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Tirschtiegel vor Ausbruch des 2. Weltkrieges
Text und Fotos: Helmut Kahl, Archiv Heimatgruß
Vor 80 Jahren, am 1. September 1939, begann
der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall der deutschen
Wehrmacht auf Polen. Es war der Beginn
eines weitaus größeren, barbarischen Krieges, der
bald weite Teile der Welt ergriff und der unfassbares
Leid über die Menschen bringen sollte.
Als Schüler der Gebrüder-Furth-Schule in
der Neustadt, Jahrgang 1931, möchte ich meine
Erlebnisse und das, was ich von meinen Eltern,
Großeltern und Freunden über diese Zeit erfahren
habe, schildern.
Bereits Mitte der 1920er Jahre florierte im Raum Tirschtiegel entlang der deutsch-polnischen Grenze der Schmuggel mit vorwiegend landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Auch meine Eltern und Großeltern unterhielten umfangreiche »Schmugglerverbindungen « in den Kreis Neutomischel. Überwiegend per Fahrrad besuchten wir dort unsere nach dem Versailler Vertrag nun in Polen wohnenden deutschen Verwandten und brachten Wurst, Schinken und andere Waren über die »grüne Grenze« nach Deutschland, weil in Polen alles preisgünstiger war. Tirschtiegel hatte sich zur Hauptstadt der Schmuggler entwickelt.
Die deutsche Minderheit in Polen erlebte ab
April 1939 eine zügellose Hetzkampagne. Bereits
Jahre vorher waren deutsche Schulen, kirchliche
Einrichtungen und Heimatvereine verboten worden.
In den Volksschulen wurden polnische Lehrer
eingestellt. In den grenznahen Kreisen Birnbaum
und Neutomischel wurden systematisch die
deutschen Angestellten und Beamten aus ihren
Ämtern entfernt. Zahlreiche Deutsche wurden verhaftet
und in Internierungslager gebracht. So z. B.
aus Neutomischel, Kupferhammer und Altvorwerk.
Im folgenden Verzeichnis werden insgesamt 55 Namen
aufgeführt:
Auch Schikanen gegen deutsche Bauern aus
Tirschtiegel nahmen zu, die unweit der Grenze in
Polen ihre landwirtschaftlichen Flächen bewirtschafteten.
Korbweiden, Heu und Getreide durften
nicht mehr über die Grenze nach Tirschtiegel
gebracht werden. Diese Produkte mussten in Polen
verkauft und der Erlös auf ein polnisches Sperrkonto
eingezahlt werden. Für die Bauern der Altstadt
von Tirschtiegel war das eine schwere Zeit,
da sie keinen Nutzen aus ihrer Arbeit hatten.
In Polen war die Teilmobilmachung veranlasst worden und volksdeutsche Reservisten zum polnischen Heeresdienst einberufen. Zahlreiche junge deutsche Männer im wehrfähigen Alter begannen, sich dem polnischen Wehrdienst zu entziehen. So kamen schon Anfang Mai 1939 die ersten volksdeutschen Flüchtlinge aus dem polnischen Nachbarkreis Neutomischel über die Reichsgrenze nach Tirschtiegel. Eine entsprechende Liste aus dem Kreis Neutomischel weist insgesamt 49 Namen aus. Durch die Waldgebiete bewegten sich Gruppen junger Leute über die grüne Grenze.
Es waren überwiegend junge Leute, die sich vor
der Einberufung zum polnischen Heeresdienst
oder einer Internierung retten wollten. Eine
größere Gruppe kam zum Beispiel über das
Anwesen des Landwirts Zerbe in der Altstadt
über die Grenze, der in der Nähe des
Windmühlensees eine Scheune hatte.
Als sie wußten, daß sie in Deutschland
waren, sangen sie den Choral: „Nun danket
alle Gott“. Der Gesang war so laut, dass die
polnischen Zöllner aufmerksam wurden.
Von unserer Verwandtschaft aus Lentschen bei Kupferhammer kamen die ältesten Söhne des Landwirt Gustav Prüfer, die zur polnischen Armee sollten. Meine Mutter Elisabeth Kahl aus Tirschtiegel/Neustadt schleuste einige Verwandte über die »grüne Grenze« und nahm sie auf. In der Turnhalle in der Berliner Straße und in Privatquartieren wurden viele Flüchtlinge notdürftig untergebracht und verpflegt. In den deutschen Zeitungen gab es in diesen Monaten Horrormeldungen über polnische Grausamkeiten an der deutschen Bevölkerung.
Grenzzwischenfall bei Tirschtiegell
Die Flüchtlingsstöme steigerten
sich von Monat zu Monat. So ereignete sich am 28. Mai 1939 ein ernsthafter Grenzzwischenfall,
als der Landwirt und Fischer Karl Koschitzke aus Ziegelscheune
nachts mit dem Kahn Flüchtlinge über den
Windmühlensee, der zugleich Reichsgrenze war,
rudern wollte.
Der am 31.1.1910 in Ziegelscheune geborene
Koschitzke hatte bereits Hunderte von Flüchtlingen
über die Grenze gebracht. Da er nun selbst
gefährdet war, lebte er in diesen Tagen in
Tirschtiegel. Dem polnischen Grenzschutz blieb
das nicht verborgen, und man verstärkte die Patrouille
und beobachtete das Gelände.
Karl Koschitzke wurde informiert, noch
einmal zwanzig Personen über die Grenze zu bringen.
