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Erkundungsreise nach Miedzyrzecz im November 2022 Text: Dr. Kai Seyffarth, Fotos: Andrzej Kirmiel Den Leserinnen des HEIMATGRUSS ist die Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt Meseritz- Obrawalde nicht unbekannt. Zwischen 1942 und 1945 wurden dort auf staatliche Weisung mindestens 10.000 Psychiatrie-Patientinnen ermordet. Auf dem Gelände der Anstalt steht ein Gedenkstein, der an die Opfer erinnert. Aber sind die massenhaften Medizinverbrechen der Nationalsozialisten auch präsent in der Wahrnehmung der bundesdeutschen Gesellschaft? Zu lange wurden sie beschwiegen, waren schambesetzt – zumal viele der Euthanasie-Ärzte nach dem Krieg ihre Karrieren in Ost- und Westdeutschland fortsetzen konnten. Da war wenig Raum für Erinnerung, private und kollektive Trauer. Eine Gruppe zivilgesellschaftlicher Organisationen aus Bremen hat sich nun zum Ziel gesetzt, diesen Teil unserer Geschichte stärker ins öffentliche Bewußtsein zu rücken, der Ermordeten zu gedenken und zugleich Brücken nach Miedzyrzecz zu unseren polnischen Nachbarn im gemeinsamen europäischen Haus zu bauen. Dazu gehören der Verein „Erinnern für die Zukunft“, der Volksbund Deutsche Kriegsgr.berfürsorge, das Krankenhaus-Museum Bremen, die Deutsch-Polnische Gesellschaft, eine Evangelische Kirchengemeinde und weitere Aktive, darunter die besonders verdienstvolle Kulturwissenschaftlerin Gerda Engelbracht, die das Schicksal vieler Opfer der Medizinverbrechen aus Bremen erforscht und bekanntgemacht hat. Ein großer Teil der rund eintausend Bremer Opfer wurde in Obrawalde ermordet. Beim Jahrestreffen des Heimatkreises Meseritz im Mai 2022 lernten wir Andrzej Kirmiel, den Leiter des Museums in Miedzyrzecz, kennen. Er half uns, eine erste Erkundungsreise im November 2022 zu planen. Unermüdlich knüpfte er Kontakte und organisierte die Reise bis in die kleinsten Details. Wir sind ihm zu großem Dank verpflichtet. Ohne ihn wäre diese Fahrt und der Aufbau einer langfristigen Beziehung nach Miedzyrzecz nicht möglich gewesen. Auf dem Bild sieht man ihn gemeinsam mit Katarzyna Sztuba-Frackowiak (sie ist Mitarbeiterin des Museums und arbeitet an einer Dissertation über die Heil- und Pflegeanstalt Obrawalde), Wojciech Derwich (der auch Ihnen ein vertrauter Freund ist) und Pastor Erich Busse aus Dresden (dankenswerterweise hat er uns vor Ort gefahren, alle Gespräche begleitet und oft für uns gedolmetscht). Das erste Gespräch führten wir unmittelbar nach der Ankunft am Freitagmittag mit der Direktorin der Psychiatrischen Klinik in Obrzyce (Obrawalde), Frau Ewa Lewicka-Michalewska. Sie war offenkundig sehr interessiert, stellte viele Fragen zu Organisation und Finanzierung des Krankenhausmuseums in Bremen. Sie teilt unsere Ansichten über die Notwendigkeit gesellschaftlicher Auseinandersetzung und pädagogischer Aufklärung über die Patientenmorde der NS-Zeit. Gern wird sie mit deutschen Organisationen und Stellen zusammenarbeiten und jede Initiative auf dem Gelände der Heil- und Pflegeanstalt unterstützen (Jugendaustausch, politische Bildungsreisen, Gedenkstätte etc.), soweit ihre Möglichkeiten das zulassen. In ihr haben wir eine engagierte und fachkundige Partnerin für unser Vorhaben, und die erste persönliche Begegnung schuf bereits eine gute Vertrauensbasis. Wir konnten die kleine, inhaltlich seit Jahrzehnten nicht aktualisierte Ausstellung über die Patientenmorde in Obrawalde besichtigen. Hier könnte eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen dem Museum in Miedzyrzecz, dem Krankenhausmuseum