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Die vergessene Grenze aus Märkischen Oder-Zeitung vom 6./7. Januar 2018, Text von Dietrich Schröder

Brandenburgische und polnische Institutionen und Vereine greifen Entwicklungen aus dem Jahr 1918 auf.
Vor 100 Jahren am Ende des Ersten Weltkriegs
wurde in Deutschland der Kaiser gestürzt und Polen
erlangte seine staatliche Unabhängigkeit wieder.
Damals entstand auch eine Grenze, die heute längst
vergessen ist. Mit ihr beschäftigt sich ein
brandenburgisch-polnisches Projekt.
1918 ging der erste große Krieg des 20. Jahrhunderts zu Ende. Deshalb häufen sich in diesem Jahr die Gedenktage. In Deutschland wird an die Novemberrevolution und das Ende des Kaiserreichs erinnert werden. In Polen ist eine nationale Kampagne der Regierungspartei PIS zum 100. Jahrestag der Wiedererlangung der nationalen Unabhängigkeit bereits angelaufen, dürfte aber noch weitaus größere Dimensionen erreichen. „Doch auch in der Region zwischen Berlin und Warschau wurde ab 1918 ein Stück europäischer Geschichte geschrieben“, sagt Stephan Felsberg. Der Verantwortliche für das Stadtmanagement von Frankfurt (Oder) engagiert sich schon seit seiner Studienzeit an der Europauniversität für die Popularisierung der deutsch-polnischen Regionalgeschichte.
Nach dem Versailler Vertrag, der für Deutschland
mit großen Gebietsverlusten verbunden war,
entstand damals eine Grenze, die allerdings schon
zwei Jahrzehnte später mit dem Ausbruch des
Zweiten Weltkriegs wieder verändert wurde. „1918.
Die vergessene Grenze“ lautet denn auch der Titel
eines Projekts, das sich mit dem Geschehen in dieser
Zwischenkriegszeit beschäftigt.
„Als wir die ersten Male darüber diskutierten,
sind immer mehr Dinge wieder aufgekommen, an
die es sich zu erinnern lohnt“, sagt Felsberg. Auch
dank der Partner, die man an den Universitäten in
Frankfurt und Posen und weiteren Institutionen gewonnen
hat. Eigentlicher Projektträger ist jedoch das
Bildungszentrum im Schloss Trebnitz bei Seelow
(Märkisch-Oderland), das auch als Koordinator der
zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit zwischen
Brandenburg und der Region Posen vom Land unterstützt
wird.
Professorin Dagmara Jajesniak-Quast, die
das Zentrum für interdisziplinäre Polenstudien an
der Viadrina leitet, ist von dem Vorhaben begeistert.
Denn es könnte auch zum besseren Verständnis
Polens beitragen. „Vieles, was die heutige Warschauer
Regierung macht, knüpft direkt an die Zeit
vor 100 Jahren an“, erläutert sie. Als Beispiel nennt
sie einen nationalen Wirtschaftsplan, den der neue
Regierungschef Mateusz Morawiecki seinen Landsleuten
vor wenigen Monaten präsentiert hatte, als
er noch Wirtschaftsminister war. Das Vorbild dafür
seien der Bau des Ostseehafens in Gdynia
(Gdingen) und die Entwicklung des oberschlesischen
Industriereviers um Kattowitz vor 100
Jahren gewesen.
Freilich stört Jajesniak-Quast die rein nationale
Orientierung der heutigen Regierung. „Wir
wollen in unserem Projekt eine europäischere Perspektive
einnehmen“, sagt sie. So soll es im Mai
eine studentische Exkursion entlang der „vergessenen
Grenze“ von der Ostsee bis nach Oberschlesien
geben.
Die damalige deutschpolnische Grenze war
mit 1912 Kilometern übrigens fast viermal so lang
wie die heutige (die Oder-Neißegrenze mißt 467
Kilometer). Dies liegt freilich auch daran, daß sie
das durch den „polnischen Korridor“ zur Exklave
gewordene Ostpreußen zu großen Teilen umschloß.
Aus der Exkursion soll ein Reiseführer werden,
in dem Themen von Polens Beziehungen zur
freien Stadt Danzig über den Ostwall, die
Grenzlanduni in Breslau bis zum Annaberg in Oberschlesien
eine Rolle spielen
sollen.
Ein weiteres Projekt sind
Stadtführungen zur Zwischenkriegsarchitektur
in Frankfurt
(Oder) und Posen. Durch den
Zuzug von Deutschen aus den
an Polen gegangenen Gebieten
stieg die Einwohnerzahl
Frankfurts nach 1918 stark an.
Damals entstanden neue
Wohnsiedlungen und Einrichtungen,
die die Stadt bis heute
prägen.Freilich galt das wieder
unabhängige Polen vielen
Deutschen von ganz links bis
ganz rechts als „Saisonstaat“,
und die Grenze wurde als „blutende
Grenze“ empfunden.
Auch solche Empfindungen, die schließlich dazu führten, daß die Nazipartei ab
den 1920er-Jahren in den deutschen Grenzgebieten
besonders großen Zulauf fand, will man in öffentlichen
Veranstaltungen diskutieren.
„Wir sind von dem großen Interesse für unser
Vorhaben und auch von der Unterstützung durch
die Bundeszentrale für politische Bildung selbst überrascht“,
sagen Felsberg und Jajesniak-Quast. Eine
Internetseite mit allen Veranstaltungen soll im Frühjahr
präsentiert werden.
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