|
Obrawalde im Wandel von Norbert Tarsten Die Ausgabe des Heimatgrusses Nr. 202 brachte u. a. in den poln. Nachrichten einen Bericht vom Besuch polnischer Studenten der FH Landsberg/Gorzow mit ihren Professoren im Meseritzer Museum und in der Nervenklinik im Ortsteil Obrawalde. Da der Text recht kurz gefaßt ist, werfen auch noch die Bilder - nicht nur für den hiesigen Leser - Fragen auf. Die einst (1904) als Provinzial-Irrenanstalt Obrawalde bei Meseritz gegründete Einrichtung war bei ihrer Eröffnung die vierte in der preußischen Provinz Posen. Die Anlage der Anstalt hatte im Verlaufe ihres mehr als hundertjährigen Bestehens nicht nur ihre Verwaltungszugehörigkeit geändert, sondern ihren Namen und ihre Aufgaben, die ihr zugewiesen wurden. Für die angeordneten Veränderungen wurden stets Menschen gesucht und auch gefunden, die den Vorgaben gerecht werden sollten und evtl. auch willens waren, die skizzierten Erwartungen zu erfüllen. Je weiter wir vom Ende der deutschen Verwaltung der Anstaltsleitung entfernt sind, desto zahlreicher werden die Quellen, die über das Geschehen - hier insbesondere der Jahre 1942-1945 Aufschluß geben können, wobei das letzte Jahr (1945) einen dreifachen Wechsel nicht nur der Anstaltsleitung zur Folge hatte. Die deutsche Verwaltung endet mit dem Auftreten der Soldaten der Roten Armee am 29. Januar 1945 und der Übernahme aller Zuständigkeiten seitens des sowjetischen Militärs, die Übergabe an die polnische Verwaltung erfolgte am 1. Juli 1945. Auch die Zeit danach wirft viele Fragen auf. Die junge polnische Generation denkt freier und spricht ihre Gedanken auch in fremden Sprachen aus. Sie stellt Vergleiche an. Sie ist mißtrauisch gegenüber offizieller Darstellung und lancierter Meinung geworden, weil diese nicht nur als tendenziös angesehen bzw. empfunden wird. So beginnt die Suche nach einem Kern - auch der Wahrheit. Diese Suche zeugt doch vom gesunden Denken der heranwachsenden Generation. Sicherlich ehrt es die Initiatoren des ersten Gedenksteins für die Opfer der sog. Euthanasieprogramms. Der Stein wurde 1966 auf dem Gelände der Anstalt in Obrawalde errichtet. Nur eine annähernd hohe Opferzahl von 10 000 wurde damals angegeben. Ob diese Zahl stimmt, ist eventuell für das Gedenken der Opfer nicht so vordergründig. Die Zahlen der Opfer von Obrawalde beschäftigen dennoch auch die Politiker. Oft gehen auch sie mit diesen pietätlos um, als wollten sie Zahlenspiele betreiben. Die polnischen Wissenschaftler haben anhand von Unterlagen, gemeint sind die Sterbebücher (10 Stück), die Zahl der Sterbefälle vom 01. 01. 1942 - 28. 01. 1945 auf 6 991 Personen festgelegt. Die Fotokopien der Sterbebücher sind dem Berliner Landesarchiv am 26. Januar 2010 übergeben worden. Nun lagern die Sterbebücher mit fast 5 000 Namen der getöteten behinderten Patienten wieder im Archiv. Diese Patienten stammten aus vielen Gegenden der Dritten Reiches und auch aus Ländern des Kriegsgeschehens. Es wäre auch zu wünschen, daß die Aussage des stellvertretenden Leiters der polnischenn Botschaft, Herrn Wojciech Pomianowski, bei der Übergabezeremonie der Kopien von Sterbebüchern „eine europäische Zukunft ohne gemeinsame Erinnerung ist unmöglich“ stets ein Begleitmotto bei Aktionen in der Erinnnerungskultur bleibt. Die jungen Menschen fragen unvoreingenommen, was geschah mit den 1.000 Patienten, die beim Einzug der Roten Armee noch auf dem Gelände der Anstalt Obrawalde anwesend waren? Wie wurden sie versorgt? Wann wurden sie ausgesiedelt? Wer hat dies angeordnet? Wohin kamen sie? Was waren das für Menschen? Waren da auch Faschisten, die verhaßten Deutschen, auch Versuchungskaninchen aus anderen Ländern dabei? Ich aber frage: Warum sind nach Übergang der Verwaltung an polnische Behörden, also ab 1. Juli 1945 - mehr Patienten gestorben als unter den Sowjets? Gab es einen Entzug der Nahrung? Wo mußten die Patienten arbeiten, wurden sie körperlich mißhandelt? Wann begann die richtige Behandlung auch für die Zurückgebliebenen, die Deutschen? Es sind nur einige Fragen, die die Erinnerungskultur einbeziehen sollte. Oft wird doch beschworen: Es gilt eine Wiederholung von Verbrechen zu verhindern. Haß kann als menschliche Eigenschaft gelten. Sind aber Handlungen aus dem Gefühl des unkontrollierten Hasses, der Rache, immer entschuldbar? Die zur Zeit sichtbare Neugestaltung der Heilanstalt und des gesamten Komplexes der Anlage in Obrawalde richtet das Augenmerk auf andere Aufgaben, Nöte und evtl. Sorgen. Die Ausstellung in der „Stube der Erinnerung“ im 1. Stock des Verwaltungsgebäudes in Obrawalde enthält viele Unterlagen in russischer Sprache. Übersetzungen fehlen. Es mag verwundern, daß die Sterbebücher im Archiv in Landsberg/Gorzow aufbewahrt werden, nicht eines aber liegt am Ort des grausamen Geschehens. Zahlreich sind inzwischen die Schriften über das Geschehen in der Kriegszeit in der Anstalt Obrawalde, doch die zahlreichen Fragen lassen erkennen, daß da Lücken bestehen, sachliche Zusammenhänge in der Darstellung fehlen. Das ausgelegte Bildmaterial ist wenig aufschlußreich. Sicherlich setzte die Erforschung der Opfergeschichte in Obrawalde spät ein, aber für ein würdiges Gedenken sind weitere Fakten auch aus dem Jahre 1945 unentbehrlich. Auf dem Gelände der Anstalt sind zwischenzeitlich weitere Gedenksteine hinzugekommen. Sie mahnen. Nach Motiven ihrer Errichtung fragt niemand. Eine Lehre für die Zukunft kann nur auf Korrektheiten und Vollständigkeit fussen und zum gewünschten Ergebnis zu kommen. |