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Die Flucht der Fischer von Mollards
von Albrecht Fischer v. Mollard
Teil 4: Nach der Flucht Neubeginn westlich der Oder
Während das Jahr 1945 für mehr oder weniger alle
Deutschen ein ununterbrochener Überlebenskampf
war, in dem es fast ausschließlich darum
ging, die Grundversorgung halbwegs sicherzustellen,
so zeigten sich im darauf folgenden Jahr ganz
vorsichtig erste Anzeichen, daß es außer dem täglichen
Brot auch noch andere Bedürfnisse gab.
Da die Geschäfte jedoch leer waren und
nichts anbieten konnten, wurde getauscht: die
Phase der Tauschwirtschaft, die ihren Höhepunkt
im sog. Schwarzen Markt fand und mit der Währungsreform
im Juni 1948 schlagartig vorüber war,
hatte begonnen. „Kaupeln“ war an der Tagesordnung,
auch in unserer Familie:
Meiner Mutter schreibt am 02.06.1946:
... Adelhart hat sein Radio immer noch nicht,
hoffentlich bekommt er es überhaupt. Er hat doppelte
Briefmarken gegeben, dafür hat er wohl Pulverschnüre
oder so etwas ähnliches bekommen,
für die bekam er dann eine Kartentasche, und die
gab er für den zukünftigen Deteklax...
(Deteklax war der Name eines sog. Detektorempfängers, eines Gerätes, das ohne Stromquelle mit Hilfe einer Antennenspule und einer Kristalldiode Radioempfang über Kopfhörer ermöglichte).
Am 30.06.1946 folgt die gute Nachricht:
Adelhart hat seit Donnerstag Radio und ist strahlend über die Kopfhörer (die er vom Großvater aus Goslar bekommen hat). ...
Von einer schulischen Tauschbörse erzählt meine Schwester Edeltraut den Großeltern im Juni 1946: ... In der Schule gefällt es mir jetzt sehr gut.
... In der Oberschule ist jetzt eine Sammlung von Lebensmitteln, Kleider, Röcke, Kopfbedeckung, Unterwäsche und Besteck und Geschirr. Jeder, der noch was hat, bringe es mit. Ich habe schon für Gerd (Bruder) ein Hemd, für Albrecht zwei paar ungestopfte Wollsöckchen.
Zu Pfingsten schenkte ich Mutti zwei englische Kuchenteller und drei kleine, zusammenhängende Näpfchen für Salz, Zucker und Mostrich. Sie freute sich sehr. Dienstag bekommen wir wieder Kleidung ...
Eine in der unmittelbaren Nachkriegszeit sicherlich häufig verfolgten Strategie zur Aufbesserung des Familieneinkommens beschreibt mein Vater am 29.07.1946: ... Einen sehr hübschen Nebenverdienst, der das Monatsgehalt verdoppelt, habe ich im Verkauf unserer Zigaretten. Erika’s und meine Karte der vorletzten Zuteilung erbrachten zusammen 150,- RM.
Diesmal verkaufe ich meine Zigaretten und habe Aussicht, das Stück mit 4 RM bezahlt zu bekommen. 4 x 40 = 160,- RM minus 7,- RM Einkauf, so daß ich allein auf rund 150,- RM komme. Dafür lasse ich gern das Rauchen sein! ...
... Die Beschaffung des ersten Fahrrades in der Familie beginnt mit einer für heutige Verhältnisse merkwürdigen Frage meiner Mutter an ihre Mutter am 07.05.1946, also fast genau auf den Tag ein Jahr nach Kriegsende: ... Sag’ mal, Hühnerfutter kannst Du doch nicht für Eure Morgensuppe gebrauchen? („Wenn schon kein Hühnerei zum Frühstück, dann wenigstens Hühnerfutter!“) Wir bekommen 1/2 Ztr. Deputat im Monat, Gerd hat schon versucht zu tauschen, um ein Rad zu bekommen, aber er soll Roggen bringen, und den haben wir nicht ...
Trotzdem gibt es am 02.06. ein Happy-End in Sachen Fahrrad: ... Gerd hat bei Frau Meyer das
Rad bekommen. Er hatte ihr doch abgeschrieben,
da hat sie antelefoniert und gemeint, es brauchte
ja kein Roggen zu sein, sie wollte Gerd doch so
gerne helfen.
Gerd wurde also dann am Freitag ein Stück
Schinken (41/2 Pfd.) eingepackt, ein Kochgeschirr
voll Quark und ein Tütchen mit einer Probe Hühnerfutter.
