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Mit freundlicher Genehmigung der Frankfurter Sonntagszeitung vom 14.06.2020, POLITIK, Seite 4 - Ausgabe D1, D2, R © Alle Rechte vorbehalten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv
Polen, das unbekannte Land
Konrad Schuller
Viele Deutsche kennen die schlimme Geschichte unserer Nachbarn kaum. Das nimmt man uns übel.
Ein Pole fragte mich um das Jahr 2005, wie
viele Dörfer in seinem Land die Deutschen im
Zweiten Weltkrieg vernichtet hätten. Das war lange
bevor in Berlin die Debatte darüber in Fahrt
kam, ob dem Schicksal Polens im Krieg ein Denkmal
gewidmet werden soll.
Ich hatte gerade erst begonnen, als Korrespondent
der F.A.Z. aus Polen zu berichten. Ich war neu, und ich hatte keine Ahnung, wie ich antworten
sollte. Aber ich wusste, daß deutsche
Besatzungssoldaten in unterworfenen Ländern
immer wieder ganze Ortschaften samt Greisen
und Kindern ausgelöscht hatten.
Ich hatte von Oradour in Frankreich gehört, von
Lidice in der Tschechoslowakei, Distomo in Griechenland
und Sant’Anna di Stazzema in Italien.
Jetzt hörte ich am Ton des Polen, daß es in seinem
Land wohl mehr gewesen waren, und so
sagte ich: „Vielleicht ein Dutzend?“
Heute weiß ich: Es waren mehr als siebenhundert.
In keinem Land haben Deutsche so maßlos
gemordet wie in Polen, und „Befriedung“, also das
Ausrotten ganzer Orte, war ein übliches Mittel des
Terrors. Mal schlugen sie zu, weil in der Umgebung
Partisanen aufgetaucht waren, mal, weil die
Bevölkerung Juden schützte.
Der Vollzug sah dann so aus wie am 2. Februar
1944, als es das Dörfchen Borów bei Lublin
traf: Frühmorgens umstellten SS und Wehrmacht
den Ort, dann zogen die Soldaten truppweise von
Haus zu Haus. Sie erschossen Frauen, Kinder,
Männer, oder sie verbrannten sie in ihren Häusern.
Die Häuser brannten gut, denn damals wurde
in Polen noch viel mit Stroh gedeckt.
Das alles wusste ich nicht, als ich ankam. Ich wusste nicht, daß Polen im Verhältnis zu seiner Bevölkerung die schwersten Verluste aller europäischen Länder erlitten hatte, und ich wusste auch nicht, daß die Toten dieses Landes meist nicht als Soldaten gestorben waren, sondern als hilflose Opfer von Mordaktionen wie in Borów. Hitler war in diesem Land besonders grausam, denn nach seinem „Generalplan Ost“ sollte es verschwinden. Für das polnische Volk hatte er erst Entrechtung, dann gestufte Auslöschung vorgesehen. Heute weiß ich nicht nur, wie wenig ich damals wusste. Ich ahne auch, warum. In der Schule, an deutschen Gymnasien, hatte ich vom Zweiten Weltkrieg in Polen fast nichts erfahren. Einer dieser Blitzkriege eben, bevor es dann anderswo ernst wurde, in Stalingrad und in der Normandie. Auch sonst war von Polen wenig die Rede. Daß dieses Land seit der Krönung Boleslaws des Tapferen im Jahr 1000 (übrigens in Anwesenheit des deutschen Kaisers Otto III.) ununterbrochen Deutschlands größter Nachbar im Osten war, kam nie zur Sprache.
Mittlerweile glaube ich zu wissen, daß meine
Wissenslücken kein Zufall waren. Daß sie Teil einer
deutschen Tradition waren. Einer Tradition der
teils wissentlichen, teils fahrlässigen Missachtung.
Die Geschichte des Schweigens über Polen beginnt
mit einem Akt politischer Zerstörung: 1795
teilten Österreich, Preußen und Russland Polen
gewaltsam auf. Für vier Generationen, also bis
zum Ende des Ersten Weltkrieges, verschwand
Polen von der Karte. Gnesen, wo Boleslaw gekrönt
wurde, ist damals preußisch geworden.
Krakau, wo Polens Könige in der Wawel-Kathedrale
liegen, wurde österreichisch, und Warschau
russisch.
