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Das jüdische Erbe in Polen
Ein chinesischer Supermarkt in der Synagoge
Johanna Herzing
In Polen hat es in den vergangenen Jahren ein
wachsendes Interesse an der jüdischen Geschichte
des Landes gegeben, vor allem in den großen
Städten wie Warschau oder Krakau.
In Provinzstädten wie dem westpolnischen
Miedzyrzecz dagegen ist von der jüdischen Kultur
nicht viel geblieben. In der Synagoge der Stadt
befindet sich heute ein chinesischer Supermarkt.
Nein, zu dem Gebäude kann sie wirklich
nichts sagen. Die junge Frau auf dem Parkplatz
vor der Synagoge von Miedzyrzecz winkt ab, hebt
ihren kleinen Sohn auf die Rückbank ins Auto.
„Keine Ahnung. Ich bin hier einfach vorbeigekommen,
das ist ein Laden wie jeder andere.
Ich weiß nicht recht, was hier früher mal war.“
Der Sohn muß zum Arzt, sie hätten sich im
Laden einfach ein bißchen die Zeit vertreiben wollen,
sagt die Frau. Tatsächlich ist das Hinweisschild
zur Geschichte der Synagoge an der Frontseite
des grau verputzten Gebäudes recht unauffällig.
Das große rote Banner gleich daneben sticht da
schon eher ins Auge: Eine junge Chinesin, die Einkaufstaschen
schwenkt. „Großer chinesischer
Laden“ - ist da auf Polnisch zu lesen.
Eine automatische Schiebetür öffnet sich und
der durchdringende Geruch von Plastik, Klebstoff
und anderen Chemikalien beißt in der Nase. Eingerahmt
von Kinderspielzeug, Haargummis,
Geschenktüten und anderen bunten Dingen steht
eine chinesische junge Frau hinter der Kasse, ihre
polnische Kollegin lächelt freundlich, aber schüchtern.
„Ach, ich weiß doch gar nichts. Aber schauen
Sie doch, draußen steht doch die ganze Geschichte
von dem Gebäude. Ich weiß doch nichts,
nur, daß das früher ein jüdisches Gotteshaus war.“
Heute aber werden hier chinesische Importwaren
verkauft: rechts im Erdgeschosse stapeln
sich Schuhe, links hängt Unterwäsche von dezent
bis grell-pink. „Kürzlich waren Leute hier, wahrscheinlich
waren das Juden. Den einen Herren
hab’ ich dann gefragt, ob er böse wäre, daß es
jetzt dieses Geschäft hier gibt. Und er darauf: Nein,
denn wenn hier nichts wäre, hätte man das Gebäude
längst abgerissen.“
Ein frisch restauriertes Säulenportal mit zwei
goldenen Löwen inmitten des chinesischen Supermarktes
in der Synagoge von Miedzyrzecz. Die
Herrschaften hätten sich alles angesehen, vor allem
das Säulen-Portal weiter hinten im Laden.
Obwohl mehrere Meter hoch, ist es nicht ganz
leicht auszumachen, ein Treppenaufgang und unzählige
Kleiderständer und Regale versperren die Sicht. Erst unmittelbar davor stehend fällt der Blick
dann auf ein frisch restauriertes Säulenportal in
Marmoroptik, in dessen Giebel zwei goldene Löwen
thronen. Sie bewachen eine Reihe von fabrikneuen
Rollkoffern und den Notausgang. An
der Stelle, wo sich früher der Aron-ha-Qodesch,
also der Thora-Schrein befand, wurde schon vor
langer Zeit ein Durchbruch nach draußen gemacht.
„Nach dem Krieg wurde die Synagoge von
einem polnischen Unternehmen genutzt. In der
Hauptsache als Lagerraum. Damals hat man auch
eine Tür mitten durch den Aron-ha-Qodesch geschlagen,
so konnte man auf der anderen Seite
eine Flaschensammelstelle einrichten. Das Gebäude
war komplett in Benutzung. Im Jahr 2000/
2001 war es dann in einem so schlechten Zustand,
daß es einzustürzen drohte.“
Sagt Andrzej Kirmiel, Historiker und seit
2010 Direktor des Stadtmuseums von
Miedzyrzecz. Die Stadt hat Anfang der 2000er
Jahre angeboten, das Gebäude an die jüdische
Gemeinde im rund 150 km entfernten Stettin zurückzugeben.
„Aber als die Vertreter der Gemeinde dann
kamen und sahen in welchem Zustand die Synagoge
ist, wurde ihnen schnell klar, daß die Renovierung
sehr kostspielig werden würde. Dann hätte
man ja auch sofort Steuern zahlen müssen,
Grundstückssteuern und so weiter. Das wären
ungeheure Kosten gewesen. Dazu kommt: Wem
hätte die Synagoge denn überhaupt dienen sollen?
