Walter Kintzel
Unter diesem gängigen Spruch wurden im Spätsommer
1944 ostwärts von Meseritz zwischen der
„Festungsfront Oder-Warthe-Bogen“ (im Volksmund
auch „Ostwall“ oder einfach „Bunkerlinie“
genannt) und dem „Tirschtiegel-Riegel“ auch Zivilisten
unserer Heimatstadt zum Schanzdienst für
Schützengräben und Geschützstellungen herangezogen.
Der Aufhänger für meinen Artikel ist ein Lebenslauf
eines späteren Arztes aus Bad Wilsnack
bei Perleberg, den mir Herr Dr. Wolfram Hennies
(vormals Museum Perleberg) zugängig machte.
Herr Dr. Hennies, mein ehemaliger Schüler,
wusste von seinem Lehrer, daß dieser aus
Meseritz stammte, und genau dieser Ort wurde
in der Biografie genannt. Außerdem sind es noch
persönliche Erinnerungen, die ich an diese Aktion
habe.
Im Sommer 1944 war es den sowjetischen
Truppen gelungen, die deutsche Heeresgruppe
Mitte zu zerschlagen. Dadurch drangen die sowjetischen
Armeen nicht nur bis zur Weichsel vor,
sondern sie vermochten sie an einigen Stellen zu
überschreiten. Den deutschen Truppen gelang es
nicht mehr, diese Brückenköpfe einzudrücken, die
von den Sowjets an vielen Stellen erweitert wurden.
Das zeigte, wie schwach die Deutsche Wehrmacht
im Osten geworden war. Daraus entwickelte
sich eine ernste Lage.
Das deutsche Heer hatte als Hauptwiderstandslinie
die sogenannte B1-Stellung im Osten
geplant, für den Fall, daß die russischen Armeen
vordringen sollten. Die Linie B1 (OKH Stellung B1)
bestand hauptsächlich aus leichten Feldbefestigungen.
Die Grundlage waren natürlich die Schützengräben,
von denen aus die Soldaten den Beschuss
durchführen sollten. Bald wurde mit dem Bau von
Feldstellungen begonnen. In ihnen sollten zurückgehende
Truppen aufgenommen und durch frische
Einheiten verstärkt werden. Intensiv wurde in der
Neumark geschanzt.
Hinter der Kette der Obraseen und ihrer Verlängerung
wurde eine starke Stellung ausgebaut.
Das Heer bezeichnete sie als den „Tirschtiegel
Riegel“, da das Städtchen Tirschtiegel mitten darin
zwischen den Seen lag (vgl. HIELSCHER 1957).
In einem lesenswerten Aufsatz hat K. SCHEEL
(2009) dazu Einzelheiten mitgeteilt.
Er schreibt u.
a.: „In Birnbaum und Meseritz sowie in anderen
Städten und Dörfern kamen wegen der Veränderung
der Ostfront und der ständigen Rücknahme
der deutschen Frontlinien neue Sorgen und auch
Zweifel auf und die Stimmen wuchsen, ob der
Krieg für Deutschland noch zu einem Sieg führen
werde. Als Vorbereitung für den Ernstfall hatte die
NS Prominenz im Jahr 1944 eine große Schanzaktion
organisiert.
Im Gau Wartheland waren 206.051 Menschen zum Schippen kommandiert worden. In Pommern gruben allein 70.000 Frauen Deckungslöcher und Stellungen. Zwischen Weichsel und Oder wurden 574.000 Arbeitskräfte eingesetzt. Aber manche waren Hilfskräfte, Büroangestellte, Schüler u.a.“
Hier setzt nun der Bericht von Klaus Eichler ein. „In den großen Ferien 1944 ging es zum Arbeitseinsatz an den Ostwall, da kam auch ich dran. Wir sollten den Ostwall erweitern. Zuerst kamen wir in ein Sammellager nach Calau. Ich gehörte zum Bann West-Prignitz. Wir vom Bann 197 kamen in den Raum Meseritz.
Ich kann mich erinnern, wie wir an einem großen
Kriegsgefangenlager vorbeimarschierten, in
dem fast nur dunkelhäutige, amerikanische
Flugzeugbesatzungen waren. Untergebracht wurden
wir in 15-Mann-Zelten. Neben uns lag ein
Regiment Badoglio-Soldaten. Sie galten zuerst als
Verbündete der deutschen Armee, dann waren
es Verräter im Sinne Hitlers, die zum Feind übergelaufen
waren. Sie wurden von der SS streng
bewacht. Dadurch waren auch wir gut geschützt.