1 Ztr. durfte er anbieten und noch 2 Ztr. Kartoffeln,
wenn sie auf unserem Felde geerntet sind.
Mehr durfte er aber nicht geben, und er
mußte sich auch erst das Rad ansehen und dann
seine Ware zeigen. Ich glaube, er war schon ein
bißchen ärgerlich, weil Tante Oberin und ich ihm
alles vorkauten (also die „Verhandlungsstrategie“
vorschrieben). Aber der Schinken machte alles!! Er meinte, beinahe hätte er einen Kuß bekommen. Mittag hat er auch noch dort gegessen und nun will Frau Meyer mich kennenlernen! Am Dienstag ist sie mit dem Zuge um 17.20 Uhr in Schwarzenbek und um 17.30 fährt sie mit dem Autobus zurück, da soll Gerd ihr das Hühnerfutter zum Bahnhof hinbringen. Die Kartoffeln hat er nicht mehr angeboten, da der Schinken solche Freude auslöste ...
Nachdem mein Vater durch Eintausch von
Naturalien im Jahre 1946 seine Mobilität für die
nähere Umgebung entscheidend verbessert hatte,
soll abschließend ein Reisebericht meines Vaters
aus dem Jahre 1948 wiedergeben
werden.
Aufgrund der zu überwindenden
Entfernung bediente er sich
dabei allerdings nicht seines Fahrrades,
sondern der damaligen
Reichsbahn.
Mein Vater hatte einen
Freund, einen Regimentskameraden
aus dem 1. Weltkrieg, war
Pate dessen Sohnes und zur Konfirmation
nach Wirges/Westerwald
eingeladen, zusammen mit
seiner Schwägerin Marianne, unserer
Tante Nanne, die zugleich auch
Patentante des Konfirmanden war.
Die Reiseplanung sah vor, daß Tante
Nanne unabhängig von meinem
Vater ihren Bruder in der Nähe von
Springe südwestlich von Hannover
besucht, während mein Vater seine Reise vorher
mit einem Besuch der Großeltern in Goslar und
weiterer Bekannten im Harz verbinden wollte, um
anschließend nach Springe zu fahren und dann
die Reise gemeinsam in den Westerwald fortzusetzen.
Nach überstandenem Abenteuer schreibt er in seinem leicht verspäteten Osterbrief vom 28.02.1948 u.a.: ... Heute ist der erste Osterfeiertag. Auf dem Weg zur Kirche habe ich vom Briefboten einen Osterbrief von Euch empfangen (damals wurde Kundendienst bei der Post noch groß geschrieben!), und nun schäme ich mich doch reichlich, Euch auch nicht den kürzesten Gruß zu Ostern gesandt zu haben.
Daß aber meine Gedanken mit herzlichsten Segenswünschen bei Euch weilen, wenn auch ohne einen Brief, das werdet Ihr fühlen und wissen, und dies besonders nach den unvergeßlich schönen Tagen unseres Zusammenseins in Goslar bei Euch, die im Grunde genommen ja doch eigentlich viel zu schnell verflogen sind.
... Unbequemlichkeiten der Reise gab es bis dahin nicht. Sie kamen erst auf meiner weiteren Unternehmung, von der ich Euch jetzt einen kleinen Überblick geben möchte, damit Ihr Anteil daran nehmen könnt.
... Die Züge gingen alle pünktlich, und so kam ich auch pünktlich in Lauterberg um 1/2 11 Uhr an. Je näher man kam, um so mehr bestand das Reisepublikum aus „Grenzgängern“, um so sichtbarer aber kam auch der Typ der russischen Zone mit seiner Armut und Not in der Bekleidung zum Ausdruck.
Es ist niederdrückend und entmutigend, wenn man dieses Absinken der Lebenshaltung beobachtet. Auf dem Bahnhof in Lauterberg kam mir Herr v. L. entgegen ...
... Also um 14 Uhr fuhr ich weiter, d.h. wieder zurück nach Osterode. Da stand der gute Otto W. schon an der Sperre ... .
Am nächsten Tag morgens um 1/2 7 ging der
Zug schon wieder. Er brachte mich an die Bahn,
es ging alles normal.
Beim Umsteigen in Kreiensen kam ich in kein
Abteil und war daher gezwungen, mit Rucksack
und Handkoffer von 9 Uhr bis etwa 10.15 in Richtung
Hannover zwischen den Waggons draußen
auf dem Puffer zu fahren. So schön die Sonne auch
schien, wurde es doch allmählich immer kühler.