in Bremen und weiteren beteiligten polnischen und deutschen Historikern zu einer Neugestaltung führen. Anschließend legten wir einen Gedenkkranz am Mahnmal für die ermordeten Patienten verschiedener Nationen auf dem Klinikgelände ab. Unser nächstes Gespräch führte uns zur Landrätin des Kreises Miedzyrzecz, Frau Agnieszka Olender. Wir wurden überaus zuvorkommend empfangen. An diesem Gespräch nahmen auch zwei Vertreterinnen des örtlichen Gymnasiums teil, die uns anschließend noch durch das Schulgebäude führten. Hier hatte ich den Eindruck großer Freundlichkeit und eines starken Interesses an einem Schüleraustausch mit Bremen. Die Schule hat bislang keinen Kontakt mit Deutschland, hierin sieht sie eine besondere Chance vor allem für die Klassen, die Deutsch im Unterricht lernen. Am Samstagmorgen besuchten wir zunächst den Friedhof der Heil- und Pflegeanstalt, der nördlich an das weitläufige Klinikgelände anschließt. An diesem verregneten Novembermorgen wirkte der Friedhof sehr würdig auf uns. Ursprünglich gab es eine katholische, evangelische und jüdische Abteilung. Heute sind nur noch wenige verstreute Grabstellen erhalten. Während der Patientenmorde wurden auf dem Gelände Massengräber angelegt - Obrawalde besaß kein Krematorium. Zwei dieser Massengräber wurden nach dem Krieg von der sowjetischen Administration exhumiert, zur Sicherung von Beweisen gegen die Täter. Über die Lage der übrigen Massengräber gibt es keine genauen Aufzeichnungen. Sie dürften sich über den hinteren Teil des Friedhofs erstrecken, der heute von einem Wäldchen bedeckt ist. An der Stelle der exhumierten Massengräber befindet sich eine Freifläche mit einem Mahnmal. Der Boden vor dem Mahnmal ist mit Steintafeln ausgelegt, die zur Kennzeichnung einzelner Massengräber gedient hatten. Im Anschluss führte uns Katarzyna Sztuba- Frackowiak über das Klinik-Gelände, das im Wesentlichen noch das Erscheinungsbild der Vorkriegszeit bietet, obwohl einige Gebäude leer stehen, andere umgenutzt sind. Dem Friedhof zunächst und daher am entferntesten vom Eingang und Verwaltungstrakt der Klinik liegt in der Hauptachse die ehemalige Leichenhalle, die schon lange nicht mehr genutzt wird. Von der Größe und Lage würde sie sich eignen, um ein Museum / eine Begegnungsstätte zu errichten. Während wir weiter durch das Klinikgelände liefen, erzählte Katarzyna viele Geschichten über die ehemalige und jetzige Nutzung einzelner Gebäude. Ich stelle mir vor, daß ein System mehrsprachiger Wegweiser und Informationstafeln dieses reichhaltige Wissen bewahren und der Öffentlichkeit zugänglich machen könnte. Ein eher unscheinbares Gebäude bewegte uns stark. Hier endete der Bahnanschluß, über den viele Tausende Patienten nach Obrawalde deportiert wurden. Auch hier gab es an der Rampe Selektionen zur Trennung der (vorerst) Arbeitsfähigen und der sofort dem Tod Geweihten. Nach dem Besuch in Obrawalde hatten unsere Gastgeber für uns ein Besichtigungsprogramm vorgesehen, um uns einige touristische Highlights der Umgebung zu zeigen. Zunächst führte uns die Tour zur Festungsfront Oder-Warthe-Bogen, einer monströsen Bunkeranlage der 1930er Jahre. Militärisch nutzlos, doch mit hohem Ingenieurskönnen und gewaltigem an Arbeitskraft und Material wurden Dutzende Stellungen gebaut, die durch ein 50 Meter tief in der Erde liegendes Tunnelsystem (mit eigener Kleinbahn) verbunden waren. Ein Teil davon ist im Rahmen einer Führung begehbar, der größere Teil dient als Winterquartier für zehntausende Fledermäuse. Wenige Kilometer entfernt wurden Menschen umgebracht, die man für