Alle zusammen sollten wir, ausgerüstet nur mit
einfachen Schaufeln, den Ostwall schippen bzw.
verbreitern. Natürlich hatten die Gefangenen ein
viel größeres Pensum zu schaffen. Sie wurden
auch streng bestraft, wenn irgendetwas nicht
klappte. Zuerst mussten Bäume gefällt werden,
viele schöne Waldstücke wurden einfach platt
gemacht. Wir hatten den Auftrag, eine riesengroße
Schonung abzuholzen, die etwa zwei Kilometer
im Quadrat groß war. Alle Baumstümpfe mussten
kurioserweise exakt in 30 cm Höhe über der
Erde spitz abgehackt werden, feindliche Fallschirmjäger
sollten sich dort bei ihrem Absprung
aufspießen. Doch diese Erlebnisse machten mich
sehr nachdenklich.
Die uns benachbarte SS wollte uns dauernd als Freiwillige werben. Sie zeigten uns viele beliebte Kinofilme wie z.B. die „Feuerzangenbowle“ mit Heinz Rühmann. Die sah ich mir an, aber dann verzog ich mich. Gott sei Dank war ich einer der Kleinsten, sie wollten ja keine Jungen unter 1,70 m Größe in ihren Reihen haben. Ich sagte immer, ich sei ein „Schrumpf-Germane“, das war eines ihrer Schimpfwörter und ich konnte mich verpissen.“
W. Krause (vgl. Internet) aus Sommerfeld in der Niederlausitz berichtete über seinen Einsatz bei Nipter: „Es war im Spätsommer 1944, als die Nazis Zehntausende von Zivilisten, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und Baueinheiten zu wochenlangen Schanzarbeiten an rückwärtigen Verteidigungsstellungen der Ostfront im Raum zwischen Oder und Warthe einsetzte.
Unsere Aufgabe bestand
darin, ein System von Schützengräben anzulegen.
Jeder von uns musste täglich ein etwa 2
m langes Grabenstück von 1,6 m Tiefe und 0,7 m
Breite ausheben.“
H. Richter (vgl. Internet) aus Lobetal bei Bernau
schreibt, daß entlang der alten deutsch-polnischen
Grenze Schützen-, Lauf- und Panzergräben ausgehoben
werden mussten. Der Sondereinsatz der
Hitlerjugend stellt natürlich nur eine Vorsichtsmaßnahme
dar. Soweit werden die Bolschewisten
niemals kommen!
Untergebracht sind die HJler in Paradies bzw.
Jordan, also zwischen Meseritz und Schwiebus.
Auf den abgeernteten Feldern sind bereits im Zickzack
verlaufende Furchen markiert, an denen
entlang 1,50 m tiefe Schützengräben, dazwischen
2 m tiefe Verbindungslaufgräben auszuheben sind.
Jeder kriegt einen Abschnitt von zwei Meter Länge
zugeteilt. Abschließend schreibt er:
„Am 30. Januar 1945 werden die tief gestaffelten
Stellungen zwischen Meseritz und Schwiebus
von der 44. sowjetischen Panzerbrigade
durchbrochen, weil die von uns so mühsam angelegten
Gräben und die alten Panzerwerke nur
teilweise von schwachen deutschen Verbänden
besetzt waren. Nach zwei Tagen erbitterter Abwehrkämpfe
im Oder-Warthe-Bogen erlahmt der
heldenmütige Widerstand gegen die Spitzen von
vier sowjetischen Armeen.
Mein Freund Jürgen ist als Panzergrenadier eingezogen. Ein Kamerad seiner Einheit, der in einem polnischen Waldgebiet in einer Schützenkette als Vorletzter vor ihm herpirscht, bemerkt, als er sich nach ihm umdreht, daß er selbst auf einmal der Letzte ist. Vermutlich haben Partisanen dem Jürgen lautlos die Kehle durchschnitten. Er gilt seitdem als vermißt.“
Im September 1944 musste mein Vater auch zum Schanzen ostwärts von Meseritz bei Kupfermühle erscheinen, das geschah an mehreren Wochenenden. Er hatte mich mitgenommen. Mein Vater musste mit anderen Männern und auch Frauen eine Geschützstellung ausheben, kreisrund, knapp einen Meter tief, nach Westen ein flacher Einstieg, von dort sollte das Geschütz reingeschoben werden, an beiden Seiten befanden sich gewinkelte Splittergräben.
Als ich mich unlängst mit meinem Meseritzer
Freund Martin Meißner darüber unterhielt, erzählte
er mir, daß er mit seinem Schulkameraden Georg
Wittchen dort auch am Rand eines kleinen Kiefernwäldchens
geschanzt habe.
