herrn
Andrzej Kirmiel begrüsst.
In den Räumen des Heimatmuseums
war es sehr angenehm
warm (alle waren von
der Kutschfahrt doch etwas
ausgekühlt), die Exponate sehr
schön ausgeleuchtet. Inge
Deutschkron und ihre Begleitung
zeigten ein großes Interesse
und Gefallen an den Ausstellungsobjekten
und Dokumenten.
Plötzlich blieb Frau Inge vor einem Foto stehen
und stellte erstaunt fest: „Aber das bin doch ich!“
Frau Wanda Zagun erklärte, daß die Ausstellung
„Betscher Juden“, die vor 30 Jahren erstellt wurde,
ein fester Bestandteil der Sammlung ist. Schnell kam Inge Deutschkron, die ein sehr aufgeschlossener
und kontaktfreudiger Mensch ist,
ins Gespräch. Sie erzählte von ihrer Familie und
aus ihrem Leben.
Inge Deutschkron ist am 23. August 1922 in
Finsterwalde (Brandenburg) geboren. Sie wächst
in Berlin auf. Ihr Vater Martin ist sozialdemokratischer
Gymnasiallehrer. Von 1933 an verfolgen die
Nazis die jüdische Familie, der Vater wird entlassen.
Ihm gelingt kurz vor dem Krieg die Flucht nach
England. Seine Tochter muß wegen ihrer jüdischen
Herkunft 1939 die Schule mit Mittlerer Reife verlassen.
Die Ausgrenzung, Verfolgung der Juden bestimmte
das Leben. Der gelbe Stern wurde verordnet.
Sie versuchte ihn, damals elfjährig, mit Stolz
zu tragen. Doch der Stern isolierte sie auf der
Straße schauten die Menschen weg.
Bis zum Jahr 1942 arbeitete sie als Bürohilfe
in der Blindenwerkstatt von Otto Weidl. So
bekam sie Lebensmittelkarten, die halfen zu überleben.
Doch die Repressalien, die Deportationen
nahmen zu und kein Ende. Goebbels erklärtes
Ziel „Berlin muß judenfrei sein“, sollte eingelöst
werden.
Inge und ihre Mutter hatten Glück. Sie wurden
von guten Freunden im Versteck bis zum
Kriegsende gehalten. Die Angst, entdeckt zu werden,
die Kriegsbilder und Erlebnisse kommen
immer wieder hoch, doch da ist auch das tiefe
Gefühl der Dankbarkeit den Menschen gegenüber,
die ihr Leben riskiert haben, um zu helfen,
um sie und ihre Mutter vor dem Tod zu retten.
Nach dem Kriegsende ging Inge mit ihrer
Mutter nach England zum Vater. Sie studierte Anglistik
und Hebraistik. Nach dem Studium arbeitete
sie als Journalistin und Korrespondentin für die
israelische Zeitschrift „Maariv“. Sie kam viel in der
Welt herum, lebte auch viele Jahre in Tel Aviv. Ihre
Autobiographie „Ich habe den gelben Stern getragen“
diente als Textvorlage für das Theaterstück
„Ab heute heißt du Sara“, das vom Grips-Theater
in Berlin mit großem Erfolg ins Szene gesetzt wurde.
Zurück in die Gegenwart
Frau Deutschkron lebt jetzt in Berlin und ist trotz
ihres stolzen Alters immer noch sehr aktiv.
Sie ist Gründerin der Gedenkstätte für Otto
Weidl, der mit seiner Blindenwerkstatt das Leben
vieler Juden gerettet hatte, auch ein Platz in Berlin
wurde nach ihm benannt.
Sie setzt sich dafür ein, daß die Erinnerung
an die Menschen, die während der Nazidiktatur
Zivilcourage und Menschlichkeit gezeigt und Juden
und anderen Verfolgten geholfen haben, wach
bleibt. Sie gründete die „Inge Deutschkron Stiftung“. Das Ziel der Stiftung ist, der jungen Generation Informationen über den Nationalsozialismus zu vermitteln, um somit dem Wiederaufleben rechtsradikaler Tendenzen entgegenzuwirken, junge Menschen zu Toleranz und Zivilcourage zu ermutigen, aber auch das Andenken an die sogenannten „Stillen Helden“ wach zu halten; Menschen, die unter hohem persönlichen Einsatz den Verfolgten des Naziregimes geholfen haben.
Ein wichtiges Engagement sind die Besuche in den Schulen und die Zeitzeugen-Gespräche mit den Schülern. Inge Deutschkron wurde 2008 mit dem Carlvon- Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik ausgezeichnet. „Ihr Lebenswerk steht im Zeichen des fortdauernden Engagements für Demokratie und Menschenrechte“, so die Begründung der Jury, „und gegen alle Formen des Rassismus“. Ihr sei es gelungen, Erfahrungen der Verfolgung und des Widerstands gegen den Nationalsozialismus einem großen Publikum eindringlich zu vermitteln. Sie ist Trägerin der Louise- Schroeder-Medaille (u.a.).
2013 hielt Inge Deutschkron im Bundestag
anläßlich des Jahrestages der Auschwitz-Befreiung
eine beeindruckende und bewegende Rede.
Etwas erschöpft, aber zufrieden kehrten wir
zum „Folwark“ zurück; dort wartete schon das
Abendessen. Anschließend las ich einige Passagen
aus dem Buch von Dr. Erich Binder und seinen
Erinnerungen an die jüdischen Bewohner von
Betsche vor. Frau Inge und ihr Neffe Benjamin
Deutschkron hörten den Geschichten sichtlich
bewegt zu. Ja, plötzlich für einige Augenblicke war
die Vergangenheit wieder lebendig und so nah... Ein Gläschen „Biesam Wodka“ (Zubrowka) beschloß den ereignisreichen Tag. Inge Deutschkron erinnerte sich daran, wie sie diesen edlen Tropfen immer bei ihren polnischen Freunden genossen hatte. Am nächsten Tag nach dem Frühstück ging es zurück nach Berlin. Die Gäste bedankten sich herzlich für die Gastfreundschaft, für all das, was sie hier erfahren und erleben konnten - und sagten zum Abschied: „Wenn Gott will, kommen wir wieder!“.
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