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Tirschtiegel „Die Weidenstadt des deutschen Ostens“
Textquelle: „Der Bergfried“ Heft 42, Jahrgang 1936, zugesandt von
Albrecht Fischer v. Mollard - Fotos: Archiv Heimatgruß
In der ehemaligen Provinz Westpreußen liegt im Kreis Meseritz nahe der polnischen Grenze das Städtchen Tirschtiegel, das durch seine Korbweidenindustrie bekannt ist und die im Reich einzige Korbmachermeisterschule unterhält. Mit dem Verlust des Ersten Weltkrieges, dem Ende der Monarchie und den im Versailler Vertrag auferlegten Reparationskosten, Wirtschaftsblockaden und Landabtritte im Osten wie im Westes sind hier besonders durch die neue Grenzziehung Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit wirksam geworden.
Durch die Einfuhr von Weiden aus dem Ausland sanken die Preise für dieses einheimische Erzeugnis auf einen so niedrigen Stand, daß jede Wirtschaftlichkeit geschwunden war und viele Bauern die Pflanzen ihrer Weidenkulturen kurzerhand ausrissen, um den Boden durch Anbau anderer Feldfrüchte zu nützen. W ie überall im Reich, hat sich auch in Tirschtiegel die Parole „Bedarfsdeckung mit eigenen Erzeugnissen“ sehr günstig ausgewirkt. Die Korbweide, die einst aus Amerika eingeführt worden ist, wird jetzt hier wieder in großen Mengen angebaut. Man kann sagen, daß die Bewohner der kleinen Grenzstadt durch den Weidenanbau und durch die Flechterei von Körben, Gebrauchsgegenständen und geflochtenen kunstgewerblichen Artikeln fast ausschließlich ihren Lebensunterhalt erwerben. Die Pflanzer erhalten heute für ihre Weidenzweige wieder doppelt soviel Geld wie in der Krisenzeit gezahlt; der Absatz ist sowohl am in- wie auch am ausländischen Markt beträchtlich.
Die Tirschtiegeler Bauern verwenden für ihre Kulturen Strauchweiden, die sie feldmäßig anpflanzen. Die Anbauflächen müssen nicht nur gründlich vor dem Pflanzen vorbereitet, sondern auch während des mehrjährigen Wachstums ständig gepflegt werden.
Das Setzen der Stecklinge erfolgt in bestimmter
Anordnung, die für ein bequemes Abernten
notwendig ist. Die Ernte fällt in den Spätherbst
und Winter. Im ersten Ertragsjahre werden
die Zweige dicht über dem Boden am Stockansatz
mit der Schere, vom zweiten Jahre ab mit einem
scharfen Messer geschnitten.
Die geschnittenen und gebündelten Ruten
werden zu Hause nach Längen aussortiert. Zu diesem
Zweck stellt man die Weidenzweige in ein Faß
und zieht die längste Rute heraus, bis die kürzesten
übrig bleiben. Der Verkauf geschieht nach Gewicht.
Das Schälen der Weiden wird von den Einheimischen
gewöhnlich selbst vorgenommen. Vonder genauen Kenntnis des Schälvorganges und der
Befolgung alterprobter Regeln hängt die Güte des
Erzeugnisses ab. Um die Ruten geschmeidig zu
machen, so daß sich ihre Rinde leicht abschälen
läßt, unterwirft man sie der sogenannten „Schäle“.
Im Frühjahr werden die Weiden von den Bauern,
die zu dieser Tätigkeit im feuchten Element
Röhrenstiefel aus Blech anlegen, in die Schälteiche
oder in fließendes Wasser gestellt, wo die geschnittenen
Gerten, wie es in der Fachsprache heißt,
„ansaften“ müssen. Erst nach mehr als sechs Wochen
ist dieses Wässern beendet.
Jetzt bekommen die Mädchen und Frauen
auf den Höfen viel Arbeit. Die angesafteten Ruten
werden bei gutem Wetter unter freiem Himmel auf
ein eigentümliches Gerät, den „Klemmbock“ gebracht.
Beim Hindurchziehen der Gerten durch die
beiden eng aneinanderliegenden Metallstöcke wird
die Rinde abgestreift.
Kommt man zur Zeit des Weidenschälens in
die Tirschtiegeler Gegend, so erblickt man auf
weiten Flächen rings um die Stadt die zum Trocknen
in der Sonne ausgebreiteten hell leuchtenden
Weidenruten. Das Binden der getrockneten Bündel,
die wie die Puppen eines Getreidefeldes aufgestellt
werden, ist keine leichte Arbeit.
Unter allen Anbaugebieten der Korbweide hat das Grenzstädtchen die besten Ernten zu verzeichnen. Zum größten Teil wird das einheimische Erzeugnis an Ort und Stelle von den Unternehmern der Korbweidenindustrie gekauft und in Heimarbeit weiterverarbeitet. Vor der Verwertung müssen die ausgetrockneten Weidenzweige durch Einweichen biegsam gemacht werden.