Ich war mit einem kleinen Feldspaten eifrig
dabei, kontrolliert wurde das alles von einem Offizier
der Wehrmacht, der das Verwundetenabzeichen
in Gold trug, offensichtlich nicht mehr
kriegsverwendungsfähig war. Eines Tages fragte
er mich, zu welcher Waffengattung ich gehe, wenn
ich Soldat werde. Wie aus der Pistole geschossen
antwortete ich: „Ich werde Panzersoldat!“ Er
als Artillerieoffizier war sicher nicht von meiner
Aussage beeindruckt, aber die Propaganda,
insbesondere durch die Deutsche Wochenschau,
ließ grüssen.
Ich kann mich noch erinnern, daß es herrliches
Herbstwetter war; daß ich und die anderen
Meseritzer den nächsten Herbst nicht mehr in
unserer Heimat erleben würden, daran hat wohl
keiner gedacht.
Jetzt, rund 75 Jahre später, denke ich oft
darüber nach, wie wahr die Erinnerungen eines
Schuljungen sind. Lang lang ist’s her, doch tauchen
immer wieder Kindheitserinnerungen auf. Es
sind die Erinnerungen, die bleiben, stark davon
abhängig, wie stark oder intensiv wir ein Erlebnis
oder eine Situation empfunden haben.
Kein Mensch kann sich an alles erinnern, was
in seiner Kindheit geschehen ist, oft bleiben nur
einzelne Vorgänge oder Bilder im Gedächtnis.
Dennoch: „Es gibt kein Alter, in dem alles so
irrsinnig intensiv erlebt wird wie in der Kindheit“
(Astrid Lindgren).
Es ist sicherlich die kindliche Prägephase, die
bei jedem Menschen einen individuellen
Erinnerungsschatz entstehen lässt, und er selbst
kann oft nicht sagen, warum er sich ausgerechnet
an dieses oder jenes Ereignis erinnert.
An einige Fakten möchte ich erinnern, die mir
gerade beim Lesen der Biografie von Klaus Eichler
kamen. Mein Spielkamerad in der Kirchstraße 16
war Ingo Ebel, der Sohn des Rechtsanwaltes
Johannes Ebel. Ebels hatten ein Kindermädchen
namens Edelgard, blond und filigran. Eines Tages
im Spätsommer 1944 war ich bei Ingo, als
der Blockwart kam und Edelgard aufforderte, am
Wochenende zum Schanzen zu kommen.
Edelgard, aus einem Dorf bei Sternberg stammend,
wollte an dem besagten Wochenende zu
ihrer Mutter fahren. Der Blockwart sagte ihr, daß
sie zum Schippen erscheinen müsse, denn das
war die Pflicht der BDM-Mädel. Am Wochenende
traf ich dann Edelgard beim Schanzen, was ihr
körperlich bestimmt schwer fiel.
K. Eichler schrieb auch über die italienischen
Gefangenen. Ich wurde zwar noch in der prächtigen
Volksschule eingeschult, aber schon im ersten
Schuljahr mussten wir die Schule verlassen, weil sie zum Reservelazarett wurde.
Nach mehreren Zwischenstationen landeten
wir danach in Baracken nahe des Grenzlandhauses.
Just davor befand sich ein Gefangenenlager
hinter Stacheldraht für italienische Soldaten.
Was absolut nicht in mein kindliches Gemüt
rein wollte, weil doch Italien ein mit Deutschland
verbündeter Staat war. Mein Vater, den ich danach
befragte, erklärte mir den Zusammenhang.
Wir Schuljungen standen manchmal außerhalb
des Stacheldrahtes und wurden aufgefordert,
deutsches Geld gegen ihr italienisches Geld, das
sie uns zeigten, zu tauschen. Da wir ja kein Geld
hatten, kam auch ein Tauschgeschäft nicht zustande.
Ich weiß nur noch, daß wir folgende Zeilen
sangen: „Wir sind die tapferen Italiener, doch unser
Land wird immer kleener.“
So sind kindliche Erinnerungen.
Quellen:
EICHLER, K. (1957): Mein Lebensweg. Unveröffentlichtes Manuskript im Besitz von Dr. Wolfram Hennies (Perleberg).
HIELSCHER, A. K. (1987): Das Kriegsende im Westen des Warthelandes und im Osten der Kurmark. Bielefeld, im Selbstverlag.
KRAUSE, W.: Episoden eines wechselvollen Lebens. Internet: Jahrgang28.de - Werner Krause - Episoden eines wechselvollen Lebens, Seite 89 Osteinsatz oder wie ich zu meinem Spitznamen kam.
RICHTER (H. J.): Schützengräben im Paradies. Internet: Zeitzeugen Team-Delta (online.de) polen/pl-wk-ii/ffowb/zeitzeugen/
SCHEEL, K. (2009): Schatten des Krieges über Birnbaum und Meseritz 1944/1945, Heimatgruß Nr. 191, Dezember 2009, S. 28 ff.
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