Meine Kindheit und Jugend in Birnbaum und die Flucht
Von Ruth Launhardt-Severinsson (Bilder: Fam. Launhardt)

Strese / Strzyzewo
Im Jahre 1927 bin ich in Birnbaum geboren. Mein Vater war Schneidermeister und hatte zu dem Zeitpunkt ein Geschäft im Zentrum der Stadt. In Birnbaum, die Kreisstadt war, wohnten etwa 8.000 Menschen, von denen schätzungsweise die Hälfte Deutsche waren, die andere Hälfte Polen. Der offizielle Name der Stadt war Miedzychod, das ab 1919 zum neu gegründeten polnischen Staat gehörte. Als Kind hatte ich aber immer den Eindruck, in einer deutschen Stadt zu leben.

Wir hatten einen deutschen Kindergarten, eine deutsche Schule, ein von deutschen Diakonissen betreutes Krankenhaus und eine zentral gelegene evangelische Kirche. Dazu gehörten die großen Geschäfte in der Stadt wie auch die Güter und Bauernhöfe in der Umgebung. An Spannungen mit Polen kann ich mich in den ersten 12 Jahren meines Lebens nicht erinnern. Wir spielten mit den polnischen Kindern und Sprachprobleme gab es nicht.

Besonders erinnern kann ich mich an den Besuch im Kindergarten, den wir „Spielschule“ nannten. Er lag in der sog. Neustadt. Wir wohnten im Stadtteil Lindenstadt (Lipowiec) und hatten dorthin einen Fußweg von 15 – 20 Minuten.
Wir gingen meistens am See entlang und brauchten so nicht durch die über 600 Jahre alte Stadt zwischen Warthe und Küchensee zu gehen. Der Kindergarten wurde von „Tante Amanda“, einer Diakonisse, geleitet, und wir gingen gern hin. Nennen muß ich auch Frau von Willich, die Schutzpatronin des Kindergartens. Jedes Jahr im Advent kam sie persönlich in unsere Spielschule und verteilte an jedes Kind eine Tüte mit Süssigkeiten, worüber wir uns sehr freuten.
Manchmal durften wir auch Wünsche für Weihnachtsgeschenke äußern. Wenn ich mich recht erinnere, war Frau Gertrud von Willich Vorsitzende des Hilfsvereins deutscher Frauen. Dieser Verein betrieb nicht nur Kinderhilfe, sondern auch Erholungsheime, Nähstuben und Suppenküchen; Bedürftige wurden mit Kleidung und Wäsche versorgt. Ihr Mann war Landrat in Birnbaum gewesen.

In Erinnerung habe ich auch andere Feste, etwa den Muttertag oder Posaunenfeste. Wir feierten bei Zickermanns, die einen großen Saal und einen ausgedehnten Kaffeegarten mit Musikpavillon hatten. Schöne Erinnerungen! Kurz nachdem ich 6 Jahre alt geworden war, verstarb meine Mutter. Das war für mich und meine beiden jüngeren Geschwister eine schwere Zeit. Eine weitläufige Verwandte kam und half aus, bis mein Vater 1934 wieder heiratete.

Mit 7 Jahren begann für mich die Schulzeit. Ich ging in die deutsche Privatschule, die Höhere Deutsche Privatschule genannt wurde. Sie lag in der Nähe der evangelischen Kirche. Da wir zu dem Zeitpunkt neben dem evangelischen Pfarrhaus wohnten, hatte ich einen kurzen Schulweg. Die Unterrichtssprache war deutsch, aber wir hatten auch einige Stunden in der Woche polnischen Sprachunterricht; ich weiß nicht mehr wie viele Stunden es waren. Wir mußten die polnische Nationalhymne auswendig lernen und aufsagen können. Ab und an kam ein polnischer Schulinspektor, hörte sich den Unterricht an und wir wurden auch einzeln aufgefordert, die Nationalhymne aufzusagen. Wir hatten nur deutsche Lehrer und Lehrerinnen. Von ihnen wurde erwartet, daß sie die polnische Sprache einigermaßen beherrschten.


Die ehemalige Deutsche Privatschule in Birnbaum


Die Verbindung zur evangelischen Kirche war intensiv. Daß wir sonntags zum Kindergottesdienst gingen, war selbstverständlich. Er fand in der großen Kirche statt. Aufgeteilt in Gruppen nach Mädchen und Jungen und nach Alter wurden uns die biblischen Geschichten erzählt. Der Pastor fasste am Ende alles zusammen und vertiefte es. - Sehr schön waren die Weihnachtszeit und besonders der Heilige Abend. Die Kirche war schön geschmückt und im Altarraum stand ein großer Tannenbaum ganz mit Lametta behängt, manchmal sogar zwei. Wir sangen deutsche Weihnachtslieder aus einem Heft, das wohl Quempas hieß. Kerzenduft erfüllte den Raum.
Die Polen feierten in ihrer katholischen Kirche Weihnachten.

