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JUBILÄUM
100 Jahre Inge Dümchen geb. Homann aus Meseritz
Fotos und Text: Henning Krentz
„Warum der liebe Gott gerade mich, die kleine Inge Homann aus der Lindenstraße in Meseritz ausgesucht hat, so alt zu werden, ich weiß es nicht“, sagt unsere Mutter, wenn sie von ihrer Jugend berichtet.
Am 20. Juni 1922 wurde sie geboren und verbrachte ihre Kindheit und frühe Jugend sie zusammen mit vier Geschwistern in Meseritz. Ihr Vater, Richard Homann, hatte in der Lindenstraße 9 eine Tischlerei im eigenen Haus. Mutter Marie Homann, geb. Bohne aus Weißenfels, lernte er während seiner Gesellenzeit in Berlin kennen. In Meseritz gründeten beide ihren eigenen Hausstand. Doch wie alles so kam, wie es heute ist, das lassen wir unsere Mutter doch am besten selbst erzählen. 100 Jahre voller Erlebnisse aufzuschreiben, ist sicher eine Herausforderung. Versuchen wir es!
Inge Dümchen im Interview:
„Ich hatte eine herrliche Kindheit in Meseritz! Alle meine Freundinnen von damals begleiteten mich bis ins hohe Alter, wir hielten immer zusammen. Susi Hecker, Traudchen und Hella Sperling sowie Dorle Schelske gemeinsam spielten wir in unserer Lindenstraße. Die Familie Hecker hatten etwas Besonderes in ihrem Haus nämlich ein Schaufenster. Herr Hecker war Fischer und hatte ein Aquarium mit seinen Fischen aus seinem Fang ausgestellt, damals eine Attraktion, besonders für uns Kinder. Die Sperlings betrieben eine Schneiderei und verzogen später in die Bahnhofstraße. Dort hatten sie ein Schaufenster für die Präsentation ihrer Kleidung. Familie Schelske aus unserer Straße waren sogar meine Paten.
Im Sommer vertrieben wir unsere Zeit oft auch am geliebten „Kainschtner Auge“, der kleine See vor der Stadt. Da war die Freiheit grenzenlos!“ Übrigens eine kleine lustige Ergänzung „Kainschtner Auge“. Wo der Name herkommt wir wissen es nicht. Als Familientradition aber lebt dieser kleine Teich vor der Stadt auch heute noch bei uns fort. Man isst in Brandenburg sehr gerne Pellkartoffeln mit Quark und Leinöl. Bei der Familie Homann war es wohl Tradition den Quark auf dem Teller mit einer kleinen Kuhle herzurichten und darin dann das gute Leinöl zu gießen. „Ich mach mir ein Kainschtner Auge hieß es dann bei Tisch. Das wird sogar heute noch bei uns so gehalten. So leben kleine Rituale fort“.
Wie war denn so Euer Haus? Wie habt ihr
dort gelebt?
„Also ich hatte mit meiner Schwester Gertrud
ein eigenes Zimmer mit einem großen Bett. Hat
unser Vater selbst gebaut, wie überhaupt alle unsere
Möbel er war ja Tischler! Unser Bruder
Manfred, der leider früh mit einer Blinddarmentzündung
verstarb, war für sich. Wir wohnten oben
und unten waren die anderen Zimmer. Außerdem
waren noch weitere Räume vermietet an eine
Familie und einen Gesellen. Eine Toilette im Haus
kam erst später. Auch ein Bad wollte Vater noch
einbauen. Die Badewanne war schon erworben,
stand bei uns bereit, doch der Krieg machte diese
Pläne zunichte“.
Was habt ihr denn so angestellt? Wart ihr auch Schlittschuhlaufen oder baden?
„Ja klar ging es im Winter auf das Eis. Aber
nicht auf die Obra, die fror nur selten zu. Wir nutzten
die überschwemmten Wiesen, da konnten wir
nicht einbrechen. Im Sommer ging es in die Badeanstalt
an der Obra. Schwimmen war und blieb
bis heute nicht so mein Ding aber baden hat immer
Spaß gemacht. Auch von der Schule aus gab es
Ausflüge zur Badeanstalt. Schwimmunterricht,
ganz modern, ist keine Erfindung von heute“.
Hattest Du ein eigenes Fahrrad?
„Nein, ein eigenes Fahrrad hatte ich nicht.