wahnsinnig hielt. Aber die wirklich Wahnsinnigen waren hier zu Gange! Der Ausflug wurde fortgesetzt mit einem Besuch der Klosteranlage Paradies, einem ehemaligen Zisterzienserkloster, das leider während der Gegenreformation vollständig barockisiert wurde, so daß von der ursprünglichen Architektur wenig zu sehen ist. Den Samstagnachmittag verbrachten wir im Museum in Miedzyrzecz. Dazu gehört eine größere parkähnliche Außenanlage rund um die Ruine einer Wasserburg. Der Innenhof wird im Sommer für Konzerte und andere Großveranstaltungen genutzt, könnte aber auch jugendlichen Austauschgruppen zur Verfügung gestellt werden. Das Museum beherbergt eine bedeutende Sammlung von Sargportraits, das dürfte aber vor allem für spezialisierte Kunsthistoriker von Interesse sein, einiges an Volkskunst und altem Handwerk und einen Raum über die Geschichte von Meseritz in deutscher Zeit. Diese Ausstellung ist erst von Andrzej Kirmiel eingerichtet worden. Die Verdichtung der Geschichte auf einen einzigen Raum ist durchaus gelungen, sie ist getragen von Empathie und der Bereitschaft, zu sehen, was ist – ganz ohne ideologische Vorgaben. Im Anschluß waren wir in der kleinen Dienstwohnung der Familie Kirmiel zu einem reichhaltigen Essen eingeladen.Wir saßen um den Küchentisch versammelt und spürten, daß dies weit mehr als ein dienstliches Treffen war – vielmehr das Angebot zu echter persönlicher Freundschaft und dauerhafter Zusammenarbeit. 2023 soll es einen Gegenbesuch in Bremen geben, und dann hoffen wir, daß auch eine neue Generation sich der Erinnerung und dem Austausch verpflichtet fühlen wird. Aufruf der deutschen Delegation Eine Bitte noch an Menschen, die vor 1945 in Meseritz-Obrawalde gelebt oder gearbeitet haben: Wir wären sehr dankbar, wenn Sie Ihre persönlichen Erinnerungen in Wort und Bild mit uns teilten. Die Heimatgruss-Redaktion ist gern bereit einen Kontakt herzustellen. Aufruf von Museumsdirektor Andrzej Kirmiel zum Projekt Obrawalde Unser Museum plant, ein Buch über die Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt Obrawalde von 1904 bis 1945 zu schreiben, und wir haben eine große Bitte an die Leser vom HEIMATGRUSS. Wir benötigen dringend Erinnerungen, Briefe, Dokumente, Fotos und andere Gegenstände, die sich auf die deutsche Geschichte dieser Einrichtung beziehen. Wir wollen den Besitzern die Original- Erinnerungsstücke nicht vorenthalten, nur Scans und Abfotografiertes als digitale Datei reichen aus. Wenn jemand Informationen nur anonym zur Verfügung stellen möchte, werden wir dieses respektieren. Wir bitten Sie um Ihre Hilfe, denn ein Buch, das nur auf Dokumenten aus polnischen Archiven und polnischen Büchern basiert und ohne die Erinnerungen der deutschen Einwohner auskommt, wäre sehr unzutreffend bzw. unvollständig. Wir möchten sowohl die glorreichen Zeiten des Krankenhauses darstellen, als es eine psychiatrische Einrichtung mit Modellcharakter für das gesamte Land war, aber auch die finsteren Zeiten der NS-Verbrechen nicht verschweigen. Das Buch soll zweisprachig in Polnisch und Deutsch herausgegeben werden, damit es auch HGr-Leser lesen können. Vielen Dank im Voraus für Ihre Hilfe und Grüße aus Miedzyrzecz. Andrzej Kirmiel, Museumsdirektor Vorstand und Beirat des HKr Meseritz begrüßen und unterstützen das deutsch-polnische Projekt. Alle Heimatfreunde, die zum Thema Obrawalde über Erinnerungen, Informationen, Dokumente oder Anderes verfügen, bitten wir herzlich, sich entweder mit der HGr-Redaktion oder direkt mit Andrzej Kirmiel (E-Mail: andrzejkirmiel@gmail.com) in Verbindung zu setzen. |