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Vor 70 Jahren:
Meine Flucht vor den Russen
Fritz Schulz
Wir wohnten in Tirschtiegel in der Bentschener
Straße 168, drei Häuser von dem evangelischen
Gemeindehaus und dem Friedhofseingang
entfernt.
Im Jahre 1941 zogen wir aus unserem
Haus nach Grätz, weil mein Vater, Max Schulz,
auf dem dortigen Landratsamt Kreispersonalinspektor
wurde. Wir vermieteten unsere Wohnung
in der rechten Haushälfte, in der linken
blieb meine Großmutter Olga Hannemann
weiterhin wohnen. So konnten wir bei jeder
Gelegenheit nach Tirschtiegel fahren und dort
auch wohnen.
Ein 3/4-Jahr lang ging ich bis zur Schulentlassung
nach Grätz noch zur Volksschule.
Der Schulleiter machte mir den Vorschlag, die
Prüfung für die Lehrerbildungsanstalt zu machen.
Nach meiner Einwilligung mußte ich
nach Schloß Eichenhain bei Posen fahren, um
dort die Prüfung abzulegen.
Es dauerte eine Woche und nach bestandener
Prüfung konnte ich wieder heimfahren.
Wenige Tage nach der Schulentlassung kam
die Einberufung nach Lüderitz / Labiszyn südlich
von Bromberg gelegen. Über Posen,
Gnesen, Hohensalza fuhr ich dorthin. Wir waren
in einem Gutshaus einquartiert, direkt an
der Netze gelegen.
In den Ferien konnten wir immer nach
Hause fahren, so auch in den Weihnachtsferien
1944. Weihnachten feierte ich bei der Familie
in Grätz und fuhr dann nach Tirschtiegel zur
Großmutter.
Nach Rückkehr zur Familie fuhr ich in
den ersten Januartagen von Grätz wieder nach
Lüderitz. Wir hatten nur ein paar Tage Unterricht,
als die Russen bei Thorn über die Weichsel
kamen. Der Schulleiter machte uns beim
Frühstück darauf aufmerksam und wir sollten
versuchen, so schnell wie möglich nach Hause
zu kommen.
Lüderitz hatte keinen Bahnanschluß und
wir mußten bis zum nächsten Bahnhof Hopfengarten
/ Brzoza 16 km laufen. Aus zwei gebrauchten
alten Wehrmachtsskiern baute ich
mir schnell einen Schlitten und konnte so mein
Gepäck darauf verstauen. Dann ging es zu Fuß
bis Hopfengarten. Dort erwischten wir gerade
noch den Räumzug. Es waren lauter offene
Loren bei minus 20°C . Ich hatte eine Wolldecke
mitgenommen und konnte mich einhüllen.
Der Zielbahnhof war Kreuz. Posen war
aber mein nächstes Ziel und nach vielem Halt
konnte ich irgendwo in einen Personenzug
umsteigen, der in Posen am nächsten Tag ankam.
Alle Bahnsteige waren voll belegt mit
Flüchtlingen und Gepäck, die auf Weiterfahrt
warteten. Man konnte kaum aussteigen, so
wenig Platz war überall. Auf der verkehrten
Seite, zwischen den Gleisen, stieg ich aus. Dort
sah ich in etwa 800 m Entfernung eine Lok unter
Dampf stehen. Ich dachte, die fährt bestimmt
nicht Richtung Osten und lief dorthin.
Es war ein Zug mit verwundeten Soldaten,
die mich mitnahmen. Der Zug fuhr
zunächst bis Wollstein. Von dort kam ich nach
Neu Bentschen, um weiter nach Tirschtiegel
zu fahren. Es fuhr aber kein Zug mehr dorthin.
Auf dem Bahnhof Neu Bentschen traf ich
den Tirschtiegeler Textilkaufmann Figulla. Er
sagte mir, daß viele Tirschtiegeler auch schon
geflüchtet sind. Ich soll in den nächsten
Flüchtlingszug steigen, um möglichst schnell
über die Oder zu gelangen.
Über Schwiebus, Sternberg, Reppen
ging es dann bis Frankfurt/Oder. Ich war froh,
daß der Zug wegen der schweren Luftangriffe
nicht nach Berlin fuhr, sondern nach Eberswalde.
Von dort aus kam ich in das nahegelegene
Finowfurth, wo wir in der Turnhalle
untergebracht wurden. Wir schliefen auf Strohlagern.
Ich trug immer noch die Uniform mit den
Ärmelstreifen Lehrerbildungsanstalt. Beim
Betrachten des Ortes sprachen mich zwei
Schüler an. Der jüngere war in der Schule
schwach und brauchte Hilfe. Der Ältere sagte,
wir fragen mal unsere Mutter, ob sie mich aufnehmen
würde. Sie hätten noch Platz für mich.
Ihr Vater war Soldat und nicht zu Hause.
Nach einer Weile kamen sie zur Turnhalle
und sagten, ihre Mutter würde mich aufnehmen.
Ich packte meine Sachen, ging mit und
stellte mich ihrer Mutter, der Frau Lieske vor.
Sie nahm mich auf und ich meldete mich bei
der Gemeinde und beim Wehrbezirkskommando
an, denn ich hatte schon einen
Wehrpass.