Beim Herstellen
von Körben
flicht man den
Korbboden auf
Scheiben und
die Seitenwände
über klotzartige
Formen.
Viel Handfertigkeit
und Erfahrung
ist für
das Flechten
von Korbmöbeln
erforderlich.
Zur Herstellung
von handgeflochtenen
Tellern
usw. müssen
die Ruten
mit Hilfe des
„Reißers“, eines besonderen Messers, gespalten und ihre rauen
Schnittflächen abgehobelt werden.
Die Tirschtiegeler Korbwaren zeichnen sich durch ihre Güte, Haltbarkeit und Formenschönheit aus. Schon heute reicht der Ertrag unserer Ernten wieder aus, den Rohstoffbedarf der Korbwarenindustrie im Inland zu decken. Die Tatsache ist für unsere Volkswirtschaft von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
Aus: Kaiserwerk der Landwirtschaft, Halle 1913
... „Heute wird der Hopfen nur noch sehr wenig gebaut. Seine Stelle hat die Korbweide eingenommen, deren Anbau seit dem Jahre 1875 von der Herrschaft Schloß Tirschtiegel aus durch das Beispiel ihres Besitzers in der Gegend bekannt geworden ist und deren Verarbeitung und Vertrieb die Korbmacher der Stadt Tirschtiegel bewirken.
Dieses Zusammenarbeiten der Landwirtschaft und des städtischen Kleingewerbes hat hier die schönsten Früchte getragen, und heute ist Tirschtiegel eine mustergültige Zentrale für Korbweidenkultur und Korbweidenhandel sowie Korbwarenindustrie geworden. Die geschälten weißen Weiden sind gelegentlich bis nach Frankreich, Dänemark, ja Amerika verkauft worden.“...
Joachim Schmidt: Weidenstadt Tirschtiegel - die Geschichte des Ernst Hoedt
Der Korbmacher Ernst Hoedt ging 1883 als 45-jähriger nach Amerika um dort sein Glück als Korbmacher zu versuchen und mehr zu verdienen. Er ließ sich in Brooklyn (New York) nieder und betrieb dort eine Korbmacherei. Hier lernte er eine wesentlich bessere Weide kennen, als es die deutsche Korbweide war.
Die Vorzüge der amerikanischen Weiden
sind: ein schnelleres und gleichmäßigeres Wachstum,
eine dichtere Belaubung und damit ein besserer
Bodenschutz vor Sonnenstrahlen und eine
größere Biegsamkeit, die eine bessere Verarbeitung
ermöglicht.
1888 reiste er wieder nach Deutschland zurück
und brachte junge ungeschälte amerikanische
Weiden, deren Ausfuhr in Amerika verboten war,
in Reisekörben verflochten nach Tirschtiegel. Hier
wurden die Körbe entflochten, aus den Weiden
Stecklinge geschnitten und gepflanzt.
Das neue Pflanzgut gedieh im Tirschtiegeler
Raum prächtig und wurde für das Korbmacherhandwerk
zu einem hervorragenden Geschäft.
Noch 13 mal reiste Ernst Hoedt über den Ozean
um in seiner Heimat Tirschtiegel nach dem Rechten
zu sehen. Dabei konnte er seine Berufskollegen
beraten und miterleben, wie durch die
amerikanischen Weiden das Korbmacherhandwerk
in Deutschland aufblühte.
Ernst Hoedt starb 1908 im Alter von 70 Jahren in Brooklyn (New York).
Wolfgang Herrmann: Weidenstadt Tirschtiegelt
Es mag für einige Bewohner Tirschtiegels ein Hobby
mit einer netten Aufbesserung des Wirtschaftsgeldes
gewesen sein, sich mit Schneiden und
Schälen von Korbweiden zu beschäftigen. Das war
für meine Großeltern Metha und Ernst Pöhlchen
aus der Obrastraße 55 (gegenüber von Schmied
Hämmerling) auch der Fall. Meine Mutter Lydia hat
bei dieser Arbeit oft geholfen.
Interessant war es für mich, daß ich
2002 in das ehemalige Haus meiner
Großeltern durfte und dort von der
Korbmacherfamilie Lubkowski
freundlich mit Kuchen und Tee empfangen
wurde. Brunfriede Fischer v.
Mollard hatte diese Begegnung
bestens organisiert und gleich ihre
Henryka Dabrowska als
Dolmetscherin mitgebracht. So ergab
sich eine fließende Unterhaltung.
Schon 1985 war Walter Brühl (Sohn
des früheren Rektors Oskar Brühl) in
Tirschtiegel gewesen und hatte mir
und meiner Frau einen Korb aus dem
Hause Lukowski mitgebracht. Auf
dem Dachboden lag eine große Anzahl
verschiedener Körbe. Ich erwarb
zwei, die meiner Frau und mir immer
noch gute Helfer beim Einkaufen
sind.
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