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Erinnerungen an Kurzig
Text und Fotos: Horst Detlef Heinrich
Kurze Vorgeschichte
August 1936, ich war gerade geboren, zogen meine Eltern,Kurt und Margareta Heinrich, mit mir nach Kurzig in das renovierte Schloß mit der Aufgabe, als Direktor der Ruges (Reichsumsiedlungsgesllschaft) 6 Güter zu verwalten und einige zu zersiedeln.
März 1938 übernahmen die Maiden das
Schloß, und wir zogen in das umgebaute Verwalterhaus.
Meine Schwester wurde im Juli geboren.
Ab Anfang September wurde der Vater als
Hauptmann eingezogen. Polen, Holland, Belgien, Frankreich, Rußland und Italien waren seine Einsatzgebiete. Ich erlebte in Kurzig eine wunderbare Kindheit, kam viel mit dem Vater und später mit der Einquartierung herum. Die Soldaten gehörten zu einer Meldereinheit und hatten deswegen tolle Zündapp- und BMW-Motorräder mit Beiwagen. Der kleine Heinrich war dauernd unterwegs. Außerdem wohnten bei uns auch noch zwei Gefangene, Alex und Piero. Die konnten sich frei bewegen. Da wurde viel geangelt. Für mich als Jungen eine tolle Zeit.
Die Tage vor der Fluch
Zu unserer Familie gehörten meine Mutter, 46 Jahre alt, ich 8,5 Jahre alt und meine Schwester Ina. Sie war 6,5 Jahre alt. Unser Vater war als Offizier in Italien. Es kamen immer mehr Soldaten nach Kurzig und auf dem Gutshof hatten sie eine Gulaschkanone aufgebaut. Es wurde gekocht, gebraten und gebacken, als wenn eine Hungersnot ausbrechen würde.
Weihnachten kam
Es war alles etwas gespannter als sonst. Vor Heiligabend
wurden wir Kinder in Begleitung der Mütter
zu den Soldaten, den Pionieren, in ihr Lager eingeladen.
Es gab da eine Weihnachtsfeier und wir
Kinder bekamen Geschenke.
Ich bekam ein großes Flugzeug aus Holz,
eine „Tante Ju“. Ganz golden angestrichen. Das
Flugzeug hatten mir die Franzosen gebaut. Ein sehr
schönes Geschenk. Die Maiden luden uns auch
ein. Da gab es Kuchen und Plätzchen und es wurde
viel gesungen. Dann kam unsere Weihnachtsfeier
mit vielen Geschenken für alle. Unsere Tante
Ina, die jüngste Schwester von Mutti, war auch da.
Sie wohnte in Lebus, in der Nähe von Frankfurt/
Oder. Sie sollte bald ein Baby bekommen.
Außerdem waren noch unsere zwei Maiden,
Frau Muchow mit Helga, Piero und Alex und einige
Soldaten aus dem Stab, die bei uns Dienst taten,
dabei. Es war ein sehr schöner Heilig Abend mit
tollen Geschenken. Der Weihnachtsmann hat mir
einen original italienischen Karabiner gebracht, der
so eingerichtet war, dass ich mit Knallerbsen schießen
konnte. Ich bin dann stolz mit dem geschulterten
Gewehr herumgelaufen. Weihnachten war
vorbei.
Die Flucht
Irgendwie wurde es alles anders. Die Erwachsenen
sprachen und tuschelten. Die alten Männer und
die schon Verwundeten mußten marschieren üben.
Der Volkssturm wurde aufgestellt. Der Endsieg war
wohl doch nicht mehr zu erringen. Die Front kam
immer näher.
Silvester wurde noch richtig gut gefeiert. Da
wurde viel geknallt, das waren wohl alles von den
Soldaten selbst gebastelte Kracher. Für uns Kinder
gab es heißen Punsch. Es war draußen sehr
kalt so minus 20 Grad. Ein schöner Jahreswechsel,
aber wie das neue Jahr werden würde, wußte
keiner, das war auch besser so.