Nun hatte ich wieder eine feste Adresse,
schrieb an meine Tante Mathilde Hannemann,
deren Adresse ich noch wußte, nach Erfurt, ob
sie wüsste, wo meine Familie sich aufhält. Die
Post ging in den Februartagen 1945 nicht so
schnell, aber nach einigen Tagen bekam ich
eine Antwort. Sie teilte mir mit, daß meine
Mutter, Großmutter und meine zwei Brüder in
Laucha an der Unstrut in der Nähe von
Naumburg an der Saale bei ihrer Cousine Lina
Krummacher in der Oberen Hauptstraße wohnen.
Meine Mutter hatte auch meine Adresse
von der Tante in Erfurt erhalten. Ich war nun
schon einige Wochen bei der Familie in
Finowfurth und es war nun schon Anfang März
1945. Den Sohn hatte ich unterrichtet und wie
ich später erfuhr, wurde er auch versetzt.
Beim Einwohnermeldeamt und beim
Wehrbezirkskommando mußte ich mich nun
wieder abmelden, um nach Laucha zu meiner
Familie zu fahren. Beim Wehrbezirkskommando
weigerte man sich zunächst, mich fahren
zu lassen. Nachdem ich dort erklärt hatte,
daß ich nach monatelanger Flucht nun endlich
meine Familie wiedergefunden habe,
möchte ich sie vor meiner Einberufung noch
einmal sehen. So ließ man mich endlich fahren
und erklärte mir, mich beim dortigen
Wehrbezirkskommando sofort zu melden.
Der Abschied bei der Familie Lieske, die
mich als Flüchtling aufgenommen hatte, war
auch nicht einfach, aber es mußte eben sein.
So fuhr ich von Eberswalde aus nach Berlin.
Die Stadt sah furchtbar aus. Man sah
überall leere Fensterhöhlen und freistehende
Schornsteine. Die S-Bahn fuhr aber und ich
kam von Norden her auf den Anhalter Bahnhof.
Dort erwischte ich einen Zug über
Wittenberg nach Halle an der Saale.
Dort kam ich aber leider nicht an, weil
ein Luftangriff Halle angegriffen hatte. Der
Bahnhof war beschädigt und der Zug hielt 2
km vorher. Man mußte aussteigen und zu Fuß
in die Stadt laufen. Mit dem Gepäck war das
nicht ganz einfach.
In Halle brannte noch eine Zuckerfabrik
und am Bahnhof sagte mir ein Eisenbahner,
daß vorläufig kein Zug mehr vom Bahnhof abfahren
kann. Ich mußte bis zur nächsten Station
Ammendorf gehen, um einen Zug nach
Naumburg zu erreichen. So machte ich mich
auf den Weg nach Ammendorf. Ich hatte große
Mühe, das Gepäck den weiten Weg zu
schleppen, aber man konnte ja nichts wegwerfen,
denn es gab nichts zu kaufen. In Ammendorf
angekommen, fragte ich, wann der nächste
Zug nach Naumburg fährt. Wir fahren nur noch
nachts, wegen der Tiefflieger, war die Antwort.
So mußte ich warten und es ging im Dunkeln
über die Leunawerke, die auch stark zerbombt
waren, nach Naumburg. Kaum angekommen,
gingen die Sirenen und alle mußten
in den Luftschutzkeller. Gott sei Dank fielen keine
Bomben.
Am nächsten Morgen mußte ich wieder
den ganzen Tag warten bis es dunkel war, bis
der nächste Zug ins Unstruttal über Freyburg
und Laucha bis nach Artern fuhr. Es waren nur
noch 16 km bis Laucha. Dort angekommen
hatte ich bis zur Hauptstraße nur etwa 100 m
zu laufen. Nach etwa 300 m kam ich zur Hausnummer
45 und läutete. Meine Familie freute
sich sehr, daß ich nun endlich bei ihnen war.
Im Rathaus und dem Wehrbezirkskommando
in Querfurt meldete ich mich an.
Nach ein paar Wochen bekam ich die Einberufung
zur Wehrmacht mit dem Vermerk, wenn
ich noch nicht beim Arbeitsdienst gewesen bin,
sie wieder zurück zu schicken. Später bekam
ich dann die Einberufung zum Arbeitsdienst
nach Fulda. Im Radio kam aber über die Nachrichten,
daß amerikanische Truppen bis in den
Raum Fulda vorgestoßen sind.
Die Amerikaner waren auch schon in
Erfurt. Nach Fulda fuhr ich nicht mehr und nach
zwei Tagen waren die Amerikaner auch in
Laucha. Den Wehrpass und die Einberufung
steckte ich in den Ofen und der Krieg war für
mich aus.
Wenige Tage vor dem Einmarsch der
Amerikaner hatte ich noch ein sehr trauriges
Erlebnis. Die Cousine meiner Mutter Lina
Krummacker hatte sich beim Fleischer angestellt,
der seine ganze Ware verkaufte. Ein
Jagdbomber hatte die vielen Menschen auf der
Straße gesehen und feuerte mit dem Maschinengewehr.
Die Cousine meiner Mutter bekam
als einzige einen Lungendurchschuß und
starb.
Die, die uns alle aufgenommen hatten,
mußten nun ihr Leben lassen. Das Schicksal
ist oft grausam.
Meine Flucht war nun beendet. Leider
kamen nach ein paar Wochen die Russen. Bis
1954 war ich in der DDR und zog dann nach
Westdeutschland.
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