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Die Vertreibung aus unserer Heimat
Käthe und Manfred Koschützke
Die wilde Vertreibung aus unserer Heimat
östlich der Oder in Rogsen Kreis Meseritz
am 25. Juni 1945 mit täglichen Notizen aus
dem Tagebuch meines Bruders Manfred
Koschützke, 14 Jahre, zum Teil abgeschrieben
beziehungsweise auf Erinnerungen von
Käthe Oehme geborene Koschützke, 13 Jahre,
beruhend.
Unsere Familie:
Vater: Wilhelm Koschützke, geb. 24.5.1894
Mutter: Frieda Koschützke, geb. 21.8.1896
Tochter: Elfriede Koschützke, geb. 25.3.1923
Erst nach Übergabe des Bauernhofes an meinen
Vater wurden geboren:
Sohn Manfred Koschützke, geb. 25.11.1930
Tochter Käthe Koschützke, geb. 27.8.1932
Tochter Christel Koschützke, geb. 3.1.1935
Am 25.6.1945, wurde durch Ausklingeln
um 11:30 Uhr in unserem Heimatdorf Rogsen
vom Bürgermeister der polnischen Besatzer
bekanntgegeben, dass bis 12 Uhr alle Deutschen
ihre Sachen gepackt haben sollen.
Um 12 Uhr wurde bekanntgegeben, dass
alle Deutschen sich zwischen Schule und
Kommandantur einzufinden hätten.
Meine
kleinere Schwester 9 Jahre und ich waren im
Garten. Wir hatten gerade festgestellt, dass
die ersten Stachelbeeren reif waren, als unsere
Mutter uns rief. Sie sagte, wir müssen
weg. Wir sollen unsere Schulranzen entleeren
und mit Essensachen, die sie uns gab,
packen.
Wir zogen noch mehrere Sommerkleider,
eines über das andere an und legten unsere
selbst aufgezogenen Ketten an. Ich steckte
auch die bunten Fäden und die Nadel aus meinem
Webkasten sowie meine Geburtsurkunde
ein. Die Geburtsurkunde hatte ich kurz
zuvor für die Teilnahme an einer Sportveranstaltung
von der Gemeinde geholt.
Wir
gingen mit unseren Sachen auf die Straße
hinaus, wo schon alles voller Menschen war,
als meine Mutter sah, dass die Leute Handwagen
und Kinderwagen mit Sachen vollgepackt
hatten, lief sie mit meinem Bruder
zurück zum Haus und holte ebenfalls den kleinen
Hand- und Kinderwagen vom Boden.
Dieser wurden mit Sachen befüllt, die man
gerade zu fassen bekam sowie für jeden eine
Decke. Bis 16 Uhr haben wir dort auf der Straße
gestanden und gewartet. Dann setze sich
eine Karawane von Menschen in Bewegung.
Auf der Landstraße war kein Anfang und
kein Ende zu sehen. Wir liefen, bis die Sonne
untergegangen war, dann gab es einen Halt.
Alle setzen sich an den Straßengraben und
machten Brotzeit. Wir aßen, was wir in unseren
Schulranzen eingepackt hatten. Wir waren
total erschöpft und enttäuscht, weil wir
nicht wieder nach Hause durften.
Wir hatten nur eine Wolldecke, die bekam
meine kleine Schwester. Wir drei, mein Bruder
Manfred, 14 Jahre, meiner Mutter, 49 Jahre
und ich, Käthe, 12 Jahre hatten Pferdedecken,
die waren zwar nicht so dick, aber
dadurch auch nicht so schwer. Wir wickelten
uns jeder in seine Decke und legten uns in
das hohe Gras. Durch die schrägen Grabenränder
waren wir nach unten gerollt.
26.6.1945 Am nächsten Morgen wurden wir
durch eine große, strahlende Sonne geweckt.
Das Gras war klatschnass. Die Kleider, die ich
übereinander anhatte und die Schlafdecke
ebenfalls. Ich fühle mich total elend und mir
war sehr kalt. Ich hatte von der ersten Übernachtung
draußen ständig Durchfall zirka 6 -
8 Wochen. Später sind mir die Haare ausgegangen.
Das war der Nachweis, dass ich Typhus
hatte.
