Friedhof Kurzig – wiederentdeckt!
Und nun?


Text: Albrecht Fischer von Mollard, Fotos: Archiv HGr, H. Mach


Die traurige Nachkriegsgeschichte der ehemaligen evangelischen Friedhöfe östlich der Oder ist hinreichend bekannt. Nachdem bis Ende Juni 1945 mit wenigen Ausnahmen die dort ansässigen Deutschen aus ihrer Heimat vor der Roten Armee geflohen bzw. die Dortgebliebenen über die Oder Richtung Westen vertrieben worden waren, gab es niemanden mehr, der sich um die Grabstätten der Vorfahren hätte kümmern können, so dass diese sehr bald in Vergessenheit gerieten, von Wildwuchs überwuchert wurden und quasi in einen Tiefschlaf verfielen.

Soweit das Narrativ, das in Polen bisweilen herangezogen wird, um das Schicksal der protestantischen Friedhöfe in Westpolen zu erklären. Das ist jedoch allenfalls die halbe Wahrheit – zu welcher auch eine zweite Hälfte gehört. In den ersten Jahrzehnten nach dem II. Weltkrieg wurden die Grabsteine, die deutsche Inschriften trugen und damit Zeugnis von der deutschen Vergangenheit dieser Regionen gaben, bis auf wenige Ausnahmen „einer neuen Verwendung zugeführt“.

Sie wurden als Baumaterial eingesetzt oder kurzerhand abgeschliffen, um anschließend auf polnischen Gräbern mit polnischen Inschriften wieder aufgestellt zu werden. Die evangelischen Friedhöfe selbst wurden geschleift, wurden quasi offenes Brachland und verwilderten, von Gestrüpp und Brennnesseln überwuchert. Sie waren als einstmalige Gottesacker nur in seltenen Fällen noch zu erkennen und fristen teilweise noch heute ein trauriges Dasein, wenn ich beispielsweise an mein Heimatstädtchen Tirschtiegel/Trzciel, denke, wobei ich Einzelheiten zum Umgang mit unserer dortigen ehemaligen Familiengruft -soweit sie mir überhaupt bekannt sind- hier nicht weiter ausführen möchte.

Diesen zweiten Teil der historischen Wahrheit über deutsche Friedhöfe in Polen in Erinnerung zu rufen, ist keinesfalls als Anklage zu verstehen, er gehört lediglich ebenfalls zu einem nicht eben leuchtenden Kapitel der deutsch-polnischen Geschichte!

Die vom deutschen Überfall bis zum Ende des unseligen Krieges in deutschem Namen verübten millionenfache Verbrechen, gerade auch in Polen, lassen alle Handlungen des geschundenen Landes nach dem Krieg aus heutiger Sicht vielleicht nicht akzeptabel, zumindest aber verständlich und nachvollziehbar erscheinen!

Spätestens 1989, dem Jahr der großen Wende in den Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts und der Einführung demokratischer Regierungssysteme - allen voran Polen – endete die staatliche Geschichtsklitterung mit ihrer simplen Negierung der z. T. mehrere Jahrhunderte währenden deutscher Kulturgeschichte östlich von Oder und Neiße. Damit einher ging auch ein Umdenken im Umgang mit den ehemaligen evangelischen Friedhöfen in Polen.

Dieser Paradigmenwechsel manifestierte sich u.a. in der Zulassung einer zunächst rein privaten Initiative unseres Freundes und Mitglied des HKr Meseritz, Tomasz Czabanski, aus Posen/Poznan. Er hatte sich in den 1990-er Jahren aus christlichen Motivation zur Aufgabe gemacht, die gegen Ende des Krieges bei Kampfhandlungen umgekommenen und fernab von Friedhöfen anonym in Einzeloder Massengräbern verscharrten Soldaten und zivilen Opfer in Westpolen aufzuspüren, zu exhumieren und ihre sterblichen Überreste in einer christlichen Bestattungszeremonie auf Kriegsgräberstätten beizusetzen.

Der daraus hervorgegangene Verein POMOST hat auf diese Weise bis heute für insgesamt mehr als 24.000 Kriegsopfern ein christliches Begräbnis ermöglicht und dabei nahezu die Hälfte der Opfer identifizieren können, so dass deren Angehörige Gewissheit über das Schicksal ihrer bis dahin als vermisst geltenden Verwandten erhielten.

Nun wurde es auch möglich, in Absprache mit den Kommunalbehörden vor Ort Gedenksteine mit zweisprachigen Inschriften zur Erinnerung an die bis 1945 in der Heimat beerdigten und ihrer Grabsteine beraubten Vorfahren der früheren deutschen Einwohner auf den ehemaligen evangelischen Friedhöfen aufzustellen. Den nach Kriegsende von der Sowjetunion aus ihrer Heimat Ostpolen ausgewiesenen Einwohnern, die sich nach ihrer Vertreibung in den ehemals deutschen Städten östlich der Oder ein neues Zuhause suchen und eine neue Existenz aufbauen mussten, waren und sind die aufgestellten Gedenksteine möglicherweise auch Orte der Erinnerung an ihre eigenen Vorfahren, die sie jenseits von Bug und San hatten zurücklassen müssen und die damit ein ähnliches Schicksal erleiden mussten wie die zuvor vertriebenen Deutschen.

