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Die Geschichte von Waltraud Scholl geb. Pisternick
Text und Fotos: Waltraud Scholl, Herbst 2010
Geboren, 17.12.1935 in Berlin-Charlottenburg, um 10 Uhr. Ich bin die jüngste von insgesamt drei Kindern. Meine Schwester Hildegard, genannt Hitta, ist 10 Jahre älter, geb. 14.05.1925 mein Bruder Gerhard ist 8 Jahre älter, geb. 26.5.1928, gestorben am 25.04.2009.
Meine Eltern sind Karl Pisternick, geb.
14.3.1899 und Elisabeth, genannt Elli, Pisternick,
geb. May, 11.10.1897. Meine Mutter ist aus Schindelmühl, Kreis Meseritz. Sie lebte in einer reichen Bauernfamilie. Mein Vater ist in Aachen geboren und wuchs in Berlin auf. Er war von Beruf Sonderschullehrer und arbeitete als Schulleiter einer Schule für Schwerhörige in Berlin.

Meine Geschichte:
Ich wurde am 17. Dezember geboren, genau 8 Tage vor Weihnachten. Damit handelte ich mir schon direkt bei meiner Geburt Ärger mit meiner Schwester Hitta ein. Die war sauer, weil Oma May an Weihnachten mit ihr zu Hause war, während ihre und meine Mutter sich mit mir noch im Krankenhaus vergnügte. Mit Oma Pisternick verbindet mich eine Kindheitserinnerung, die ich immer präsent habe. Diese Oma schenkte mir eine Puppe im Steckkissen. Ich packte die Puppe natürlich aus, eine Puppe kann ja wohl nicht immer nur im Kissen sitzen, und da kam der Schock. Die Puppe hatte gar keine Beine. Ich war so was von sauer auf diese Oma, daß ich sie nie mehr in meine Nähe, geschweige denn ins Auto gelassen habe.
Wir lebten in Berlin-Charlottenburg mit unserer Familie, verbrachten aber alle Ferien in Jordan, bei Schindelmühl. In Schindelmühl hatte mein Patenonkel den Bauernhof übernommen, auf dem auch meine Mutter aufwuchs. Mein Vater hatte mehrere Häuser in Jordan gekauft und in einem dieser Häuser wohnten wir in den Ferien. Jordan, Schindelmühl, Bauernhoftiere, das war für mich das Paradies.
September 1939, der Ausbruch des 2. Weltkrieg
Mein Vater wurde sofort eingezogen. Bevor mein Vater von Berlin aus in den Krieg ging,
sprach er noch mit meiner Schwester, die damals
14 Jahre alt war, und übertrug ihr ihr und nicht meiner Mutter - die Verantwortung für unsere Familie, die zu Hause blieb. Ich war zu der Zeit 3 Jahre alt. Als die Bombardierungen in Berlin immer schlimmer wurden, ungefähr im Jahr 1942, spürten wir den Krieg sehr schmerzhaft.
Nachts mußten wir zwei bis dreimal in den Luftschutzkeller,
weil Bombenalarm ausgelöst war. Wir
wohnten im dritten Stock und mußten immer alle
Treppen runter. Der Einfachheit halber legten wir
uns schon immer im Trainingsanzug zum Schlafen
ins Bett.
1942/43 bekam ich eine schwere Lungenentzündung,
hatte 40° Fieber und meine Mutter weigerte
sich, mit mir krankem Kind in den Luftschutzkeller
zu gehen. Der Luftschutzwart drohte ihr mit
Anzeigen oder Ähnlichem. Mutti blieb fest und
wachte über mich in unserer Wohnung.
Meine Geschwister wurden in der Zwischenzeit
auch vom Krieg vereinnahmt. Gerhard musste
im Alter von 16 Jahren zur Flak, obwohl er versuchte,
sich zu entziehen.
Meine Schwester wurde zum Arbeitsdienst einberufen,
im Alter von 18 Jahren. Ich war also ab
1943 mit meiner Mutter alleine.

Weil die Bombenangriffe immer schlimmer wurden,
zogen meine Mutter und ich, mit all unseren
Sachen, mit Sack und Pack nach Jordan.
Jordan liegt in Ostbrandenburg. Es ist auch
heute noch oft so, daß, wenn von den verlorenen
Gebieten Ostdeutschlands die Rede ist, man Ostpreußen,
Danzig, Westpreußen, Pommern und
Schlesien spricht, aber der Teil der Mark Brandenburg,
der nach Osten über die Oder reichte, oft
nicht erwähnt wird.