27.6.1945 In der Eile unseres Aufbruchs
hatte meine Mutter auch eine Palette roher
Eier in den Handwagen gestellt. Sie, Manfred
und Christel saßen dann, köpften die Eier auf
und tranken sie aus. Ich sollte das nun auch
machen, aber ich konnte nicht, mir war
schlecht und ich hatte Bauchschmerzen. Bis
auf die Eier hatten wir nichts zu trinken.
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung
und wir mussten uns einreihen. Alle Leute hatten
ihre Decken um die Schulter, über die nassen
Sachen gehängt, damit diese trocknen.
Ich bekam Durchfall und musste ab und zu
hinter einem Busch verschwinden. Der Zug bewegte sich kontinuierlich vorwärts, und ich
musste mich beeilen, um den Anschluss nicht
zu verlieren. Ich rannte, so schnell ich konnte
hinterher.
Einmal geschah es, dass ich meine Leute
nicht wiederfinden konnte. Durch die umgehängten
Decken sahen alle Leute von hinten
gleich aus. Ich geriet in Panik und rannte noch
schneller. Meine Mutter hatte mich vorbeilaufen
sehen und rief mich, aber ich hörte sie
nicht. Schließlich riefen sie alle meinen Namen
und ich war erlöst und froh, dass ich sie
wiedergefunden hatte.
Zum Glück stieg die Sonne höher und unter
der nassen Decke wurden die nassen Kleider
dampfig und warm. Durch die Bewegung
bis zum Abend war alles trocken geworden.
Wir kamen mittags in einen Ort mit Namen
Pieske, da gab es einen Halt und da gab es
auch Wasser. Am Nachmittag ging es weiter
in Richtung Grabow. Es gab vor dem Ort einen
Halt, leider mussten wir wieder im Straßengraben
schlafen. Am nächsten Morgen
waren wir total erledigt, alle Knochen taten
weh und alles war wieder nass.
28.6.1945 Früh zog ein Gewitter auf. Wir
ziehen ins Dorf Grabow und finden in den verlassenen
Häusern Schutz. Am Nachmittag
ging es weiter. Wir erreichen Langenfeld. Dort
schlafen wir in einer Scheune, wir bleiben in
Langenfeld, weil es weiterhin regnet, und
schlafen in einem Haus auf dem Fußboden.
Die Häuser waren bis auf die Möbel völlig
ausgeräumt, es gab keine Betten, keine Matratzen,
keine Sachen in den Schränken, keine
Tassen und Teller oder Besteck.
Einmal haben Mama und Manfred gelegte
Kartoffeln ausgebuddelt und daraus Kartoffelpuffer
auf der bloßen Herdplatte ohne Fett
und Salz gebacken. Zum Glück sind sie nicht
auf der Herdplatte kleben geblieben. Es war
das reinste Wunder, sie haben wunderbar geschmeckt.
29.6.1945 Es geht weiter bis Zweinert, wir
schlafen in einem Haus auf dem Fußboden,
eingewickelt in unsere Decke.
30.6.1945 Wir bleiben in Zweinert.
1.7.1945 Es geht weiter bis Lässig. Dort
schlafen wir in einem Spritzenhaus auf dem
blanken oden.
02.7.1945 Wir brechen früh auf und gehen
am Nachmittag nördlich von Görlitz über eine
künstlich gelegte Brücke über die Oder. Wir
kommen bis Reitwein und übernachten in einem
völlig leeren Bunker. Die Häuser waren
alle kaputt, Mama hatte Angst, dass wir Läuse
bekommen. Wir konnten uns die ganze Zeit
nirgends waschen, weil jedes Plätzchen auf
dem Fußboden schon mit Menschen belegt
war. Außerdem hatten wir kein Waschzeug mit
und auch keine Wäsche zum Wechseln.
In dem Bunker war nur unser „Clan“ untergebracht,
die vielen Menschen, die mit uns
unterwegs waren, sind wie von Geisterhand
verschwunden. Auf der gesamten Strecke von
zu Hause bis zur Oder gab es nichts zu essen
außer das, was wir mitgenommen hatten.
Wenn wir Essen bekommen haben, ist
es in diesem Bericht erwähnt.