Zwischen Weihnachten und Neujahr gab es
noch ein Unglück. Unsere beide Maiden waren mit
der Kora in den Schlosspark gegangen, um sie herumtoben
zu lassen. Die beiden haben nicht so sehr
gut aufgepaßt. Auf einmal war die Kora nämlich weg.
Trotz hohen Schnees war und blieb sie verschwunden. Pfeifen und Rufen nützte auch nichts.
Mit hängenden Köpfen kamen die beiden zurück,
es gab sicher einen Anpfiff von Mutti. Etwa eine
Viertelstunde später kam Kora wieder an. Sie lief
ganz allein in ihren Zwinger, das kam sonst nie vor.
Sie hatte wohl ein schlechtes Gewissen.
Kurz darauf kamen Offiziere in einem Auto.
Die hatten gesehen, wie die Kora, der Hund war
ihnen bekannt, 4 oder 5 Rehe verfolgte und dann
riß. Die Rehe waren wohl des verharschten
Schnees wegen nicht so schnell oder geschwächt.
Es gab großen Ärger und es mußte etwas geschehen.
Unser Schlachter aus Weißensee wollte die
Kora schon immer haben, bei ihm wurde oft eingebrochen.
Am nächsten Tag holte er sie ab und
brachte uns Kindern zum Trost kleine Würstchen
mit. Wir waren doch alle sehr traurig. Im Nachhinnein
war das doch sehr gut.
In der ersten Januarwoche zogen die Maiden
ab. Am Abend vorher wurde eine große Verabschiedung
gefeiert. Alle waren sehr traurig und es
gab viele Tränen. Am nächsten Morgen wurde die
Fahne eingeholt und mit Militärlastwagen wurden
sie weggefahren. Kurz darauf wurde das Franzosenlager
geräumt. Wo die Franzosen, mit ihnen
unser Piero und der Alex, geblieben sind, haben
wir nie erfahren. Es wurde vieles anders und es
wurde viel geflüstert.
Ich war aber an der Quelle und wußte daher
mehr als mancher Erwachsene. Ich war nämlich
oft bei unseren Soldaten. Die funkten und telefonierten
und wußten daher am besten, wie es stand
und es stand nicht gut. Außerdem hörten die häufig
einen anderen Sender. Ich durfte natürlich nichts
sagen. Ich durfte mit ihnen immer Karten spielen,
wenn ihnen der „dritte Mann“ fehlte. Skat konnte
ich noch nicht, aber „ramschen“ konnte ich schon.
Der Volkssturm übte immer öfter, aber den
Leuten fehlten die Waffen. Ich mußte meinen heißgeliebten
Karabiner abgeben. Das tat ich nicht gern,
aber wenn ich damit zum Endsieg beitragen konnte,
sollte es geschehen. Der Karabiner war wohl
leicht wieder scharf zu machen. Die Parteileute hofften
noch immer auf den Endsieg, sie glaubten sogar
daran, obwohl die Sowjetarmee die deutsche Grenze
schon überschritten hatte, das erfuhr ich von
den Soldaten.
Die hatten übrigens ihre Motorräder auf den
besten Zustand gebracht und jede Menge Benzin
gehortet. Mutti hatte schon immer Angst, daß das
Haus abbrennen könne, weil die Soldaten so fürchterlich
viel rauchten.
Auf dem Gutshof wurden es immer mehr Soldaten.
Das waren Einheiten, die eigentlich die Bunker
besetzen sollten, da aber in den Bunkern keine
Technik mehr war, ging da keiner hinein. Der
Ostwall war kaum zu gebrauchen. Auch die schweren
Geschütze in den Bunkern funktionierten nicht
(die Technik war in den Atlantikwall verbaut worden).
Es war allen verboten wegzufahren. Ein
Deutscher verläßt seine Heimat nicht, so redete
der Bürgermeister. Außerdem wird der Russe noch
bestimmt zurückgeschlagen. Aber unsere Soldaten
glaubten das nicht. Die bereiteten ihren Rückzug
vor.