Dabei ist das Land, das ich als Ostbrandenburg
bezeichne, rund 100.000 Quadratkilometer
groß und damit viermal größer als das Saarland.
Während das Saarland rund 1,3 Millionen Einwohner
hatte, konnte Ostbrandenburg nur etwa 0,62
Bewohner aufweisen. Es war also ein dünn besiedeltes
Land in Deutschland.
Selbst in Theodor Fontanes „Wanderungen
durch die Mark Brandenburg“ wird man vergeblich
Berichte über unseren Kreis Züllichau-
Schwiebus, geschweige denn die Orte Paradies
oder Jordan finden. Es ist nicht anzunehmen, daß
diese Landschaft ihm unbekannt gewesen sein
soll; der Dichter wird diesen Teil der Mark wahrscheinlich
nur deshalb nicht durchwandert haben,
weil er damals so schwer zu erreichen war. Vielleicht hat er ihn als verlassenen Winkel angesehen, der seiner Aufmerksamkeit nicht wert war. Die Menschen, die dort wohnten, hatten kein leichtes Leben. Der karge Boden, der nicht viel hergab, machte viel Arbeit und ermöglichte nur wenig Freizeit, bis auf wenige Ausnahmen. Eine große Fläche, zur polnischen Grenze hin, war mit Wald bedeckt.
Wie die Dörfer Jordan und Paradies zu ihren biblischen Namen kamen
Die beiden Orte kamen durch ihre Gründung im
Jahre 1234 durch Zisterzienser Mönche aus den
Klöstern Mohrin und Chorin aus der Mark. Ein
Chronist schilderte die damalige Landschaft als
ein Sumpfgebiet, das mit Schwärmen von Mücken,
Schnaken und Schlangen ein wüster Ort
gewesen sein soll. Die Mönche hatten es sich zur
Ehre Gottes gemacht, diesen Ort zu einem Paradies
zu machen und gaben dem Kloster so seinen
Namen.
Eigentlich waren die beiden Dörfer nur ein Dorf,
denn der Packlitz-Fluß mit seinen vielen verträumten
Windungen, uferbewachsen mit Schilf und
Wasserbraken, träge dahinfließend, unberührt von
Menschenhand gelassen, stellte so etwas wie eine
Grenze dar und machte zwei Orte daraus. Jordan
gehörte zu Brandenburg und Paradies zur
Grenzmark. Dort ging ich auch zur Schule. Alle Schülerjahrgänge wurden in einem Raum unterrichtet, ich lernte den Stoff für die zweite Klasse. Vor Schulbeginn mussten wir antreten und mit dem Hitlergruß den Tag beginnen. Für mich und auch für meine Mutter war es dort sehr schön. Ich liebte das Leben auf dem Lande sehr. Mein Vater war zu dieser Zeit in Lietzmannstadt, heute Lodge, eingesetzt.
Die Russen
Anfang Januar 1945 zogen die ersten Russen mit ihren Panzern und Panjie-Pferdewagen durch unser Dorf, es war ein Geräusch! Ich höre es immer noch, es dröhnt in meinen Ohren. Wir hatten richtig viel Angst.
In unserer Angst schlossen wir uns mit anderen
Familien im Dorf zusammen. Da waren Verwandte,
die Familie Vogel und Tante Trude, (die Schwester
meiner Mutter), mit ihrer Familie, unsere Untermieter
Kwasnick und Schiller. Insgesamt waren
wir 16 Personen.
Dabei waren zwei junge Mädchen im Alter von
15/16 Jahren, die wir in einem kleinen Zimmer
versteckten, damit die Russen sie nicht finden.
Die Russen gingen in unserem Dorf in die Häuser. Sie holten sich Frauen raus, um sie zu vergewaltigen. Anschließend warfen sie diese Frauen zurück in die Räume, aus denen sie sie geholt hatten. Sie packten sie dabei oft an den Haaren, und die Frauen bluteten und schrien verzweifelt. Unsere zwei Mädchen haben sie zum Glück nicht gefunden. Die Erwachsenen überlegten, wie wir uns alle am besten vor den Russen schützen konnten.
Tante Trude hatte dann die Idee: Gegenüber von der Küchentür gab es eine Eckbank, davor war ein Tisch. Die Erwachsenen machten sich von ihrem Aussehen her alle älter und setzten sich auf die Eckbank. Ich weiß noch genau, wo meine Mutter saß. Wir Kinder, sieben an der Zahl, legten uns vor dem Tisch auf den Boden.