3.7.1945 Wir laufen bis Seelow und schlafen
in einem Stall. Die Straße darf nicht verlassen
werden wegen der Minen und
Blindgängergefahr.
4.7.1945 Wir wollen nach Frankfurt/Oder
zu der Schwester unserer Oma, die dort mit
einem Eisenbahner verheiratet war. Es geht
weiter nach Müncheberg. Weil es regnet,
schlafen wir dort auf einer Kellertreppe und
im Keller, da der Kellerschacht nicht zerstört
ist. Wir sitzen auf einem Ziegelstein mit dem
Kopf an die Wand gelegt, da das Wasser die
Treppe herunter läuft.
5.7.1945 Wir dürfen in Richtung Berlin
nicht weiter marschieren. Wir übernachten in
einer Baracke.
6.07.1945 Wir laufen Richtung Frankfurt/
Oder bis Ahrensdorf. Wilhelm und Manfred bemühen
sich ergebnislos um Arbeit. Wir schlafen
im Güterschuppen auf dem blanken Fußboden.
7.7.1945 Wir laufen weiter bis Frankfurt/Oder und sind um 18.30 Uhr bei Tante Miebs
in der Großmüllroser Straße.
8.7.1945 Wir machen große Wäsche mit
uns und allen Sachen, die wir am Leibe hatten.
Wir waren so viele Leute und der Fußboden
der kleinen Zweizimmerwohnung reichte
nicht aus. Wir mussten in der Waschküche auf
dem Steinboden schlafen.
Am 9.7.1945 bleiben wir in Frankfurt/Oder.
10.7.1945 Wir stehen sehr früh auf und gehen
auf den Bahnhof, um mit dem Zug wegzufahren.
Wir waren insgesamt 12 Leute mit
4 Handwagen. In unserem Handwagen waren
noch 2 Pflastersteine ein Kochtopf mit
Deckel zum Tee kochen sowie 3 Schulranzen
und 4 Decken.
Den Handwagen musste man über die Stufen
in den Zug heben. Das alles bei dem Gedränge
von Leuten aus Berlin, die nur einen
Rucksack hatten. Die Leute saßen auf den
Stufen und auf dem Dach. Einmal haben wir
es versucht, in den Zug zu kommen, nur
Christel und ich mit Handwagen kamen in den
Zug, alle anderen standen noch draußen. Ich
bekam Panik, hatte Angst, dass der Zug mit
uns abfährt.
Wir haben uns mit Mühe und Not wieder
aus dem Zug heraus gedrängelt. Danach waren
wir total erledigt auf dem Bahnsteig war
es total heiß, kein Schatten. Gegen Mittag sind
wir weiter nach Müllrose marschiert. Wir schlafen
in einer Scheune.
11.7.1945 Wir teilen uns. Drei Schwestern
meines Vaters mit ihren 3 erwachsenen Töchtern,
wollen Richtung Leipzig laufen zu ihrem
Bruder, der dort ein Haus hat. Wir bleiben zusammen
unsere Oma Martha Liehmann und
Sohn Wilhelm sowie die Schwester unserer
Oma Lima, Anna, mit ihrer erwachsenen Tochter
Ella Bleschke.
Die Töchter unserer Oma: Anna Wilhelm
mit Tochter Elsabeth, 13 Jahre und Hildegard
10 sowie ihre alte Schwiegermutter
Die Tochter unserer Oma: Frieda
Koschützke mit Manfred 14, Käthe 12, und
Christel, 9 Jahre alt. Insgesamt waren wir 12
Personen.
Wir laufen bis Biegen und schlafen in einer
Scheune beziehungsweise in einer Stube.
12.7.1945 Wir laufen bis Jakobsdorf und
dann an der Bahnstrecke entlang bis Briesen.
Wir schlafen in einer Scheune.
13.7.1945 Wir bleiben in Briesen. Wilhelm,
Frieda, Martha und Manfred Dehm nach
Falkenhagen, um Arbeit zu suchen, leider erfolglos.
20 Kilometer vergeblich gelaufen.
14.7.1945 Wir laufen bis Fürstenwalde. Tante
Annas Schwiegermutter kann nicht mehr
laufen. Wir konnten sie in Fürstenwalde im Altenheim
lassen, abends bekommen wir warmes
Essen. Wir schlafen in der Fabrik Dennmisch.
