Aus polnischen Zeitungen: „Zum Schaden von Deutschen und Polen“
Gespräch der Journalistin Maria Nowak von „Glos Wielkopolski“
mit Prof. Hubert Orlowski, einem hervorragenden polnischen Germanisten


Maria Nowak: Aus Wielkopolska (Großpolen) wurden im Zweiten Weltkrieg etwa 160.000 Menschen vertrieben. Die Wohnungen, Häuser und Bauernhöfe der Vertriebenen wurden von Deutschen besetzt. Die Polen sind ihnen nicht begegnet - weder damals, noch als sie in ihre Häuser zurückkehrten, weil die Deutschen geflüchtet oder ihrerseits vertrieben waren. Gibt es zu diesem Thema ausreichend Literatur, die uns diese Deutschen kennenlernen lässt?

Dr. H. Orlowski: Ja, in Deutschland gibt es eine ungeheuer zahlreiche Literatur zu diesem Thema, die sogenannte Vertreibungsliteratur. Ich möchte jedoch betonen, daß ich den Begriff „Vertreibung“ nicht anwende. Es ist ein so stark mit Emotionen geladener und zugleich an politischem Inhalt reicher Terminus, daß seine Verwendung einem Forscher nicht zusteht.

Maria Nowak: Es ist schwer, sich in diesem Fall von Emotionen zu lösen.

Dr. H. Orlowski: Ich verwende die Bezeichnung „Enteignungsliteratur“, also Literatur des Gefühls, daß einem Schaden zugefügt wurde. Es ist dabei unwichtig, ob der Schaden wirklich eingetreten oder nur eingebildet ist - wir leben jedoch mit dem Gefühl. Als Forscher nehme ich keine eigene Bewertung vor, was nicht bedeutet, daß ich keine Meinung zu diesem Problem habe. Aber hier will ich das Bild kennenlernen und analysieren, das die Deutschen im Gedächtnis bewahren. Ich persönlich vertrete die Meinung, daß gegenseitiges Verständnis wichtiger als die Versöhnung ist. Verständnis für den anderen bedeutet aber nicht, daß ich seine Ansicht akzeptiere.

Maria Nowak: Verständnis ist eine Versöhnung.

Dr. H. Orlowski: Versöhnung kann sich zwischen konkreten Menschen einstellen aber nicht zwischen Völkern, obwohl man hier verschiedene symbolische Akte begehen kann, wie die historische Begegnung zwischen dem großen Kanzler Kohl und dem klein gewachsenen Premierminister Mazowiecki in Kreisau. Zum Jahrestag werden die beiden sich wieder treffen und obgleich es ein wichtiges Ereignis ist, ist es doch eher ein symbolischer Akt.

Maria Nowak: Versuchen wir also zu verstehen, wie es die Deutschen sahen, die auf die Stellen der vertriebenen Polen kamen.

Dr. H. Orlowski: Über Deutsche allgemein können wir eigentlich nicht sprechen, weil es drei verschiedene Gruppen gab: Reichsdeutsche, also Funktionäre und Beamten, die aus dem „Altreich“ kamen, Volksdeutsche, also jene, die hier schon lebten und sich als Deutsche betrachteten sowie Baltendeutsche, die aus Estland, Lettland und Litauen ins Wartheland kamen. Ich stellte mir die Frage, ob es aus der letzten Gruppe ebenfalls Schrifttum zu diesem Thema gibt und fand heraus, daß dies der Fall ist.

Maria Nowak: Wodurch zeichneten diese Menschen sich aus?

Dr. H. Orlowski: Sie kamen unfreiwillig in unser Land. Sie hatten sich in einer ausweglosen Lage gesehen: entweder unter sowjetische Herrschaft zu geraten, oder auszureisen. Es ist eine interessante Gemeinschaft; in der Regel wohlhabend und gebildet. Bürgerliche und Gutsbesitzer. In einer Erinnerung schreibt eine Autorin, daß es für das Mitnehmen von Wertsachen Begrenzungen gab. Und bevor der Zoll sie das Schiff besteigen ließ, mit dem sie nach Gdingen gebracht wurden, wurden die Preziosen gewogen. Ihre Familie durfte 35 kg Tafelsilber der Familie mitnehmen, nachdem sie dem Staat einige Erstdrucke aus ihrer Sammlung übergeben hatte. Es waren Adelsgeschlechter, deren Geschichte bis in die Zeit der Kreuzritter zurückreicht bzw. sehr wohlhabende Kaufleute aus den Hansestädten an der baltischen Ostseeküste, mit einer hohen Kultur.

Maria Nowak: Eher immun gegen die Naziideologie?

Dr. H. Orlowski: Eher ja. Sie fühlten sich ethnisch nicht so stark als Deutsche. Sie hatten dort seit einigen hundert Jahren gelebt und mußten ihre ganze Vergangenheit zurücklassen. In einem bestimmten Sinne waren sie auch Opfer.