Kamen die Russen in die Küche rein, mussten
sie erst mal über uns Kinder stolpern. Die Russen
mochten Kinder sehr und sie schreckten davor
zurück, auch Kindern etwas Böses zu tun.
Außerdem fing meine Cousine Ulla immer
sofort an zu weinen, sobald ein Russe den Raum
betrat, und wir anderen Kindern taten es ihr nach.
Das konnten die Russen am Anfang noch nicht
so gut haben und gingen dann wieder.
Frau Kwasnick war eine junge blonde Frau. Sie wurde immer wieder von den Russen geholt. „Frau, blond, komm“. Frau Kwasnick und ihren Sohn Joachim, der mein liebster Spielgefährte war, haben wir bald aus den Augen verloren. Manchmal wurden auch die Männer rausgeholt. Da war mein Onkel Georg, der eine Beinbehinderung hatte, und Herr Vogel, der schon alt war. Die Russen stellten ihnen viele Fragen, wenn sie diese nicht beantworteten wurden sie geschlagen. Beide Männer kamen dann mit blutenden Wunden zurück.
Ich glaube, so verlief unser Leben für zehn Wochen, Angst, Schrecken, »Warum muß so etwas sein, warum tun Menschen sich so was an?«
Manchmal hat sich meine Mutti doch in unsere
Wohnung getraut, tagsüber. Wenn sie zurück kam
erzählte sie uns, daß alles verwüstet war, daß
Schubladen herausgezogen waren, daß überall
Dreck war, und daß die Russen zum Saubermachen
einfach einen Teppich drüber gelegt
haben.
Sie sagten dann immer zu uns: „ Das
Zimmer ist wieder höher geworden.“
In diesen zehn Wochen bekam mein Bruder
Gerhard Heimaturlaub. Er wurde aus der Flak in
Berlin entlassen und musste auf seinen Einberufungsbefehl
zur Wehrmacht warten. Er wusste,
daß wir, meine Mutter und ich da waren, er wußte
aber nicht, daß die Russen auch in Jordan waren.
Er reiste also nach Jordan, mit der Bahn, in der
damaligen Zeit!!!
Er war also auch in dieser Küche.
In dieser Zeit fing für mich eine noch schlimmere
Zeit an. Ein Russe kam in die Küche. Er hielt
mir eine Pistole an den Kopf und sagte zu meiner
Mutter: „So haben das die deutschen Soldaten in
Russland mit den Kindern gemacht.“
Ich habe ihn angelächelt, und da konnte er
nicht schießen. Aber meine Mutter hatte Todesängste.
Die Russen nutzten aber auch uns alle, die wir
nicht im Krieg waren, sozusagen als Gefangene. So mußten mein Bruder und meine Mutter, sie war zu der Zeit 47 Jahre alt, im Auftrag der Russen Schützengräben ausgraben. Von diesen Schützengräben wollten die Russen gegen Deutschland kämpfen. Als Gerhard also dabei war, Schützengräben zu graben, wurde er geschnappt und nach Russland deportiert, als verkappter Soldat. Er war damals 17 Jahre alt.
Ich war noch ein Kind, 9 Jahre alt, und spielte
mit anderen Kindern im Dorf. Es gab schreckliche
Dinge zu sehen. Tote Soldaten lagen herum,
verletzte Pferde krochen auf dem Boden herum
und suchten Futter, und von oben wurden wir von
Tieffliegern beschossen. Wir versuchten z.B. in
Chausseegräben, die voll Wasser und Dreck waren, in Deckung zu gehen. Das war mehr wie
einmal unsere letzte Rettung.
Im Mai 1945 lösten die Polen die Russen in
unserem Dorf ab. Auch sie plünderten uns aus.
Mutti hatte eine Pelzweste. Sie war eine zierliche
Frau und die Pelzweste stand ihr sehr gut. Eine
dicke Polin entdeckte diese Pelzweste, quetschte
sich hinein und sagte: „Passt.“ Sie zog mit der
Weste ab, die ihr vier Nummern zu klein war.
Mutti mußte im Altersheim arbeiten, und wir
Kinder waren wieder uns selbst überlassen. An
einem dieser Tage wurden wir von den Polen
beschimpft, wir wußten nicht warum, und warfen
mit Steinen nach uns. Wenigstens waren wir flink
genug und konnten weglaufen.