Nun wieder etwas Neues. Alle, die keine Pferde
und Wagen hatten, wurden Bauern zugeteilt. Unser
Bauer war der Herr Wandrey. Im Falle eines
Falles sollten nun doch alle Menschen
den Ort verlassen, damit die Menschen nicht zwischen
die Fronten geraten.
Die Familie Wandrey bestand aus dem Vater,
der war kriegsbeschädigt aus dem 1. Weltkrieg,
er hatte, glaube ich, nur den linken Arm, der Mutter,
einer Tochter, die war damals so 18 Jahre alt,
einer zweiten Tochter mit 16 Jahren und einem
Sohn, den Joachim mit knapp 15 Jahren. Der war
für sein Alter etwas kleiner und ging so für 13 Jahre
durch. Die Familie Wandrey hatte beschlossen,
nicht wegzufahren. Sie wollten ihre Tiere nicht verlassen.
Das bedeutete, daß auch wir und noch einige
andere Familien nicht wegfahren konnten. Also
bereiteten die Frauen alles für das Kriegsende vor.
Unter dem Wohnhaus von Wandreys waren
große Gewölbe mit ganz dicken Holztoren zu dem
Abhang Richtung See. Da wurde früher der Alkohol
von der Brennerei gelagert. Die Mutti und andere
Frauen richteten diese Gewölbe für die Menschen
her, die im Umkreis von Wandreys wohnten.
Da wurden Etagenbetten und alles mögliche
andere hergerichtet.
Eines Tages, es muß so am 26. Januar gewesen
sein, wurde Ina vermisst. Alle haben sie gesucht,
aber sie wurde einfach nicht gefunden. Alle
dachten, sie sei vielleicht mit Soldaten mitgegangen.
Ganz per Zufall hat jemand, der in das Gewölbe
ging, in eines der Etagenbetten gesehen und
was war da? Ina lag da eingerollt im Bett und schlief
ganz fest. Vom Suchen hatte sie nichts mitbekommen.
Sie wollte eigentlich nur das Bett ausprobieren.
Was waren wir glücklich, sie wiedergefunden
zu haben.
Am Sonntag, den 28. hatte Mutti noch eine
Torte gebacken. Unsere Tante Ina war noch einmal
aus Lebus gekommen. Die Großen hatten viel zu
besprechen. Gern hätten wir noch mehr Torte gegessen,
aber die Mutti hat sie für später aufgehoben.
Am Montag, den 29. hieß es, daß die Gegend
um Meseritz schon in einer großen Zange eingekesselt
sei. Ich hörte, daß man sich bei Krügers
im Saal gefangene Russen ansehen könne. Da bin
ich natürlich hin.
Es war wohl ein berittener Spähtrupp, so 8 oder 10
mongolische Soldaten. Klein, mit ganz krummen
Beinen und langen, zotteligen Bärten. Ihre Pferdchen
waren auch klein und zottelig, so ganz anders
wie die Pferde unserer Soldaten. Was man mit denen
gemacht hat, man kann es nur ahnen.
Am Mittwoch, den 31. Januar, am Morgen, war kein
Soldat mehr zu sehen. Alle waren abgerückt. Auch
unsere Soldaten vom Stab waren weg, sie hatten
auch die Frau Muchow und die Tochter Helga mitgenommen.
Im Haus war es mit einmal sehr ruhig.
Die Soldaten hatten mir das Skatspiel zurückgelassen.
Ich habe es noch lange benutzt. Gegen Mittag
hieß es, es ginge noch ein Zug Richtung Frankfurt.
Also zogen viele Einwohner Kurzigs mit dem,
was man so mitnehmen wollte, - man käme ja bald
wieder zurück, dachte jeder - zum Bahnhof.
Wir hatten einen Schlitten, darauf waren unsere
Rucksäcke. Das ging ganz gut, es lag ja viel
Schnee.