Maria Nowak: Ich habe ein ungutes Gefühl bei solchen Vergleichen, wenn die Opfer nicht wirklich vergleichbar sind.

Dr. H. Orlowski: Ich gewichte diese Opfer nicht gleich, ich analysiere nur das Gefühl der Baltendeutschen im Vergleich zu den Gefühlen anderer Deutscher. Die oben erwähnte Autorin erinnert sich an den Posener Bahnhof, der 1945 voll fliehender Deutscher war. Sie empfindet Schmerz, daß sie fliehen muß, beschuldigt aber weder Polen noch Russen, sondern den Krieg. Ein inteessantes Werk ist ein Hörspiel unter dem ziemlich symbolhaften Titel „Hinter geschlossener Tür“ von dem aus Estland stammenden Fred von Hoerschelmann. Stellen Sie sich vor - es erschien 1951, am Gipfelpunkt des Kalten Krieges.

Maria Nowak: Und was verbarg sich hinter dieser geschlossenen Tür?

Dr. H. Orlowski: Das Hörspiel beginnt mit einer Szene der Vertreibung von Polen aus Posen, also Poznan, im Jahre 1939. Es ist keine Idylle, weil man im Hintergrund polnisches Geschrei und das Weinen hört: „Gott, wohin vertreiben sie uns?“ Die Hauptfigur ist ein Balte, der einen Hof bei Posen übernimmt. Es ist ein Schock für ihn. Er hatte sich als Opfer gefühlt und sieht sich nun in der Rolle des Täters. Dieser Vertriebene versteht die Vertriebenen - das gibt es sonst in der ganzen „Vertreibungsliteratur“ nicht . Eine berühmte Parole der Nazis lautete : „Dein Haus ist im Reich“. Und hier zeigte sich nun, daß es eben nicht so war. Den Polen hat übrigens ein Jude die Wertsachen abgekauft und er ist es, der sich hinter dieser verschlossenen Tür verbirgt. Dem Deutschen stirbt der Bruder und so gibt er den Juden als seinen Bruder aus. In dieser Fabel beschreibt der Autor auch Polen, die auf seinem Gutshof arbeiten, und er tut es mit Wohlwollen. Das Hörspiel wurde später in die Reihe „Gute Literatur“ aufgenommen und einige Jahre später war es Teil der für die Arbeit mit Schülern empfohlenen Lektüre-Liste.

Maria Nowak: Nicht etwa deswegen, weil der Deutsche einen Juden rettete?

Dr. H. Orlowski: Es ist wahr, daß die Deutschen ein großes Schuldbewußtsein gegenüber dem Holocaust empfinden, mit dieser Darstellung beginnt fast jeder deutsche Auftritt im Kontext des Krieges; worauf wir böse sind ist, daß der uns zugefügte Schaden im Schatten des Holocaust verschwindet. Aber die Tatsache bleibt eine Tatsache - in diesem Hörspiel kommt der Schaden, den die vertriebenen Polen erlitten, zum Ausdruck und ihr Bild ist ehrlich, ohne jede Spur von Einordnung als Untermenschen. Bemerkenswert an dieser „Baltenliteratur“ ist auch, daß sie über die Zeit der Besetzung Polens durch die Deutschen erzählt, wobei die Handlung der bedeutenden Mehrheit deutscher Bücher über Vertreibung und Flucht erst im Jahr 1945 beginnt …

Maria Nowak: Ich sehe hier ein anderes Buch mit dem Titel „Polnische Wirtschaft“

Dr. H. Orlowski: Es erschien viel später, im Jahr 1981, also aus einer ganz anderen Zeitperspektive. Der Titel ist auch zweideutig. Die Handlung beginnt im Jahr 1944, der Rückblick setzt aber in dem Moment ein, als sie sich hier niederließen. Ein interessante Sache ist, daß unter den Baltendeutschen ein Jüngling erscheint, der im Begriff ist, sich von der Naziideologie freizumachen: Polen werden symphatisch dargestellt, schwarze Charaktere hingegen sind die Deutschen aus dem „Altreich“ und die Volksdeutschen. Sie besitzen die Macht: sie saufen, rauben, gehen ihren Geschäften nach. Bald kommen mehr als hundert Vertriebene aus Deutschland zu einer Konferenz über Vertreibungen nach Posen. Ich bin gespannt auf ihre Reaktionen und Erinnerungen. Ich denke, daß sie auch Ausflüge zu den Häusern und Gutshöfen, wo sie wohnten, unternehmen werden.

Maria Nowak: Denken Sie, daß diese „ihre“ Plätze nicht liebgewonnen haben?

Dr. H. Orlowski: Ich weiß es nicht. Die Autorin der Erinnerungen begeistert sich für polnische Landschaften. Und, was interessant ist: sie erinnert sich daran, daß sie sich noch 1944 entschlossen hatten, auf ein besseres Gut umzuziehen, irgendwo bei Kutno. Und die Front näherte sich schon von der Weichsel her. Wie gutgläubig sie waren .