August 1945
Wir mussten innerhalb von zwanzig Minuten unser
Haus verlassen, mit Sack und Pack. Wir wurden
gezwungen, uns in einen „Vertriebenen Treck“
einzureihen.
Unsere erste Etappe ging nach Schwiebus.
Dort übernachteten wir in einem riesigen Heuschober,
wir Menschen waren dicht an dicht
gedrängt.
Mitten in der Nacht kamen die Polen und
suchten ohne jede Rücksicht nach Wertgegenständen.
Sie stiegen mit ihren Stiefeln auf uns
drauf, sie zogen Ringe vom Finger, notfalls
nahmen sie die Ringe auch einschließlich Finger,
sie schlitzten Federbetten auf, schlugen uns, und
wir versuchten nur noch, uns unsichtbar zu
machen. Alle hatten Angst.
Am nächsten Morgen wurden wir im Treck
weiter nach Westen geführt. Alles zu Fuß. Wir
waren zwar im Treck, aber Mutti und ich wußten
jetzt schon, daß wir nach Berlin wollten. Damit
hatten wir vor, 200 km zu laufen, ohne Essen, ohne
irgendwas. Den Leuten im Treck haben wir
natürlich nichts davon gesagt.
Die Flucht im Treck war mörderisch. Ich war
müde, meine Beine wollten nicht mehr und ich
hatte Hunger. Mutti hat mich dann mal auf eine
Wagenstange gesetzt. In diesem Wagen saßen
nur alte Leute, und die haben dann versucht, mich
von der Stange runter zu werfen. Um meinen Hunger wenigstens ein bißchen zu stillen, gab mir Mutti immer ein kleines Stück Speck, das ich im Mund zergehen lassen konnte. Selbst dieses kleine Stück Speck wollten mir die alten Leute aus dem Mund wegnehmen. Der erste Halt, ein Dorf, wir Fußleute setzten uns in den Staub und warteten auf das, was jetzt kommen würde. Die alten Leute, die auf Pferdewägen saßen, wurden ein Stück weiter gefahren. Plötzlich, als diese außer Sichtweite waren, hörten wir Schüsse. In diesem Dorf bekamen wir etwas aus der Gulaschkanone, irgendeine dünne Suppe. Wir nahmen die Suppe noch zu uns und dann sagte Mutti zu mir: „ Wir müssen nachts von diesem Treck fliehen und alleine nach Frankfurt an der Oder laufen.“ Das haben wir gemacht und kamen nach ich weiß nicht wie vielen Tagen/Wochen an. Wir ernährten uns von unreifem Obst, das ich organisiert hatte, heute würde man sagen, das ich geklaut habe.
In Frankfurt an der Oder führte uns der Weg über eine Brücke. Die Polen erlaubten aber nur Soldaten, diese Brücke zu begehen und haben uns auf halbem Weg zurück geschickt.
Deutsche Soldaten haben das mitbekommen
und versteckten uns zwischen sich, so daß wir in
ihrem Schutz doch über die Brücke kamen. Ich
glaube, diese deutschen Soldaten waren schon
so gut wie in Gefangenschaft. Wir haben uns ganz
klein und unsichtbar gemacht. Nun waren wir in
Frankfurt an der Oder und wurden sofort von sozial
engagierten Leuten empfangen, die uns in
einer Schule Schutz boten.
Mutti ist mit zur Schule, ist mit mir in den Haupteingang
rein, und dann hat sie zu mir gesagt: „Nur
nicht bei Menschenansammlungen bleiben, das
ist gefährlich, dann gehen wir unter.“ Also gingen
wir zum anderen Ausgang dieser Schule wieder
raus und marschierten weiter gen Berlin.
Auf dem Weg übernachteten wir bei Bauern
im Heu, wir bettelten oder wir arbeiteten für Essen
und Schlafen. Nach ich weiß nicht wie langer
Zeit, kamen wir in Berlin an.
Uns traf der Schock schon wieder. Berlin war ein einziger Trümmerhaufen. Nun fragten wir uns, ob es überhaupt noch unsere Wohnung gibt. Wir liefen dennoch weiter Richtung Charlottenburg. In der Rönnestraße gab es ein kleines Lebensmittelgeschäft, und weil ich so einen Hunger hatte, bettelte ich nach Essen. Ich bekam ein Marmeladenbrot geschenkt. Ich freute mich sosehr darüber und strahlte, dass Mutti dachte, jetzt ist ein Licht aufgegangen. Nun hatten wir noch 5 Minuten bis zur Holtzendorffstraße 5 ... es stand noch. Wir gingen die drei Treppen zu unserer Wohnung, schlossen die Tür auf, und wir mußten feststellen, daß zwei unserer 3,5 Zimmerwohnung bewohnt wurden von anderen Familien, deren Wohnsitz ausgebombt war.