Eine bekannte Mutter, mit Sohn und Tochter
in unserem Alter, die ältere Tochter war aus irgendeinem
Grund nicht dabei, schleppten sich mit so
braunen Koffern ab. Mutti fragte sie, was denn in
den Koffern sei. Sie hatten darin Eingemachtes in
Gläsern. Die Koffer hatten wir dann auf unseren
Schlitten geladen. Am Bahnhof warteten wir auf den
Zug, bis es hieß, daß kein Zug mehr kommt. Genau
in diesem Augenblick hörte man aus der Ferne, so
aus Richtung Tempel, ein langgezogenes „Urrä“ der
Russen. Das war schon sehr grässlich. Wir gingen
wieder nach Hause.
Am Nachmittag kamen mehrere Offiziere in
Autos. Die bauten auf dem kleinen Platz hinter dem
Schloss Richtung See Scherenfernrohre auf und
sahen immer Richtung Bunker. Auf dem Sandweg
von Samst nach Obergörzig sah man ohne Fernrohr
aus Obergörzig kommend 10 kleine Käfer. Die
Offiziere sagten immer „Jetzt muß doch etwas
geschehen“.
Dann sahen wir, wie der erste einen Hopser
machte, dann der nächste und so weiter, bis der
letzte umdrehte. Am Bunkerberg sahen wir Punkte
in weiß. Die einen krochen in eine Richtung und
die anderen in weiterem Abstand hinterher. Für uns
war das alles sehr interessant und ungefährlich.
Es war noch weit genug weg. Die Offiziere fuhren
wieder weg. Kurz darauf kamen verwundete Soldaten
in unser Haus. Das Wohnzimmer und der
Flur waren voll belegt. Sie lagen auf dem Fußboden
und auf allen Möbeln, auf denen man sitzen
oder liegen konnte. Da wurden sie notdürftig verbunden
und versorgt. Danach wurden sie mit
Pferdewagen von den Wandreys weggefahren, in
der Nähe war wohl eine Sammelstelle.
Übrigens hat am Nachmittag einer unserer
Schulkollegen einen verirrten Schuß abbekommen.
Herzsteckschuß sollte es sein. Wie ich später erfuhr,
war es ein Lungensteckschuß, der
auch das Rückenmark beschädigt hat und so zu
einer Querschnittslähmung führte. Um den Bunker
wurde heftig gekämpft. Man hörte viel Gewehrfeuer.
Auch wurde auf dem See, er war dick zugefroren,
gekämpft. Die Russen kamen immer näher.
Am späten Abend schlugen vereinzelt schon die ersten Kugeln in die dicken Türen ein. Wir warteten alle auf das, was da kommen sollte. Von unten, von der Gärtnerei, kam ein Mann, ganz aufgeregt und erschöpft. Er rief, dass die Frauen in der Gärtnerei alle von den Russen vergewaltigt und die Männer erschossen wurden.
Frau Wandrey hatte große Angst um ihre Töchter
und rief ihrem Mann zu, er solle anspannen. Zwei
Wagen wurden angespannt. Es war gerade eine
Feuerpause. Leuchtspurmunition erhellte den Himmel. Die Pferde gingen hinten und vorne hoch. Die Wagen wurden schnell beladen. Wir Kinder kamen auf die Wagen, der angeschossene Junge kam mit auf unseren. Dann ging es los. Die Frauen mußten neben den Wagen laufen. Manchmal war es taghell. Von Ferne hörte man Geschützdonner und es knallte überall. Die Fahrt ging nach Neukainscht/ Nowe Kursko, wo noch Verwandte von Wandreys abgeholt wurden. Dann Richtung Pieske/Pieski auf die Hauptstraße.
Die Hauptstraße war voll mit vielen Soldaten, die alle Richtung Westen zogen. Ein trauriger Zug und dazwischen Flüchtlingswagen. Wir auch. Die Wagen wurden immer schwerer, denn die zurückziehenden Soldaten hängten ihre Waffen an die Wagen. Da hingen viele Gewehre und Panzerfäuste.
In Tempel, einem Nachbarort, durch den wir kamen,
rauchten schon einige Häuser und aus vielen
Fenstern hingen zerrissene Oberbetten. Die
Russen waren wohl schon da gewesen, das hatten
wir ja am Nachmittag gehört. Sie waren dann
aber zurückgeschlagen worden.