15.7.1945 Wir laufen nach Neu-Waltersdorf.
Dort bekommen wir erst nach einigem Hin und
Her in einer Scheune eine Übernachtung.
Unterwegs pflücken wir Blaubeeren.
16.7.1945 Wir bekommen von einer Bäuerin
Milch. Am Nachmittag marschieren wir auf
der Autobahn weiter bis Friedrichshof.
Unterwegs gehen meine Sandalen kaputt
die Teerstraße ist ganz warm und weich, wir
holen eine dünne Tanne aus dem Wald und
kochen Tee von Pfefferminzblättern, die wir
vorher am Waldrand gesammelt hatten. Wir
schlafen auf dem zementierten Scheunenboden.
17.6.1945 Wir laufen auf der Autobahn
weiter bis Niederlehme, wo wir Mittag machen.
Wir laufen weiter, bis Königs-Wusterhausen
in ein Lager.
18.7.1945 Um 03:30 Uhr stehen wir auf,
um mit dem Zug um 05:18 Uhr nach Groß
Kienitz zu fahren. Von Groß Kienitz laufen wir
nach Blankenfeld in ein Lager. Unterwegs bekommen
wir in einem Hotel ein Teller Mittagessen
für 0,60 RM. Im Lager bekommen wir
Mittag und Kaffee. Wir schlafen in einer Baracke.
19.7.1945 Wir bleiben im Lager. Zum Frühstück
gibt es eine Scheibe Brot und Kaffee.
Wilhelm, Frieda, Martha und Ella gehen zum
Landrat und erhalten einen Schein. Wir sollen
nach Nauen. Wir bekommen Mittag, am
Nachmittag holen Wilhelm und ich 20 Kilogramm
Kartoffeln und 2 Brote für 12 Personen.
20.7.1945 Pro Person gibt es eine Stulle
und Kaffee. Wir laufen nach Groß Kienitz und
schlafen in einer Scheune.
21.7.1945 Wir fahren mit dem Zug um 06:11
Uhr nach Berlin, Hermannstr. Wir gehen die
Herrmannstraße entlang bis zum U-Bahnhof
Leinestraße mit der U Bahn fahren wir bis zum
Rosenthaler Platz.
Wir kochen bei einer Frau etwas und essen
am Rosenthaler Platz auf der Straße. Wir marschieren die Brunnenstraße und Invalidenstraße
entlang zum Lehrter Bahnhof. Von dort
fahren wir mit dem Zug nach Spandau-West,
steigen um und fahren weiter bis Nauen. Wir
schlafen in einer Scheune mit noch anderen
Flüchtlingen.
22.7.1945 Wir bleiben in Nauen und in der
Scheune. Auf dem Arbeitsamt wurde der Bescheid
gegeben, morgen noch einmal zu kommen.
Am Nachmittag gab es einen großen
Sturm, es wurden Fensterscheiben zerstört,
Dachziegel abgedeckt und Bäume entwurzelt.
23.7.1945 Unser Weg zum Arbeitsamt war
umsonst; es gab weder eine Bleibe noch Arbeit
für uns. Wir bleiben bis 19:30 Uhr in Nauen,
dann fahren wir mit einem Güterzug im
offenen Waggon direkt hinter der Lokomotive
bis nach Neustadt (Dosse). Wir bekommen
pro Person 250 Gramm Brot, übernachten in
einer Scheune in Koritz.
24.7.1945 Der Zug, der uns mitnehmen sollte, war schon voll. Überall
in den Ortschaften wurde uns mitgeteilt, dass
wir nur für eine Nacht bleiben dürfen. Das war
in allen Gemeinden so, da wurden wir durch
ganz Berlin geschickt nach Nauen und da gab
es ebenfalls keine Bleibe und keine Arbeit. Für
uns war nirgends ein Ort vorgesehen. Tante
Ela sagte: „Wir müssen ins Wasser gehen.“
Es gibt Ärger, wenn wir nochmal in der
Scheune übernachten müssen. Es kam den
ganzen Tag kein Zug mehr. Es war sehr heißes
Wetter. Zum Glück gab es auf dem Bahnhof
Wasser aus der Wasserleitung.