Völlig erschöpft saß meine Mutter in der Küche. Da kam auch noch die Vermieterin und unterstellte meiner Mutter, sie habe die Miete nicht bezahlt, und wir hätten kein Recht mehr, in der Wohnung zu bleiben. Später konnte man beweisen, daß die Miete doch regelmäßig überwiesen wurde.
Mutti, die normalerweise eine sehr sanfte Frau
war, antwortete: „ Hier kriegt mich keiner raus, ich
bleibe in der Wohnung sitzen.“ Die Vermieterin gab
nach und wir bezogen das frühere „Herrenzimmer“
möbliert mit einem Tisch, zwei Stühlen, ein Bett
und einem Schrank. (Der Schrank steht heute,
2010 im Wohnzimmer). Wir waren
also an unserem Ziel angekommen, in Berlin.
Wir hatten aber kein Geld und Mutti war an der
Ruhr erkrankt. In diesem Zustand sollte sie Steine
klopfen.
Das wollte meine Mutter auf keinen Fall tun.
Sie ging also zum Arbeitsamt und behauptete einfach,
sie sei Schneiderin von Beruf. Sie hatte das
Nähen zwar im Internat gelernt, aber sie hatte
nicht wirklich eine entsprechende Berufsausbildung.
Sie hatte Glück und wurde im Sozialamt eingestellt.
Ihre Arbeitszeit betrug 12 Stunden pro
Tag, ihre Aufgabe war, alte Uniformen aufzutrennen,
um den Stoff wieder verarbeiten zu können.
Ihr Stundenlohn: 50 Pfennig.
Nach diesen 12 Stunden Arbeit im Sozialamt,
nahm meine Mutter Flickarbeiten in Privathaushalten
an. Das heißt sie kam abends gegen
22 Uhr nach Hause und ich war den ganzen Tag
alleine. Ich habe eingekauft, mit Lebensmittelmarken
angestanden, Kartoffeln organisiert, Kohlblätter
in Gemüsemärkten gesammelt, bei den
Engländern um Tee mit Milch gebettelt und mußte
auch zur Schule gehen. Für mich war das die dritte
Schule, die ich besuchte, innerhalb von 3
Schulbesuchsjahren.
In dieser Zeit wurde ich fast blind, so unterernährt
war ich. Ich bekam eine Medizin, die mir
geholfen hat. Was, weiß ich nicht mehr.
Ich war ein kleines Mädchen allein in Berlin.
Mädchen, die in Berlin alleine herumliefen, wurden
auf grausame Weise von manchen Männern
angemacht, die zum Beispiel Gliedmaße verloren
hatten. Ich erzählte dies meiner Mutter. Darauf
ging Mutti zur Polizei, um die Vorfälle anzuzeigen.
Die Polizei aber sagte nur: „ Solange nichts
passiert ist, können wir nichts machen.“
Vor Angst lief ich so an den Häusern entlang,
daß ich in den Schaufenstern sehen konnte, ob
mich jemand verfolgt. Schulranzen und Schlüsselbund
trug ich so in den Händen, daß ich sie
als Waffe zur Selbstverteidigung benutzen konnte.
Nach ein paar Monaten kam, im Herbst 1945
meine Schwester Hitta nach Berlin. Nun ging es
mir ein bißchen besser, weil ich nicht mehr ganz
so alleine war. Sie wollte Lehrerin werden. Sie
unterrichtete morgens und studierte am Nachmittag,
manchmal ging sie auch in die Nähstube, um
Mutti zu helfen.
Meine Schwester Hitta bekam einen gültigen
Mietvertrag für die Wohnung in der Holtzendorffstraße.
Meine Mutter hätte von der Vermieterin
keinen aktuellen Mietvertrag bekommen, da die
Vermieterin Jüdin war und mein Vater Mitglied in
der Partei war. Eine der Familien, Mutter und Tochter,
wurden aus unserer Wohnung gegangen, da
sie uns bestohlen hatten. Das größte Zimmer blieb
weiterhin untervermietet.