Einer respektierte den anderen und wie schon gesagt, kann ich mich an Spannungen und Konflikte zwischen Deutschen und Polen in Birnbaum/ Miedzychod vor 1939 kaum erinnern.

Dann kam das Jahr 1939. Hetzreden gegen die Deutschen waren zu hören. Einigen deutschen Kaufleuten wurden die Schaufenster eingeschlagen. Unsere deutsche Schule wurde im Sommer 1939 geschlossen. Unsicherheit breitete sich aus.

Junge Männer wie auch ältere flohen über die Grenze nach Deutschland, um nicht zum polnischen Militär eingezogen zu werden und gegen die eignen Landsleute kämpfen zu müssen. Der Bruder meiner Stiefmutter fuhr sogar mit Pferd und Wagen über die nahe grüne Grenze. Sie alle wie auch wir waren zwar Deutsche, hatten aber die polnische Staatsangehörigkeit.

Ende August 1939 spitzte sich die Lage zu. Das Vieh der deutschen Bauern wurde beschlagnahmt und nach Osten getrieben. Mein Vater wurde 3 Tage vor Kriegsausbruch von dem polnischen Nachbarn angegriffen. Wir flohen über die Warthe aufs Land und fanden Unterkunft auf dem Hof der Großmutter. Mein Bruder Hans (Johannes) wohnte seit der Schließung der Deutschen Schule bei einem Bauern in Zatum.

Da Birnbaum nur 7-8 km von der deutschen Grenze entfernt lag, rückte die deutsche Wehrmacht schon am Vormittag des 1. September in die Stadt ein. Wir konnten bald zurück in unsere Wohnung. Plünderungen hatten nicht stattgefunden, aber das Motorrad eines Onkels aus dem Kreis Samter, der es bei uns abgestellt hatte, um zu Fuß durch die Wälder über die Grenze zu gehen, war abgeholt worden. Nach den Ereignissen der letzten Wochen waren wir froh, „Heim ins Reich“ gekommen zu sein.

Das änderte sich aber bald. Wir mußten feststellten, daß die deutschen Befreier ein anderes Verhältnis zu den Polen an den Tag legten, als wir es gewohnt waren. Man sah verächtlich auf Polen herab und schikanierte sie. Die SS behandelte sie wie Sklaven.
Sie sollten z.B. nicht auf dem Bürgersteig gehen, sondern auf der Straße. Man erwartete, dass sie mit „Heil Hitler“ grüssten. Sie bekamen andere Lebensmittelkarten als wir Deutschen. Wir konnten z.B. Marmelade mit guten Früchten kaufen, sie bekamen einfachen Brotaufstrich aus Kürbis oder Rüben. Bald begann man auch in Birnbaum mit der Umsiedlung von Polen nach Kongresspolen, da ihre Häuser oder Wohnungen für die neu ankommenden Baltendeutschen gebraucht wurden.

Unsere beliebte deutsche Privatschule wurde nicht wieder eröffnet. Sie paßte ja nicht in das Nazi-System. Der Unterricht wurde anders, auch in anderen Gebäuden. Über die neue Schulform kamen wir automatisch in die »Hitler-Jugend«. Politische Schulung gab es dabei wenig, dafür aber Sportfeste, Bastelgruppen und Ausflüge. Vieles begeisterte uns junge Menschen. Was wir nicht so schön fanden war, daß oft HJ-Dienst für Sonntagvormittag angesetzt wurde, offensichtlich, um uns davon abzuhalten, in die Kirche zu gehen.

Nachdem ich die Mittelschule abgeschlossen hatte, begann ich mit einer Lehre in der Westbank, die in Birnbaum direkt am Markt lag. Mein Vater kannte den Bankdirektor gut, und die Ausbildung machte mir Freude.


Markt in Birnbaum


Ab 1944, also mit 17 Jahren, mußte ich oft als Telefonistin bzw. Funkerin Dienst tun. Das Haus dafür lag hinter dem Friedhof und wenn ich nachts dort ganz allein war, überfiel mich schon Angst, zumal die Front immer näher rückte. So kam der 20.1.1945. Wir sollten oder konnten jetzt vor der anrückenden Roten Armee fliehen. Eine Tante aus Posen mit 2 Kleinkindern wie auch Vaters Mutter waren nach Birnbaum gekommen, da Posen zur Festung erklärt worden war, die unbedingt gehalten werden sollte.

