|
|
Vor 70 Jahren: Meseritz, Bahnhofstrasse 17
Jobst Parusel
Ich wurde am 19. Juli 1936 als zweiter von vier Söhnen des Zollgrenzkommissars Alfred Parusel in Betsche Kreis Meseritz geboren. Der Autor verlebte eine glückliche Kindheit in der Mark Brandenburg bis zum 31. Januar 1945, als er mit seiner Mutter und den drei Brüdern vor der herannahenden russischen Armee die Garnisonsstadt verlassen mußte. Damals bewohnte die Familie in Meseritz an der Bahnhofstrasse 17 eine geräumige Fünf- Zimmer-Wohnung in einem klassizistischen einstöckigen Haus, das in der unteren Etage das Zollkommissariat beherbergte.
Ab 1944 teilte sich Familie Parusel die Wohnung
mit dem aus Berlin evakuierten Ehepaar Lips.
Zu dem Grundstück gehörten ein Garten sowie
ein Hof mit einem Nebenhaus und Hühnerstall.
Der Gemüsegarten, in dem ein Kirschbaum stand,
wurde von einer russischen Fremdarbeiterin gepflegt.
Im Hof stand ein großer Nussbaum, es gab
dort einen Sandkasten und wir Kinder hatten reichlich
Platz zum Spielen.
Im Sommer ließen wir im Sandkasten die
Pappmachee-Soldaten der Wehrmacht aufmarschieren
und spielten als „Soldaten“ mit Holzgewehren
und den Achselklappen verschiedener
Dienstgrade alles nach, was wir am „Tag der Wehrmacht“
erlebt hatten. Im Nebenhaus wohnte eine
kinderreiche Frau Tomaschewski, von der die Rede
ging, sie sei eine „Engelmacherin“. Große Aufregung
herrschte eines Tages, als nachts ungebetene
Gäste in den Garten eingedrungen waren und
den Kirschbaum geplündert hatten.
Die unbeschwerte Kindheit endete an dem
Tag, als der Vater als Reserveleutnant an die Ostfront
geschickt wurde. Der Autor schrieb eifrig
Feldpostbriefe und berichtete dem Vater, welche Kuchen
er beim Geburtstagskaffee seiner Lehrerin
vertilgt hatte. Nur ungern erinnerte sich der Linkshänder
an den Rechenlehrer Gärtner, der die Erstklässler
mit dem Rohrstock auf die Hände schlug,
wenn sie zum Schreiben nicht die rechte Hand benutzten.
Im Juli hörte der damals Achtjährige die
Nachrichten im Rundfunk vom fehlgeschlagenen Attentat
auf Adolf Hitler in der Wolfsschanze. Im Herbst
fuhr der Junge mit seiner Tante Lotte mit der Reichsbahn
nach Breslau, um den verwundeten Vater dort
im Lazarett zu besuchen. Er war an der Ostfront
durch einen Oberschenkel-Durchschuß außer Gefecht
gesetzt worden. Die Kriegsweihnacht 1944
feierte die Familie ohne Vater, der noch verwundet
in der später von den Russen eingekesselten Stadt
Breslau lag. Am 16. Januar hatte in der nahe gelegenen
Klinik Magda Parusel ihren vierten Sohn,
Bodo, zu Welt gebracht. Eine Woche später holten
die Brüder Manfred, Jobst und Jürgen den kleinen
Bodo mit der Mutter auf einem Rodelschlitten nach
Hause. Das blieb es noch bis zum 31. Januar 1945.
Die russische Front war näher gerückt, man
hörte Geschützdonner und das Pfeifen von Stalinorgeln.
Erst jetzt hatte es der Kreisleiter den in
Meseritz verbliebenen Familien erlaubt, auf die
Flucht zu gehen. Als die Familie mit Tante Lotte und
den vier Buben bei 30 Grad Kälte am nahe gelegenen
Bahnhof ankam, herrschte dort ein dichtes
Menschengedränge. Die meisten der fliehenden
Menschen hatten nur das Nötigste zusammengerafft.
Mit Decken, Koffern und Säcken mit Bettzeug
warteten sie geduldig auf die angekündigten Güterwagen
der Reichsbahn. Die Familie war zu sechst:
Mutter, deren Schwester Charlotte und die vier Brüder.
Der kleine Bodo schlief selig in seinem Kinderwagen.
Irgendwie fand sich die komplette Familie
in einem mit Stroh ausgelegten Güterwagen
wieder, Richtung „Berlin“. Nach anderthalb Tagen
Fahrt hielt der Güterzug mit den Flüchtlingen aus
der Mark Brandenburg in Brieselang bei Berlin. Hier
wurde der Familie ein Notquartier in der Nähe des
Bahnhofs bei einer Zahnärztin zugewiesen.
Was mit dem Haus Bahnhofstrasse 17 in
Meseritz nach der Eroberung durch die Rote Armee
geworden ist, entzieht sich unserer Kenntnis.
Bei einem Besuch nach der Wende im Jahr 2000
stand dort ein Container, in dem Obst und Gemüse
verkauft wurden.
Nur noch der alte Kirschbaum blühte wie einst
im Sommer. In den mehrstöckigen Mietshäusern,
die nebenan für die Beamten des ehemaligen Zollkommissariats
gebaut waren, wohnten jetzt die Polen,
die jeden Deutschen, der nach der Wende mit
dem Auto nach Meseritz kam, argwöhnisch musterten.
Gegenüber von Nummer 17 stand ein ähnliches
Haus im klassizistischen Baustil, in dem
damals noch eine polnische Behörde untergebracht
war.
Es wird erzählt, daß unser Kommissariat von
den russischen Besatzern zerstört wurde, weil man
auf dem Dachboden einen Vorrat an Gasmasken
und Hakenkreuz-Fähnchen aus Papier gefunden
hatte.
|
|