Wenn es keine Juden gibt, macht es keinen Sinn
die Synagoge für religiöse Zwecke zu renovieren.“
Tatsächlich existiert in Miedzyrzecz, dem
früheren Meseritz, keine jüdische Gemeinde mehr.
Machten Juden bis Mitte des 19. Jahrhunderts
noch rund 30 Prozent der Stadtbevölkerung von
Meseritz aus, nahm ihre Zahl bis zu Beginn des
20. Jahrhunderts stetig ab. Viele von ihnen zog es
damals in die Großstädte.
Von den Verbliebenen wiederum gelang es
einem verhältnismäßig großen Teil noch vor 1939
in die USA und andere entlegene Länder auszuwandern.
Alle übrigen Meseritzer Juden aber wurden
von den Nazis in die großen Ghettos von
Warschau und Lodz verschleppt und vermutlich
dort oder in den Vernichtungslagern ermordet.
Doch auch Meseritz selbst wurde zum Massengrab
im Zuge des sogenannten „Euthanasie-Programms“
ließen die Nazis Tausende Kranke und
Behinderte in der Heil- und Pflegeanstalt Obrawalde
ermorden. Bis heute befindet sich dort eine
psychiatrische Klinik.
Die Synagoge von Miedzyrzecz wiederum
kaufte vor ein paar Jahren ein Investor aus Posen,
der sie außen denkmalgerecht restaurieren,
im Innern aber stark umgestalten ließ. In
Miedzyrzecz sei heute nur noch von der „chinesischen
Synagoge“ die Rede, so Museumsdirektor
Kirmiel. Daß sie den Nationalsozialismus überdauert
hat, erklärt der Experte für jüdische Studien
so:
„Es gibt die weit verbreitete Vorstellung, daß
während der sogenannten Kristallnacht überall die
Synagogen niedergebrannt wurden. Das stimmt
aber nicht. In den großen Gemeinden ringsum,
Frankfurt (Oder), Landsberg an der Warthe, Grünberg,
dort ja, dort war die Synagoge ein Symbol
der jüdischen Gemeinde und als solche hat man
sie zerstört. In kleinen Orten aber, wie zum Beispiel
Meseritz mit seinen 11.000 Einwohnern vor
dem Krieg, blieben die Synagogen erhalten.
Die jüdischen Gemeinden hatten sie häufig
schon vor 1938 verkauft, weil sie nicht mehr viele
Mitglieder hatten und wegen der immer höheren
Steuern. Die hier in Meseritz wurde in der Kristallnacht
zwar verwüstet, aber das Gebäude blieb
erhalten und man hat es später als Lagerraum
genutzt.“
Auch der noch aus dem Mittelalter stammende
jüdische Friedhof etwas außerhalb der Stadt
überstand die Nazi-Diktatur und den Krieg. Doch
während des Kommunismus sei er schließlich aufgehoben
worden; die städtische Betonfabrik hätte
dort Kies gefördert, so Kirmiel. Seit diesem Jahr
erinnert auf sein Betreiben hin wenigstens ein Gedenkstein
an die Geschichte und Bedeutung des
Ortes. Die jüdische Tradition von Miedzyrzecz, sie
hat nach dem Holocaust und der antisemitischen
Kampagne der polnischen Kommunisten in den
späten 1960er Jahren nur noch Museumscharakter.
„Zur Zeit lebt in Miedzyrzecz noch eine Familie
jüdischer Herkunft, das sind polnisch-stämmige
Juden, aber natürlich bekennen sie sich nicht
dazu. Denn es ist in Polen nicht gerade populär zu
sagen: Ich bin Jude oder jüdischer Herkunft, leider!
In Warschau, Krakau oder Breslau ist das anders.
Man könnte fast sagen, daß es in bestimmten Kreisen
so eine Art Mode ist - davon zeugt zum Beispiel
auch die Zahl von Konversionen zum Judentum. Aber in Kleinstädten wie hier, nein. Die Leute erinnern sich an früher, sie wollen lieber nicht diskutieren, nicht darüber sprechen.“
Zumal es in den Nachkriegsjahren galt, vor allem den eigenen, polnischen Anspruch auf Meseritz beziehungsweise Miedzyrzecz geltend zu machen. Gehörte die Stadt doch erst durch die Westverschiebung Polens nach dem 2. Weltkrieg wieder zum polnischen Staatsgebiet. Der über Jahrhunderte starke Einfluß von Juden und Deutschen in Meseritz paßte da nicht ins Bild. Nur langsam nähert sich die Stadt heute ihrer multi-ethnischen und multi-religiösen Vergangenheit wieder an.
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