Weiter ging es nach Schermeisel, einem größeren
Ort, immer begleitet von Kanonendonner,
Panzerlärm und Gewehrschüssen. Keiner wußte,
ob es nun von deutschen oder von russischen Soldaten
war. Die Pferde waren kaum zu halten. Der
Lärm, der viele Schnee und das Eis auf der Straße,
dazu die schweren Wagen und die Dunkelheit,
immer wieder durch Explosionen erhellt, brachte
ihnen doch größte Schwierigkeiten. Da mußte der
doch kleine Joachim Wandrey, der fuhr nämlich unseren
Wagen, sein ganzes Können aufwenden.
In Schermeisel/Trzemeszno mußten die
Flüchtlingswagen an die Seite fahren. Die Wagen
wurden von den Waffen und allem anderen, was
die Soldaten so abgelegt hatten, befreit.
Auf einem Platz, wir standen mit den Wagen
daneben, wurde, über Lautsprecher eine Rede gehalten.
Es sollte wohl der Herr Himmler von der
SS sein. Die Rede galt den Soldaten. Sie mußten
sich sammeln und sollten wieder gegen die russische
Armee ziehen.
Wir fuhren weiter Richtung Wandern. Wandern/
Wedzyn war ein großer Truppenübungsplatz.
Dort lieferten wir den verletzten Schüler in der
Sanitätsabteilung ab (er ist übrigens noch mit einem
Lazarettzug herausgekommen). Seine Mutter
und seine Schwester fuhren mit unserem Treck
weiter. Gegen 10 Uhr kamen wir in Zielenzig/Sulecin
an. Wandreys kannten da einen sogenannten Ausspann,
eine Gastwirtschaft mit Unterstellmöglichkeit
für die Pferde.
Bis dahin waren es etwa 30 km. Die Pferde
und Menschen konnten nicht mehr. Wie wir dort
ankamen, war die Gaststube schön warm, der
Kaffee, kein richtiger Kaffee, stand noch auf dem
Herd, aber es war kein Mensch mehr in Zielenzig.
Alles geräumt.
Kurz nachdem wir uns einigermaßen niedergelassen
hatten und warm wurden, wurde die Tür
aufgerissen und mehrere Soldaten, darunter ein junger
Offizier kamen herein. Sie waren ganz erstaunt,
hier noch Leute zu finden. Sie schimpften, die Stadt
wäre geräumt und die Russen wären gleich hier.
Alle müssten weg, insbesondere die Frauen und
Kinder. Die Wandreys wollten nicht mit. Die wollten
ihre Tiere nicht allein lassen. Einige andere Leute
wollten auch nicht weg.
Wir, unsere Mutti, ich und Ina kamen auf einen
Lkw, einige andere auf einen zweiten Lkw. Die
Lkw waren ringsum geschlossen und unser Wagen
war bis fast unters Dach mit Militärarbeitszeug
beladen. Wir lagen da oben drauf und hatten nur
das mit, was wir anhatten. In der Eile hatten wir
unsere Rucksäcke vergessen.Kaum ging die Fahrt
los, wurden die Wagen auch schon von russischen
Panzern beschossen.
Wir hatten Glück und kamen aus Zielenzig heraus. Wir fuhren grobe Richtung Küstrin/ Kostrzyn. Die Straßen waren verstopft. Zerschossene Fuhrwerke, tote Tiere, kaputte Fahrzeuge und viele Menschen behinderten das Weiterkommen. Unsere Lkw fuhren über Felder und durch Wälder und wurden immer wieder von Panzern beschossen. Aber es ging alles gut. Irgendwann wurde den Fahrern gesagt, Küstrin sei gefallen. Also ging es Richtung Frankfurt/Oder.