Aus der zweiten Ehe meines Vaters waren 4 Jungs da, der jüngste kaum 2 Jahre alt. Wir waren also 10 Personen, 6 Kleinkinder, eine Jugendliche, eine altersschwache und kranke Oma und zwei Mütter, die bei 20° Frost und viel Schnee die Flucht antreten mußten.

Mein Vater durfte uns nicht begleiten. Er war in den Kriegsjahren zur Polizei eingezogen worden und tat in Birnbaum seinen Dienst. Er besorgte uns eines der Pferdefuhrwerke, die die Betriebe, Güter oder Bauern zur Verfügung zu stellen hatten. Es war ein gummibereifter Planwagen, von einem polnischen Kutscher geführt. Was nimmt man in der Eile mit? Es waren vor allem die Betten, Decken, warme Kleidung, ein Kinderwagen und reichlich Lebensmittel, darunter ein großer Topf mit Schmalz als eiserne Reserve. Da es hieß, wir würden in wenigen Tagen oder Wochen wieder zurückkehren, wenn der Führer seine Wunderwaffe eingesetzt habe, blieben wertvolle Sachen wie auch die teure Briefmarkensammlung meines Vaters zurück.

Der Treck setzte sich in Bewegung. Ich ging, da ich drei Kleider übereinander angezogen hatte, streckenweise neben dem Wagen her. Nach einigen Tagen waren wir vor Küstrin. Wegen Krankheit und Beschuss verzögerte sich die Weiterreise. Der polnische Kutscher wollte uns nicht weiter begleiten und fuhr mit dem Fuhrwerk und mit vielen unserer Sachen zurück.

Unterdessen hatten die Russen Küstrin an der Oder, das zur Festung erklärt worden war, umzingelt. 70 % der Bevölkerung waren eingekesselt. Wir landeten im Keller eines mehrstöckigen Hauses. Mein sechs Jahre alter Bruder bekam Diphtherie und starb. Ich sehe es noch heute, wie er in ein Laken gelegt und von Sanitätern weggetragen wurde. Wir wissen nicht, wo er begraben worden ist.
Da wir unter ständigem Beschuß waren, durften wir den Keller nicht verlassen. Meine kranke Oma hatten wir schon vorher in einem Behelfslazarett zurücklassen müssen und haben nie erfahren, ob sie genesen ist und wie oder wo sie beerdigt wurde. Schwere Tage!

Nach etwa 3 Wochen kämpfte die SS-Einheit in Küstrin einen Weg frei und Mütter mit Kindern, zu denen wir ja gehörten, wurden auf Lastwagen nach Berlin gefahren. Doch auch in Berlin tobte der Krieg und ständige Luftangriffe ließen uns nicht zur Ruhe kommen.

Schließlich kamen wir in die West-Prignitz, die als Aufnahmegebiet für die Kreise Birnbaum und Meseritz vorgesehen war. Wir wurden in das Dorf Bresch eingewiesen und fanden im Pfarrhaus Raum. Im Mai 1945 erlebten wir dort den Einmarsch der Roten Armee mit all den Ängsten und in den Folgemonaten die sich stetig verschärfenden Maßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht.

Unterdessen hatten wir über eine Tante in Berlin erfahren, wo unser Vater abgeblieben war. Er hatte mit der Polizei Birnbaum verlassen, war kurz in englische Kriegsgefangenschaft geraten und schließlich in Lübeck gelandet.
Er wollte aus verständlichen Gründen nicht in die Prignitz kommen und schickte einen Bekannten, um uns in den Westen zu holen, ebenso meinen Bruder Hans, der aus dem Kreis Samter geflohen und in die Ost-Prignitz eingewiesen worden war.

In jener Zeit konnten täglich etwa 5.000 Menschen die Grenze bei Friedland ohne Kontrolle in beide Richtungen passieren. Von dieser Möglichkeit machten wir Gebrauch, von Vaters Helfer begleitet. In überfüllten Zügen und auf Kohlewaggons erreichten wir im November 1945 schließlich Lübeck. Der Schmalztopf aus Birnbaum und der Kinderwagen waren dabei.


Fam. Launhardt in Lübeck, 1950


Unser Vater empfing uns mit Freuden und mit Sorgen in seinem sechs Quadratmeter großen Zimmer, bis die liebe Wohnungseigentümerin ihr Schlafzimmer räumte und uns zur Verfügung stellte.
Unser Wohnraum war zwar beengt, die Jungs schliefen auf dem Dachboden, und die Ernährungssituation war beängstigend, aber wir waren dankbar, daß die Familie wieder zusammen sein und wir uns in Freiheit neuen Zielen zuwenden konnten.

Mein Weg führte mich nach Schweden, wo ich als Kindergärtnerin eine Arbeit fand, heiratete und noch heute als Witwe zufrieden und dankbar lebe.


Ruth Launhardt-Severinsson 2013 mit Bruder