Erstkommunion
Ostern 1946 ging ich zur Erstkommunion. Ich
trug voller Stolz ein zipfeliges Kleid, genäht aus
Windelstoff, dazu weiße Stoffschuhe. Ich fand mich wunderschön. Gefeiert haben wir im kleinen
Kreis, Mutti, Hitta und ich, zu Hause.
Danach kam die „Verschickung“ ins Allgäu,
nach Starkenhofen. Hitta ging als betreuende Lehrerin
mit, wollte mich eigentlich am liebsten in ihrer
Nähe haben, aber das ging nicht. Wir Kinder
saßen in einer Klasse. Dahin kamen Bauern oder
mögliche Gasteltern und suchten sich aus, welches
der Kinder sie zu sich nach Hause nehmen
wollten, um es hochzupäppeln. Ich wurde sehr
schnell ausgesucht.

Herr Ramp, ein Molkereibesitzer, nahm mich
mit zu seiner Familie. Ich war nun in Gesellschaft
seiner Tochter, 1 Jahr älter und eines Sohnes, 1
Jahr jünger. Ich war nun mitten unter den Dorfkindern
und durfte mit ihnen spielen, obwohl ich
aus Berlin war. Die anderen Berliner Kinder waren
eher unter sich. Erstens waren sie evangelisch
und zweitens waren sie in den Augen der
Allgäuer arrogant.
Ich selbst kannte und liebte das Dorfleben und
dann kam es mir zugute, daß ich katholisch war.
Mir ging es gut, trotz Läuse, es gab genug zu
essen und zu trinken. Mutti bekam von meiner
Gastfamilie Päckchen mit Butter nach Berlin geschickt.
Noch Jahre später haben wir die Leute besucht,
zuerst mit Vati, später auch mit Wolfgang.
Hitta hatte Heimweh, ich nicht. Kurz vor Weihnachten
hielt es Hitta nicht mehr aus, und wir beide
fuhren ohne die anderen Berliner Kinder nach
Berlin zu Mutti.
Dort holte uns Gerhard vom Bahnhof ab. Welch
Überraschung, da wir ihn ja noch in russischer
Gefangenschaft vermutet hatten. Er war krank,
hatte wahrscheinlich Typhus und war schrecklich
unterernährt. Wir blieben in Berlin, hatten wenig
zu essen und Gerhard immer Hunger. Im Frühjahr1947
bestand ich meine Aufnahmeprüfung in
der Liebfrauen- Oberschule, geleitet von Ordensschwestern,
im Ahornweg.
In dieser Zeit, 1948, wurden wir zum Teil durch
die Luftbrücke versorgt, da die Russen die Grenzen
zugemacht hatten. Wir hatten nunmehr nur
noch getrocknete Kartoffeln und getrocknete Karotten
zum Essen. Es war fast ungenießbar.
Mutti war inzwischen zur Leitung in der Nähstube
im Sozialamt Berlin-Charlottenburg aufgestiegen.
Nun konnte sie mir sogar Klavier- und
Ballettunterricht bezahlen.
1950 wurde Vati aus der Kriegsgefangenschaft
entlassen. Er hatte Angst nach Berlin zu gehen,
da er dachte, ganz Berlin sei in russischer Hand.
So ließ er sich nach Aalen entlassen, dort lebte
sein Vater und seine beiden Schwestern.
Er meldete sich per Brief bei uns, und erst lange
nachdem wir den Brief erhalten hatten, besuchten
wir ihn in Aalen in der Erzgrube.
Erst 1951 zogen wir nach Aalen zu Vati. Er verlangte dies so, wir wollten das eigentlich nicht. Wir sollten zu ihm nach Aalen, obwohl sich Mutti einen guten beruflichen Stand in Berlin erarbeitet hatte. Er verlangte es so einfach von uns, obwohl er es zum Beispiel nie für nötig hielt, uns während seiner freien Tage im Krieg zu besuchen. Er war damals nicht wirklich weit weg von uns stationiert. Vielleicht 100 km und wenn ihm wirklich etwas an uns gelegen hätte. Ich verstand das wirklich nicht.
In Aalen angekommen, zogen wir in den Haushalt von Tante Mieze, Schwester von Vati, und hatten nichts mehr zu sagen. Ich selbst mußte bei der alten Großtante Angela im super-kleinen Zimmer schlafen. Wir hatten da nichts zu lachen.
Meine Oma Klara May kam auch noch zu uns
nach Aalen. Sie teilte mit meinen Eltern ein Zimmer.
Sie starb im Alter von 88 Jahren, einfach indem
sie sich zum Schlafen legte und nicht mehr
aufwachte.
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