25.7.1945 Um 6–7 Uhr schmeißt uns der
Schreiber des Bürgermeisters aus der Scheune.
Der fahrplanmäßige Zug geht um 10 Uhr.
Es kommt aber den ganzen Tag über kein Zug
mehr. Wir bekommen vom Fleischer Grütze.
Bis abends sitzen wir auf dem Bahnhof, dann
laufen wir abends in die nächste Stadt, nach
Neustadt (Dosse). Da bekommen wir für 2
Tage Brot. Wir sollen in der Schule schlafen.
Der Direktor der Schule schickt uns zum Gestüt,
da die Schule belegt ist. Wir schlafen auf
dem Gestüt noch mit anderen Flüchtlingen in
der Scheune.
Bemerkung: Die Fußmärsche vom 2.7.
bis zum 24.7. wurden unternommen, um
irgendeine Arbeit zu finden, die auch bezahlt
wurde und somit Lebensmittel kaufen zu können.
26.7.1945 Nachts gegen 02:30 Uhr kamen
2 Russen in die Scheune. Sie nehmen einen
Karton mit Wäsche von den Flüchtlingen mit.
Wir ziehen in die Sattelkammer des Gestüts
um. Onkel Wilhelm und Manfred gehen zu einem
Bauern und fragen um Stroh. Der Bauer
bringt eine Fuhre Stroh zum Schlafen, ein
Mann findet den Wäschekarton in einem Heuschober.
Wir machen große Wäsche mit kaltem Wasser
und ohne Seife. Die Sattelkammer hatten
wir für uns.
27.7.1945 Wir bleiben in Neustadt. Tante
Ella, Tante Anna und Mama bekommen eine
Bescheinigung vom Arzt, dass sie einige Tage
Ruhe brauchen.Wir bekommen Lebensmittelkarten,
und wir können bleiben. Der Arzt war
unsere Rettung.
28.7.1945 Wir holen Fleisch, Wurst, Brot,
Nährmittel und Milch auf die Lebensmittelkarten.
6 Personen von uns gehen ins nächste
Dorf, um für Lebensmittel zu fechten.
29.7.1945 Es gibt mittags Rinderbraten und
abends Kartoffelsalat.
30.7.1945 Wilhelm bekommt Arbeit bei Otto
Weikes in Leddin bei Neustadt Dosse. Am
Nachmittag verabschiedet er sich von uns mit
seiner Mutter.
31.7.1945 Mama und Manfred gehen zum
Fleischer Grauzow in Neustadt (Dosse), um
Hafer zu mähen. Zum Frühstück gibt es 2
Wurststullen, zum Mittag gibt es gebratene
Fleischscheiben. Als Lohn gibt es 3,00 RM.
Nach diesem Arbeitstag war Mama total kaputt.
1.8.1945 Hildegard, Christel und Manfred
gehen unsere Oma und Wilhelm besuchen.
Sie vespern dort.
2.8.1945 Günthers Frieda und Manfred
holen Holz aus dem Wald. Der Gestüt Inspektor
lässt eine Fuhre Holz aus dem Forst für
die Flüchtlinge holen. Leider brennt das Holz
nicht, weil es frisch geschlagen war.
3.8.1945 Martha Nisalke, Frieda Müller und
Manfred gehen auf den Bahnhof, um deutsche
Militärsachen zu verladen. Es gibt Mittag und Abendbrot, alle sind krank, sie haben bis zu
40° Fieber. Hildegard fantasiert in der Nacht.
Am 4.8.1945 hackt Manfred Holz.
5.8.1945 Es gibt Rinderbraten, Günthers
haben gebratene Klöße. Sie backen Kartoffelpuffer.
Der Flüchtlingsarzt kommt zu den
Kranken und schreibt sie krank. Wir können
bleiben.
6.8.1945 Liehms Oma und Wilhelm kommen
wieder zu uns zurück. Wir holen Kartoffeln.
7.8.1945 Wilhelm, Elsbeth, Hildegard,
Anna, Mama und Käthe werden mit einem
Fuhrwerk ins Krankenhaus nach Kyritz gefahren.
Die anderen werden gegen Typhus geimpft.