Alles hing draußen auf den Trittbrettern oder
zwischen den Waggons, und kein Beamter schritt
dagegen ein. Schließlich war man durch den kalten
Fahrtwind regelrecht ausgekühlt (für Monat
März nicht weiter verwunderlich!), und ich konnte
durch die Freundlichkeit einer jungen Dame, die
stehend meinen Koffer auf ihre Zehen stellte, in ein
Abteil reinkommen, mußte allerdings den abgenommenen
Rucksack zum Fenster raushängen, was
auch ganz gut ging.
In Hannover hatte ich 2 Stunden Zeit, dann ging’s weiter in Richtung Hameln bis Eldagsen- Völksen. Von hier zu Fuß 3 km bis Alvesrode, dann 1 km zum Forsthaus Eispfad, wo Dieter M. wohnt, direkt am Walde.
Als ich 400 m davor bin, höre ich unseren Familienpfiff und sehe Ernst in Hose und Hemd auf einer Wiese einen 75 m langen Graben ausnehmen.
Nanne war im Haus ...
... Für die Fahrt nach Limburg hatte ich nun keine Zulassung. Ein Bekannter von Niclassen, Kali-Generaldirektor u. Kamerad aus dem 4. Garde-Feld., Releaux, besorgte sie uns, so konnten Nanne und ich Donnerstag Abend unbesorgt, aber dicht gedrängt, den D-Zug nach Gießen besteigen.
Nach 2 Stunden Stehen besorgte mir Nannes Gewandheit sogar einen Sitzplatz. Sitzendkonnte man druseln und zeitweise sogar schlafen. Nach Umsteigen in Gießen & Wetzlar wurden wir in Limburg vom „Adler“-Wagen von Hans Niclassen abgeholt. Fahrer ein 12-Ender Major der Nachrichten aus Potsdam. Nics waren über unser Kommen ehrlich erfreut ...
Es folgt eine ausführliche Beschreibung der Lebensumstände des Gastgebers, seines Hauses und der Konfirmationsfeier und schließlich der Rückfahrt nach Schleswig-Holstein.: ... Die Rückfahrt am Dienstag fiel schon in den Ostertrubel. Übrigens waren wir am Sonnabend, d. 20. 3. in Koblenz, besuchten auch einen bekannten Forstmeister.
Es ist überall nicht anzukommen, alles überfüllt.
Wir bekamen in Frankfurt/Main (65 km LKWFahrt)
keine Zulassung zum D-Zug, fuhren 1/2 8
abends mit Personenzug nach Gießen. Auch hier
keine Zulassung erhältlich. Also gleich weiter nach
Marburg.
Hier Übernachten von abends 11 Uhr, bis
morgens um 1/2 7 der Eilzug weiterging nach Kassel.
Bahnhof in Marburg völlig zerbombt, Übernachtung
mit 200 Personen in einer Baracke, auf dem
Koffer sitzend, das schlafende Haupt zwischen den
Händen, Ellbogen auf die Knie bzw. Oberschenkel
gestützt.
Um 1/2 9 in Kassel, gleich weiter mit einem
anderen Personenzug nach Eichenberg, um hier
den D-Zug zu besteigen, der früh 8 Uhr von Frankfurt/
Main nach Hamburg abgegangen war. Ich
biederte mich dem Lok-Führer an und konnte einen
Teil vorn auf der Maschine bei ihm mitfahren
gegen je 1 Pfeife Tabak für ihn und den Heizer.
Das war sehr nett. Dann mußte ich aber doch
nach hinten in den Zug, im Gang auf dem Koffer
sitzend, nachdem 1 1/2 Std. die Fahrt mit 5 Anderen
stehend im Klo verbracht war. Abends um 8 in
Hamburg, bald nach 10 abends in Melusinenthal.
Das war meine Exkursion. ...
Damit ist auch der Streifzug durch die in der Nachkriegszeit herrschenden Lebensbedingungen beendet.
Der Neustart unserer Familie westlich der Oder war wie für alle aus dem Osten geflohenen Landsleute sehr mühsam und beschwerlich, und die Ungewißheit über die Zukunft belastete insbesondere unsere Eltern ganz enorm. Zwar haben sich in den vergangenen sieben Jahrzehnten die Verhältnisse in unvergleichbarer Weise zum Positiven verändert, doch bleibt die innige, tief empfundene Dankbarkeit gegenüber unseren Eltern und Großeltern für ihren unermüdlichen Einsatz und die Sorge, ihren Kindern trotz aller widrigen Umstände eine alles in allem schöne, unbeschwerte Kindheit zu schenken, bis auf den heutigen Tag Bestandteil unseres Lebens.
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