Eine Tankstelle kam, es mußte getankt werden. Übrigens hatten die Wagen oben herum kleine Fenster, sodass man heraussehen konnte. Ich habe also alles gut beobachtet. Der Besitzer der Tankstelle kam und wir hörten, daß er kein Benzin herausgeben wollte. Die Soldaten hatten wohl kein Bargeld, sondern nur Militärmarken. Da haben sie ihn einfach erschossen und selbst getankt. Das Tanken ging da nur mit einer Handpumpe. Weiter ging die wilde Fahrt. Der zweite Wagen war aufeinmal weg. Er war wohl doch noch getroffen worden. Allmählich ging es besser und wir kamen wohl auf die Autobahn Richtung Berlin.
Zwischendurch wurden wir noch einige Male von
der Militärpolizei angehalten, aber die Papiere der
Soldaten waren in Ordnung und so konnten wir weiterfahren.
In Berlin kamen wir während eines ganz
schweren Luftangriffs an. Der Lkw sprang immer
in die Höhe und mußte über Trümmer und drum
herum fahren. In einer Sammelstelle für Flüchtlinge, in einem U-Bahnhof, setzten die Soldaten uns
ab. Wir waren überglücklich und haben uns bei
den Soldaten bedankt. Die fuhren weg und wir wurden
von Rote-Kreuz-Helferinnen in den Bahnhof
gebracht. Ganz tief unten bekamen wir eine Liege
und etwas zu Essen. Erst jetzt waren wir sicher.
Nun kam die Frage, wohin. Es wurden verschiedene
Ziele genannt. Unter anderem die
Lüneburger Heide. Da Mutti ja aus Bad Oeynhausen
stammte, kannte sie ja die Heide und
sie meinte, da wären wir sicher. Also sollte es in
die Heide gehen. Das war aber gar nicht so einfach.
Mal wurde die vorgesehene Dampflok zerschossen,
dann waren die Waggongs
kaputt. Täglich gab es Luftangriffe auf Berlin.
Am 3. oder 4. Tag war es dann aber soweit.
Es ging los. Der Zug kam auch schnell voran, so
schien es jedenfalls, wenn er auch öfter wegen Tiefflieger
auf offener Strecke halten musste. Die Heide
kam und auf verschiedenen Bahnhöfen stiegen
Flüchtlinge aus. Das war vorher alles geregelt. Die
deutsche Ordnung funktionierte noch. Wie wir aus
Berlin abfuhren war der Zug übervoll, allmählich
wurde es nun besser. Dann kam Dorfmark, das
war unser zugeteiltes Ziel.
Die Hitlerjungen empfingen uns und brachten
uns in einen Saal, ganz in der Nähe des Bahnhofs.
Dort wurden wir von dem Bürgermeister und
noch anderen Parteileuten begrüsst und uns wurden
die Unterkünfte zugeteilt. Außerdem wurde uns
mitgeteilt, daß es manchmal Fliegeralarm gäbe und
was wir dann zu tun hätten. Kaum hatten wir das
so richtig begriffen, ging auch schon die Sirene, es
war Fliegeralarm. So viele Menschen, die dort alle
in dem Saal waren, konnten natürlich nicht so
schnell in irgendwelche Bunker laufen und so blieben
wir da. Man hörte Flugzeuge und dann sofort
schwere Einschläge. Die Schienen auf dem Bahnhof
waren zum Teil getroffen worden.
Eine große Schiene hat noch lange Zeit, gedreht
wie ein Korkenzieher, in einem nahen Feld
gesteckt (wir erfuhren bald, daß die feindlichen Flugzeuge
die Bomben, die sie auf ihre eigentlichen
Ziele nicht werfen konnten, auf Schienen und Bahnhöfe
auf ihrem Rückflug warfen).
Es ging also nochmal gut und zwei Hitlerjungen mit einem Bollerwagen brachten uns zu unserer Unterkunft. Es war das Lehrerhaus direkt neben der Schule. Eine Familie Eggert nahm uns auf. Wir bekamen ein kleines Zimmer mit einem Bett, Tisch und Stuhl. Die Mutti hat uns beide ganz fest in die Arme genommen und dann fürchterlich geweint.
Die Flucht war zu Ende.
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