Er wartete bereits an der Anlegestelle mit
seinem Kahn. Dabei wurde er von einem polnischen
Zöllner gestellt. Dieser schoß mehrmals und
Koschitzke brach im Kahn zusammen. Von deutscher
Seite wurde das beobachtet. Auf dem Neuen
Markt in Tirschtiegel fand eine große Trauerfeier
mit propagandistischem Aufwand statt. Anwesend
waren viele Bürger der Stadt, Vertreter der Partei,
von Organisationen sowie der Stadt- und Kreisverwaltung.
Er wurde auf dem evangelischen Friedhof
in Tirschtiegel zur letzten Ruhe gebettet.
Militärische Vorbereitungen
In Tirschtiegel waren die militärischen Vorbereitungen
für einen möglichen Krieg gegen Polen bereits
im Sommer 1939 erkennbar. Von Pioniereinheiten
wurden Unterstände und Maschinengewehrstellungen
auf den alten Schloßbergen errichtet.
Eine Fussgängerbrücke aus Holz wurde über die
Obra geschlagen, die wir als Ostlandsteg bezeichneten.
Zuvor gab es oft Einquartierung von Einheiten
der Wehrmacht. Gut in Erinnerung ist mir eine
bespannte Artillerieeinheit, die einige Zeit in
Tirschtiegel war.
An einem Wochenende wurde auf dem Sportplatz Tirschtiegel, der sich Richtung Hoffmannstal/ Rybojadel befand, der «Tag der Wehrmacht» mit militärischen Schauvorführungen veranstaltet. Viele Einwohner der Stadt waren anwesend. Interessant für uns Schüler war, als die mit 6 Pferden bespannten Artilleriegeschütze auf den Kosakenberg fahren sollten. Sie blieben jedoch im tiefen Sand stecken. Das Geschrei der Kanoniere und Peitschenhiebe halfen nicht. Danach wurden 6 weitere Pferde vorgespannt, die auch die Kuppe des Kosakenberges nicht erreichten. Wenn einige Pferde anzogen, gingen andere zurück, so daß ein ziemliches Durcheinander herrschte.
In dieses «militärische Unvermögen» mischte sich mein Großvater Hermann Schulz ein, der als Kutscher bei Gerd Fischer von Mollard auf dem Schloß tätig war. Er sprach den kommandierenden Offizier an und sagte, er möge sofort mit dieser «Pferdeschinderei» aufhören. So etwas hätte es nicht einmal bei der Artillerie gegeben, wo er 1914/18 gedient hatte.
Die Pferde sollten umgespannt werden
und dann mit einem Sechserzug auf den Berg fahren,
ohne zwischendurch anzuhalten. Gesagt,
getan, die Soldaten gaben sich große Mühe und
erreichten mit einem Geschütz den Kosakenberg.
Hier gingen sie in Stellung und schossen mit Kartuschen
(ohne Granaten) über den Großen See
Richtung Polen.
Mitte August verstärkten sich die militärischen
Aktivitäten. Auf dem Gutshof des Herrn Fischer von Mollard in Tirschtiegel und weiteren
Orten der Stadt waren jetzt Wehrmachtseinheiten
untergebracht. Auch der Grenzschutz wurde Ende
des Monats einberufen, der sich am Schloss und
am neuen Bahnhof sammelte und bewaffnet wurde.
Einmarsch in Polen
Am 01. September 1939 begann der deutsche militärische Angriff gegen Polen. Die deutsche Bevölkerung nahm den Beginn der Kampfhandlungen mit gedrückter Stimmung auf. Unermüdlich verkündete die NS-Propaganda den Angriff als verdiente »Strafaktion« gegen polnische Provokationen und Grenzverletzungen. Die Einwohner von Tirschtiegel wurden in den frühen Morgenstunden des 1. September 1939 unsanft geweckt. Drei leichte Pakgeschütze hatten das Feuer auf den Wasserturm, der am Stadtrand auf polnischem Territorium stand, und auf das polnische Zollhaus eröffnet. Kurz danach wurde die Brücke in Hamritzke gesprengt. Zwei Soldaten konnten verhindern, dass auch die Eisenbahnbrücke gesprengt wurde. Kampfhandlungen in der Nähe der Grenze zu Polen haben nicht stattgefunden. Wir hatten Ferien und ich hielt mich bei meinen Großeltern auf, die auf dem Gutshof wohnten. Die Scheunen und Ställe waren von der Wehrmacht belegt. Mich interessierte jedoch besonders die Feldküche, denn das Essen schmeckte herzhaft und ich durfte mir immer eine Portion holen. Als ich am Morgen des 1. September wach wurde und aus dem Fenster blickte, sah ich keine Soldaten mehr und fragte danach. Meine Großmutter antwortete mit ernster Miene: „Wir haben Krieg, die Soldaten sind in Polen einmarschiert “. „Und die Feldküche ist auch weg!“, sagte ich. Großmutter antwortete, dass die Soldaten keinen Appetit mehr hatten und das Essen in Wannen und Kübel geschüttet wurde für die Schweine.
Die Bevölkerung von Tirschtiegel wurde durch Polizei, Zoll und Militär daran gehindert, auf die Straße zu gehen. Erst im Laufe des Tages wurde die Ausgangssperre aufgehoben. Überall konnte man nun militärische Aktionen beobachten. Einheiten der Wehrmacht fuhren durch Tirschtiegel Richtung Polen. Schon Ende September 1939 kehrten die ersten Reservisten von ihren Wehrmachtseinheiten nach Hause zurück und gingen wieder ihrer Arbeit nach.
Ein Jahr später, am 1. September 1940, wurde an der ehemaligen deutsch-polnischen Grenze in Tirschtiegel ein großer propagandistischer Aufmarsch inszeniert. Dabei wurde die Zollschranke symbolisch entfernt. Wo dieser Siegestaumel hinführte, haben wir 1945 am eigenen Leibe erfahren müssen.
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