Traudchen Sperling hatte eines. Darauf haben wir
alle gelernt. War aber etwas komisch, denn es
hatte keinen Freilauf. Man musste also immer treten,
ob man wollte oder nicht. Später als Lehrling
in der Molkerei bekam ich einen Bezugschein für
ein Dienstrad. Das war günstig, denn es war schon
jeden Tag recht weit; die Molkerei war weiter
draußen. Obwohl von der Firma angeschafft, hat
mich das Fahrrad aber dennoch 100,00 RM Eigenanteil
gekostet.
Seid ihr denn auch mal im verreist?
„Nein solch eine Reiserei wie heutzutage gab
es damals nicht, ein Reisebüro hätte früher nicht
viel verdient. Vater war selbstständig, die Kunden
hätten für Betriebsferien kein Verständnis gehabt.
Meine Ausflüge beschränkten sich auf Ferienerlebnisse.
Unser älterer Geselle, Herr Lalasch, war
aus Landsberg. Dorthin durfte ich an den Wochenenden
manchmal mit im Sommer. Das war sehr
schön, er hatte eine nette Familie. Landsberg hat
mir sehr gefallen. Ich habe dort viel sehen bzw.
lernen können.
Wie war denn Deine Schulzeit?
„Wie viele andere besuchte ich die Mittelschule in Meseritz, von 1927 bis 1938. Eigentlich war ich noch nicht dran, war ja erst fünf Jahre alt. Da aber Susi Hecker zur Schule kam wollte ich unbedingt mit. Wir sagen mal so: ich habe mich da so durchgeschleust, habe der Schule nicht so viel abgewinnen können, vor allem nicht der Mathematik. Mein Lieblingsfach war Musik bei Herrn Spohrs. Ich habe sehr gerne und gut Flöte gespielt, hatte eine „Eins“. Seine Familie wohnte in unserer Straße. Ich habe öfter auf ihre kleine Tochter aufgepasst. Auch dem Zeichnen gehörte meine Leidenschaft. Herr Wolf, unser Lehrer, war sehr gerecht. Einmal sollten wir unsere Lieblingsblumen zeichnen. Ich wählte die Rose und begann sorgfältig die einzelnen Blättchen zunächst mit dem Bleistift zu zeichnen. Er stand irgendwann neben mir, begutachtete so mein Tun und meinte: „aber Homann, das ist doch zu schwer für dich.“ Ich machte aber weiter und siehe da zum Schluss stand unter meinem Werk ein „sehr gut“. Auch später habe ich immer gerne für mich musiziert oder gezeichnet“.
Wie kam es denn zu Deinem Beruf?
„In den letzten Schultagen 1938 organisierte unser Lehrer Herr Wolf zu unserer Vorbereitung auf das Berufsleben eine Besichtigung der Molkerei.
Der dortige Chef, Herr Prill, führte uns durch alle wichtigen Stationen des Hauses. Für das Labor würde er gerne einen Lehrling einstellen wollen, gab er bekannt. Das war wohl für mich die Initialzündung, denn schon am Nachmittag ging ich ganz allein ohne häusliche Abstimmung dorthin, bewarb mich und hatte den Job.
Drei Jahre dauerte die Ausbildung und es war eine wunderbare Zeit. Ich war dann Molkereilaborantin. Die tägliche Arbeit hat mir viel Freude bereitet und auch heute würde ich den gleichen Schritt nochmal gehen“.
Und wie kamst Du nach Neuruppin?
„Als mein Arbeitsdienst und Kriegshilfsdienst
vorbei waren, benötigte ich natürlich eine Stelle.
Man schrieb inzwischen schon das Jahr 1943. In
Neuruppin war in der dortigen Molkerei eine Stelle
frei. Ich bewarb mich und bekam den Zuschlag.
So kam ich dann dorthin und war sehr froh dort,
es war eine gute Zeit. Ein kleines Zimmer zur
Untermiete, ja ein Bad gab es zur Mitbenutzung
auch. Die Zeiten waren nicht glorreich, aber trotzdem
gut.
Und es kam, es wie es kommen sollte: Als 1945
alle auf die Flucht gehen mussten, war ich der
sichere Hafen, den sie anliefen. Mutter und meine
drei Schwestern kamen nach Neuruppin und
noch weitere Bekannte. So war ich, die kleine Inge,
für uns alle der Wegbereiter in eine neue Zukunft.