Der erste Gedenkstein in unserer Heimatregion wurde auf dem nach Kriegsende eingeebneten evangelischen Friedhof in Meseritz/Miedzyrzecz Pfingsten 1995 eingeweiht (siehe HGr 132/1995). Ihm sollten im Laufe der Jahre noch etliche Gedenkstein-Enthüllungen in anderen Ortschaften im Kreisgebiet folgen, von Betsche/Pszczew und Birnbaum/Miedzychod bis Tirschtiegel/Trzciel und Wischen/Wyszanowo.


Lapidarium Friedhof Meseritz mit 94 Grabsteinen von deutschen Friedhöfen
Lapidarium mit 94 Grabsteinen von deutschen Friedhöfen


Auch die Initiative des ehemaligen Direktors des Krankenhauses in Meseritz, Leszek Kolodziejzak, wäre in den Zeiten des Kalten Krieges undenkbar gewesen: Bei Finanzierung durch die Stadt und den Kreis Meseritz wurde auf dem in den 1960-er Jahren aufgelassenen ehemaligen katholischen Friedhof im Jahre 2019 ein sog. Lapidarium errichtet (siehe HGr 230/2019), eine Sammlung von 94 Grabsteinen, die großenteils noch von dem ehemaligen, um 1609 angelegten evangelischen Friedhof in Meseritz stammen, der nach 1945 verwilderte, geschunden und geschleift und in den 1970-er Jahren schließlich zu einem Stadtpark umgestaltet wurde. Für mich ist das Lapidarium ein beeindruckendes Zeichen der Bereitschaft Polens zur Aussöhnung mit dem Land, das 1939 unsagbares Unglück und millionenfaches Leid über ganz Europa, insbesondere auch über Polen selbst gebracht hatte.

Es war reiner Zufall, dass ich im Spätherbst des gleichen Jahres von einem mir unbekannten Heimatfreund eine E-Mail erhielt:

Hallo liebe Heimatfreunde,
lieber Vorsitzender,
ich bin bei Recherchen auf Ihre tolle Seite gestoßen und freue mich sehr darüber. Endlich eine neue Quelle für Infos über Meseritz und vielleicht auch über den Nachbarort Kursko, dem damaligen Kurzig. Durch die Heirat meiner Frau, welche aus Meseritz stammt, ist die Gegend, zumindest zeitweise meine 2. Heimat geworden. Meine Frau und ich sind sehr interessiert an der Historie dieser Stadt und der gesamten Umgebung. Vielleicht haben wir nun die Möglichkeit, auf diesem Wege neue Informationen zu Kursko (evtl. alte Fotos) zu bekommen. Andererseits könnte man sich ggf. auch selbst einbringen um Ihre interessante Seite evtl. auch mit eigenen Beiträgen vervollständigen. Viele liebe Grüße aus Hürth bei Köln sendet. Heinrich Mach


Noch am gleichen Tag erreichte mich eine weitere Nachricht:

Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
mit immer noch großem Interesse stöbere ich im Internet auf Ihrer tollen Seite über Meseritz. Dabei bin ich auf den außerordentlich interessanten Bericht „Ein außergewöhnliches Lapidarium“ gestoßen.
Bei meinen Spaziergängen in der Gegend um Meseritz bin ich auch auf einen kleinen, wohl vollkommen verlassenen und von Moos bewachsenen, alten, deutschen Friedhof gestoßen. Innerlich blutet jedes Mal mein Herz, wenn ich daran denke, dass hier die Gebeine vieler Menschen liegen, an die wahrscheinlich niemand mehr denkt.
Alle Grabsteine sind umgestoßen oder mit den Jahren durch die Wurzeln immer größer werdender Bäume aus dem Gleichgewicht gebracht worden. Es tut mir so leid, dass dieser Ort offensichtlich vollkommen vergessen wurde und sich Niemand mehr darum kümmert. Vielleicht verfasse ich einen Bericht über diesen verlorenen Ort. Ich frage mich oft, wer die Menschen wohl gewesen sind, deren Namen auf den Grabsteinen stehen. Ob es noch Nachkommen oder Verwandte gibt?
Es ist alles sehr spannend und interessant.
Viele Grüße
Heinrich Mach



In meiner Antwort auf beide Nachrichten bedankte ich mich natürlich für die anerkennenden Worte zum Internetauftritt des HKr Meseritz und ebenso selbstverständlich empfahl ich ihm eine Mitgliedschaft in unserer Gemeinschaft, um „die Quelle für Infos über Meseritz und auch Kurzig“ stetig sprudeln zu lassen.