In Deutschland gab es zwar auch Mitgefühl,
aber der Drang zum Vergessen war stärker. Bei
der Beruhigung des Gewissens half die „Kulturträgertheorie“.
Vereinfacht gesagt läuft dieses Konstrukt
darauf hinaus, daß nur manche Völker dazu
ausersehen sind, als staatenbildende Nationen
Bedeutung zu gewinnen, andere aber nicht. Nur
die einen haben Anrecht auf einen Platz in den
Geschichtsbüchern, nicht die anderen.
Der Kopf dieser Schule war Heinrich von
Treitschke. Er war einer der einflussreichsten preußischen
Historiker des neunzehnten Jahrhunderts
und nebenbei Urheber des Satzes „Die Juden sind
unser Unglück“. In seinen Schriften stehen
deutsche „Kulturbringer“ polnischer „Anarchie“ gegenüber.
Andere verglichen den gesamten Osten
Europas mit Amerika zur Zeit der europäischen
Landnahme: wildes Land, offen für Eroberer.
Diese Schule hat das Polenbild der Deutschen
für Generationen geprägt. Das der Nazis sowieso,
aber auch das von Menschen, die mit den Nazis
nichts am Hut hatten. Thomas Mann zählte die
Polen zu den Völkern, die es „Kraft eines völligen
Mangels an Staats- und Machtfähigkeit auf Erden
nie zu etwas gebracht haben“, und der Hitler-
Attentäter Claus von Stauffenberg nannte sie „ein
Volk, welches sich nur unter der Knute
wohlfühlt“. Kein Wunder also, daß meine Lehrer
sich für dieses Land kaum interessiert haben. Das
Vergessen aus der Arroganz des Eroberers wurde
von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weitergereicht. Es
wirkt bis jetzt und überdeckt nicht nur Polens Leid
im Zweiten Weltkrieg, sondern auch seine historische
Größe.
Unter meinen Schulkameraden wusste keiner,
daß Polen die Geschichte Europas immer wieder
entscheidend geprägt hat. Keiner erfuhr, daß Wien
heute vielleicht türkisch wäre, wenn Jan III.
Sobieski 1683 nicht mit seiner Reiterei dazwischen
gegangen wäre. Oder daß in der Zeit zwischen
Boleslaw dem Frommen und Kasimir dem Großen,
als in Deutschland schon einmal Pogrome
wüteten, Polen das Land der Zuflucht für europäische
Juden wurde.
Die schlimmsten Lücken aber klaffen eben
beim Zweiten Weltkrieg. Daß die größten Vernichtungslager
des Holocaust, Auschwitz, Treblinka,
Sobibór, auf polnischem Boden standen, haben
wahrscheinlich viele mitbekommen. Wissen sie
aber auch, daß von sechs Millionen vernichteten
Juden drei Millionen polnische Bürger waren? Und
daß noch einmal so viele Polen nichtjüdischer Herkunft
ebenfalls ermordet wurden?
Daß viele nur deshalb starben, weil sie Juden
versteckten? Wissen deutsche Schüler, daß der
Warschauer Aufstand mit seinen 200 000 Toten
(die meisten von deutschen Mordkommandos in
Hinterhöfen erschossen) die größte Erhebung im
besetzten Europa war?
Bundespräsident Roman Herzog wusste
darüber jedenfalls nur vage Bescheid, denn als
er in den neunziger Jahren nach Polen fuhr, hat
er den Warschauer Aufstand mit dem Getto-Aufstand
vom Jahr davor verwechselt.
Viele Polen wissen, daß die meisten Deutschen
sich um all das nicht viel scheren. Sie nehmen
das den Deutschen übel, denn es gibt so gut wie
niemanden in diesem Land, der nicht eine Urgroßmutter
oder einen Urgroßvater im Terror verloren
hat.
Wer als Deutscher in Polen Freundschaften
knüpft, erfährt spätestens am zweiten Abend
davon, und wie er dann reagiert, bestimmt den
weiteren Verlauf der Freundschaft. Wenn er sich
gleichgültig zeigt, wenn er von der Verantwortung
seines Landes nichts zu sagen weiß, dann will
man sich von ihm auch selbst nicht viel sagen
lassen. Nicht über die Aufnahme von Flüchtlingen,
nicht über den Rechtsstaat, und schon gar
nicht über europäische Solidarität.
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