Unser Vater kam nicht mit. Er brachte es nicht
übers Herz, sein Lebenswerk: Haus, Hof und
Werkstatt zu verlassen. Wir haben ihn nie wieder
gesehen. Ja und was natürlich für euch wichtig
ist: euer Vater und ich haben uns dort in der
Neuruppiner Molkerei kennen gelernt und wurden
ein Paar“.
Und nun wohnst Du in Rheinsberg seit über 70 Jahren. Ist es dir Heimat geworden?
„Anfang der 50 Jahre sind wir von Neuruppin
nach Rheinsberg gegangen. Dort hatte euer Vater
die Chance als selbstständiger Fuhrunternehmer
eine eigene Existenz aufzubauen. Natürlich
ist Rheinsberg meine Heimat geworden aber die
Heimat der Kindheit kann niemand ersetzen. Ich
habe mein Lebensglück hier gefunden. Unser
Haus hat euer Vater damals selbst gebaut. Die
Gegend um Rheinsberg erinnert mich an unser Meseritz, der Wald, die Seen die Stadt mit dem Schloss - hier ist unsere Familie zu Hause. Ihr
alle seid hier aufgewachsen, zur Schule gegangen
und habt von hier aus Euren Weg ins Leben
gefunden. Ich bin für alles dankbar und genieße
jetzt noch jeden Tag. Meine Devise ist und bleibt
immer fröhlich bleiben und stets voran schreiten!“.
So hat uns unsere Mutter ihre Geschichte
erzählt und so haben wir alles aufgeschrieben,
weil wir ja selbst Teil ihrer Geschichte sind. Wir,
das sind vier Geschwister: Heide, Eva, Wolfgang
und Thomas. Genau wie unsere Hundertjährige
haben wir eine sorglose und glückliche Kindheit
im Hause unserer Eltern verleben können.
Unser Vater Kurt Dümchen betrieb mit seinem eigenen LKW ein kleines Fuhrunternehmen und sorgte täglich dafür, dass die Milch von den umliegenden Dörfern zur Molkerei gelangte. Unsere Mutter führte das Haus. Ihre stets sorgende Hand und ihre Güte waren und sind noch heute unser Leitfaden für ein zufriedenes Leben. Nebenbei hatten wir einen großen Garten am Haus, der uns mit allem versorgte aber auch ständig Arbeit bescherte. Und unser Hof, mit dem vielen LKW-Zubehör, war nicht nur für uns ein großer Abenteuerspielplatz.
Inzwischen sind wir in ein eigenes Leben eingetaucht. Unsere ältere Schwester Heide haben wir leider nicht mehr bei uns. Mein Mann Henning und ich leben in Potsdam. Hier haben wir unsere beruflichen Leben gestalten können und wohnen im eigenen Haus mit Garten. Zwei große Söhne gehen auch längst ihren Weg, haben teils selbst schon Kinder.
Meinen Bruder Thomas hat es beruflich bedingt
in den Süden Deutschlands verschlagen. Mit seiner
Frau Heike genießen nun auch sie dort ihren
wohlverdienten Ruhestand. Ihre zwei Kinder runden
den Enkelreigen unserer Mutter ab. Wenn es
auch ein weiter Weg ist, so besuchen wir uns doch
regelmäßig. Letztlich bescheren uns auch die
neuen Medien Möglichkeiten, stets am Leben der
anderen teilhaben zu können.
Ferien in Rheinsberg bei Oma waren für unsere
Kinder stets der Höhepunkt jeden Sommers.
Alle haben sich gut verstanden und Oma hat ihre
vier Enkel nicht nur gut versorgt, sondern ständig
erfolgreich bespielt. Für sie sicher ein Kraftakt
für die Kids aber unvergessene und noch heute
geliebte Kindheitserinnerungen.
Unser Bruder Wolfgang wohnt heute in unserem
Haus in Rheinsberg. Er betreut mit seiner Frau
Kerstin nicht nur unsere Mutter, sondern hat Haus
und Hof der Familie zu neuem Glanz verholfen.
Wir besuchen uns alle oft gegenseitig und genießen
die lange Zeit, die uns mit unserer Mutter vergönnt
ist.
Und mit inzwischen schon fünf Urenkeln hat
die Geschichte Dümchen / Homann längst eine
neue Fortsetzung erhalten. So ist denn letztlich
alles rund. Es ist wunderbar zu begreifen, wie Geschichten
zu Geschichte werden und wir alle inmitten
dieses ständigen Laufes der Zeit unseren
Platz einnehmen und darin ein kleines, aber wichtiges
Rädchen sind.
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