Wörtlich fuhr ich dann fort:
»Was Sie zu dem vergessenen kleinen Friedhof schreiben, erstaunt mich. Nach meiner Erfahrung haben „die Polen“ – natürlich nicht alle(!) – sich ziemliche Mühe in unserer Heimatregion gegeben, jeden evangelischen Friedhof zu schleifen, zu schänden, zu plündern – gründlich und konsequent – was auch viele heute bedauern. Mich würde sehr interessieren, wo dieser Friedhof zu finden ist, der versteckt und noch unzerstört vor sich hinschlummert.
Wenn Sie einen Beitrag für den HEIMATGRUSS schreiben wollen (bitte mit einigen Bildern), dann herzlich gern. Denn die Vereinszeitschrift steht und fällt natürlich mit der Bereitschaft seiner Mitglieder, aber auch von Gästen, Artikel zu schreiben. Aber ich hege ja die Hoffnung, dass wir Sie eines Tages als Mitglied werden begrüßen können.“

Dann riss der Kontakt ab – absolute Funkstille. Es folgten die langen Monate der Pandemie mit ihren zahlreichen, sich immer wieder ändernden Vorschriften. Ich selbst hatte in dieser Zeit eine lange, gesundheitlich schwierige, auf des Messers Schneide stehende Phase zu überstehen, und die Kommunikation mit Herrn Mach geriet bei mir komplett in Vergessenheit.

Umso überraschender war die Nachricht, die ich im März 2023 in meiner Mailbox fand:

Guten Abend Herr Fischer von Mollard,
ich hoffe, Ihnen geht es gut und Sie sind wohlauf.
Zunächst möchte ich mich dafür entschuldigen, dass ich mich mehrere Jahre lang nicht mehr gemeldet habe. Irgendwie war immer etwas anderes. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
Anbei sende ich Ihnen einige Fotos von dem alten Friedhof in Kurzig, zu dem ich Ihnen damals, in 2019, bereits kurz geschrieben habe. Weiterhin habe ich in der Flurkartenübersicht der Gemeinde Meseritz, den Friedhof sogar verzeichnet gefunden. Bei Google Maps ist er kaum auszumachen. Vielleicht gibt es die Möglichkeit, den alten Friedhof nicht ganz verfallen zu lassen oder wenigstens die noch vorhandenen Grabsteine würdevoll zu bergen und ins Lapidarium verbringen zu lassen. Eines der Gräber wird immer noch gepflegt und es steht auch gelegentlich noch eine brennende Kerze auf diesem Grab. Allerdings war ich nun auch bereits 2 Jahre nicht mehr an diesem Ort. Werde jedoch im April erneut dort vorbeischauen.

Mit freundlichen Grüßen,
Dipl. Ing. Heinrich Mach

Zusammen mit dieser Nachricht schickte mir der Heimatfreund verschiedene Lagepläne und eine Auswahl teilweise beeindruckender Fotografien vom ehemaligen evangelischen Friedhof in Kurzig. Der ursprünglich in Aussicht gestellte Bericht war allerding nicht dabei.

Der Vorschlag einer würdevollen Bergung der noch vorhandenen Grabsteine in Kurzig scheint mir als relativ Außenstehendem sinnvoll zu sein, aber jeder weiß auch, dass dafür zum einen behördliche Genehmigungen erforderlich wären und andererseits müsste ein solches Vorhaben bzw. ein solcher Versuch auch finanziert werden.
Und wer wäre dazu bereit? Am ehesten wohl diejenigen, die ein Interesse an der Rettung der Grabsteine und Verbringung zum Lapidarium nach Meseritz hätten. Und nach Lage der Dinge scheinen mir das die ehemaligen deutschen Einwohner von Kurzig und deren Nachfahren zu sein …

Liebe Kurziger Heimatfreunde,
wäret Ihr bereit und in der Lage, dieses buchstäblich traumhafte und zugleich großartige, herausfordernde Projekt gemeinsam zu stemmen?
Kontakte nach Miedzyrzecz sind vorhanden und wir würden das Vorhaben im Interesse Eures Heimatortes wie auch des HKr Meseritz nach besten Kräften unterstützen. Zudem wäre es ja nicht auszuschließen, dass sich auch in Meseritz und/oder speziell in Kurzig/Kursko Freunde finden ließen, die ein solches Vorhaben – gerade auch mit Blick auf den oben beschriebenen Leidensweg der deutschen Friedhöfe in der Vergangenheit – unterstützen würden.

Kurziger Heimatfreunde, meldet Euch bitte – entweder bei der Redaktion HGr
oder bei Albrecht Fischer von Mollard.



Zufahrt zum Friedhof Kurzig
Zufahrt zum Friedhof Kurzig
Quelle: e-geoportal Miasta i Gminy Miedzyrzecz


Friedhof Kurzig
Friedhof Kurzig


Friedhof Kurzig
Friedhof Kurzig


Friedhof Kurzig
Friedhof Kurzig


Friedhof Kurzig
Friedhof Kurzig