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Buchbesprechung
Das Wolfsmädchen
von Christian Hardinghaus
Europa Verlag, 2022
Eine Besprechung von Judith Schewe
Flucht aus der Königsberger Hungerhölle 1946
Ich habe verschiedene Bücher
zum Thema Flucht und Vertreibung der Deutschen
aus den Ostgebieten gelesen, die
jeweils aus der Sicht der Kinder der Betroffenen
geschrieben wurden: Christiane Hoffmann,
Alles, was wir nicht erinnern; Susanne
Benda, Dein Schweigen, Vater; Olaf Müller,
Der Himmel meiner Mutter.
Ganz anders ist nun dieses Buch: Mit der
Geschichte von Ursula Dorn hat Christian
Hardinghaus eine (Auto-)Biographie mit tiefem
geschichtlichen Hintergrund geschrieben,
die die Erlebnisse eines vertriebenen,
geflüchteten, fast verhungerten Kindes aus
Königsberg erzählen. „Das Wolfsmädchen“ ist
so authentisch, dass es beim Lesen wehtut
und nicht mehr aus dem Kopf geht. Königsberg,
Ostpreußen, Wolfskinder, Litauen, all das war für mich zwar nicht gänzlich neu, aber
insbesondere die historischen Sequenzen, die
die sich abzeichnende Entwicklung der Geschichte
begleiten, sind sehr hilfreich bei der
Einordnung der autobiographischen Ursula-
Erlebnisse.
Als die Rote Armee 1945 Königsberg erreicht,
ist Ursula zehn Jahre alt, die Mutter mit
der Versorgung der vier Kinder vollkommen
überfordert, der Vater an der Front. Binnen kürzester
Zeit tritt eine so schreckliche Entwicklung
ein, dass mir beim Lesen der Atem stockte:
Todesmärsche werden angeordnet, es
herrschen furchtbarer Hunger und Not, überall
die Gefahr von Vergewaltigungen, Deportationen
nach Sibirien sind ein ständiges Damoklesschwert,
das über allem schwebt.
Insbesondere Mutter Martha hat davor Angst.
Irgendwann hält es Ursula nicht mehr aus und
flieht per Zug nach Litauen. Aber die Sorge
und die Sehnsucht nach Mutter und Geschwistern
lässt sie trotz der hilfsbereiten Litauer
noch einmal zurückkehren.
Kurze Zeit später wird Ursula mit ihrer Mutter
auf der Suche nach Nahrung aber wieder
zurückfahren und die fast verhungerten Geschwister
bleiben bei einer Nachbarin zurück.
Ursulas Bruder Heinz wird später der Einzige
sein, der das (u. a. in einem furchtbaren sowjetischen
Kinderheim) überlebt, aber er kann
der Mutter niemals verzeihen. Diese beutet
ihre Tochter Ursula aufs Unverschämteste aus,
das wird erst Jahre später enden, als Ursula
bereits in Westdeutschland und in einer eigenen
Familie lebt.
Diese Hass-Liebe, diese Sehnsucht nach
der Mutter, der gescheiterte Versuch, sich von
ihr abzunabeln, vergällen Ursula auch noch
die Jahre, in denen sie längst der tödlichen
sowjetischen Gefahr entronnen ist.
Wenn man die anderen Bücher zu den Folgen
des Zweiten Weltkriegs, die der Autor
verfasst hat, kennt, dann weiß man, dass er
eine sehr einfühlsame und empathische Art
hat, seine Interviewpartner zu den grausamsten
Erinnerungen zu befragen, um das dann
mit dem geschichtlichen Kontext verbunden
zu einem lesenswerten und wertvollen Buch
zu machen.
Auch in meiner Familie gab es Flucht und
Vertreibung, gleichzeitig aber auch Opfer des
Holocaust, Judenverfolgung, Mutterkreuz,
Nazis und Mitläufer, Widerstandskämpfer, KZHaft,
Bombenopfer, gefallene Soldaten, solche,
die in Kriegsgefangenschaft gerieten –
also die ganze Bandbreite der deutschen
Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Wie Ursulas Sohn Klaus habe ich mit der
Ahnenforschung versucht, alle Geheimnisse
zu lüften und zu Papier gebracht habe ich auch
einiges davon. Das tut auch Ursula, für sie ist
es ein Geschenk, dass der Sohn Klaus ihr bei
ihren Aktivitäten hilft und sogar mit ihr eine
letzte mögliche Reise im Sommer 2022 nach
Litauen unternimmt.
Ich war mit meiner Mutter Ende der 1990er
Jahre in ihrer alten Heimat Meseritz. Was dieser
Besuch für sie bedeutete, das habe ich
wohl erst jetzt nach dem Lesen all dieser Bücher
zum Thema Vertreibung richtig begriffen.
Ebenso wie das beredte Schweigen, das mir
entgegenschlug, wenn ich die Frage nach dem
Verlauf ihrer Flucht stellte. Weiterdenken
möchte ich an dieser Stelle auch nach ihrem
Tod, der schon 2014 war, lieber nicht. Von diesem
Schweigen spricht auch Ursula, lange
ließ sie ihre Liebsten im Unklaren über ihre
Erlebnisse.
Für mich ist dieses Buch „Das Wolfsmädchen“
der literarische Höhepunkt dieser
schwierigen Thematik. Anfang des Jahres 2022
habe ich das neue Vertriebenenmuseum in
Berlin besucht. Wer dieses und die anderen
oben erwähnten Bücher gelesen hat, wird
wahrscheinlich wie ich zu dem Schluss kommen,
dass dieses Museum sein Thema völlig
verfehlt hat.
Mehr über den Inhalt möchte ich hier nicht
schreiben, ein jeder muss sich selbst eine
Meinung bilden können, da will ich nicht alles
vorwegnehmen, was geschieht.
Ich empfehle dieses Buch sehr, angesichts
des seit Februar tobenden Krieges in der Ukraine
ist es aktueller, als man es sich wünschen
kann. Die Parallelen zwischen dem Einmarsch
der sowjetischen Truppen in Ostpreußen
und der russischen in die Ukraine
sind ununterbrochen sichtbar und machene inem die Dramatik der heutigen Situation um
so bewusster. Ursula Dorns Gedanken, die im
Nachwort so eindrucksvoll ihre Angst und
damit ihre Erfahrungen spiegeln, bleiben mir
im Gedächtnis.
An Ursula Dorn und Christian Hardinghaus
richte ich meinen Dank und meine Hochachtung,
ich bin wahrhaft überwältigt von den Eindrücken
dieses Buches.

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