Abends kommen Wilhelm, Elsbeth,
Anna, Mama wieder zurück. Sie werden nicht
im Krankenhaus behalten. Nur Hildegard wurde
aufgenommen, die anderen mussten mit
dem Zug zurückfahren und vom Bahnhof nach
Neustadt (Dosse) laufen.
8.8.1945 Die Kranken sind ganz kaputt und
wollen nicht aufstehen.
9.8.1945 Die Kranken gehen zum Arzt und
melden sich polizeilich an.
10.8.1945 Mit unseren Lebensmittelkarten
gehen wir beim Metzger einkaufen.
Am 11.8. 1945 hacken wir Holz.
12.8.1945 Die Russen holen viele Männer
auf die Kommandantur. Manfred und ich müssen
mit zum Arbeiten, wir laden Munition von
Autos im Wald ab. Da mir der Bauch weh tut,
schickt mich der Russe wieder nach Hause.
13.8.1945 Wir holen Holz, die Kranken gehen
zum Impfen.
14.8.1945 Die anderen gehen zum Impfen.
Oma wird auch noch krank. Ich pflücke mir
ein paar Brombeeren im Wald.
15.8.1945 Wir holen uns einen Ausweis von
der Polizei.
16.8.1945 Wir bekommen Butter von Kaufmann
Schmidt, Christel bringt etwas Brühe
vom Fleischer.
17.8.1945 Manfred holt Wurst vom Fleischer
auf wir gehen zum Arbeitsamt, da alle
arbeiten wollen. Da jedoch alle krank sind,
brauchen wir nicht arbeiten. Tante Ella und
Manfred gehen ins nächste Dorf hamstern.
18.8.1945 Christel holt Salz aus dem Kaufladen
Henning. Manfred holt eine Fuhre Holz
mit dem Handwagen.
19.8.1945 Günthers und Martins bekommen
eine Wohnung. Sie sind aus unserem
Dorf und hatten sich bei uns angeschlossen.
20.8.1945 Käthe und Christel gehen zum
Gärtner, sie bekommen eine Glühbirne in die
Lampe geschraubt.
21.8.1945 Um 14 Uhr stirbt Tante Anna,
die Mutter von Elsbeth und Hildegard. Manfred
geht zur Tante Ella an, sagt ihr, dass Tante
Anna gestorben ist. Sie geht zur Stadtverwaltung
und zum Pfarrer und meldet die Beerdigung
an. Tante Ella schreibt nach Frankfurt/Oder an die Tante.
Wir legen Tante Anni in ihre Decke, wollen
sie einwickeln. Die Decke hält nicht, rutscht
immer wieder runter.
Mit meinen bunten Web-
Fäden und der Nadel, die ich von Zuhause
mitgenommen hatte, nähe ich die Decke zusammen.
Elsbeth, Christel und ich singen ein
Lied aus dem Gesangbuch unserer Mutter: „Geht nun hin und grabt mein Grab, denn ich
bin des Wanderns müde.“ Wir haben es bei
Opas Beerdigung auswendig lernen müssen.
22.8.1945 Tante Anna wird früh abgeholt.
Manfred geht zum Impfen gegen Typhus.
23.8.1945 Um 11:30 Uhr ist die Beerdigung
von Tante Anna. Wir gehen zum Friedhof.
24.8.1945 Manfred holt Fleisch mit den
Lebensmittelkarten für diese Woche.
25.8.1945 Früh um 9 Uhr stirbt Onkel
Wilhelm, Sohn unserer Oma und Bruder unserer
Mutter und von Tante Anna. Unsere Mutter
sagt, wir sollen nicht wieder die Wolldecken
nehmen, sondern einen Papiersack holen.
Die lagen am Eingang zum Pferdestall
bereit.
Der Papiersack war unten und oben zugenäht
und hatte in der Mitte oben einen langen
Schlitz. Da konnte man die Toten hineinschieben.
Den Schlitz habe ich auch wieder mit
meinen bunten Fäden zugenäht. Es sah nicht
gut aus, wenn die Arme und Hände herausschauten.
Er wurde am gleichen Morgen abgeholt,
jeder Tote bekam eine Nummer.
26.8.1945 Nachmittags 16 Uhr war die Beerdigung
von Onkel Wilhelm. Der Weg zum
Friedhof war endlos, wir mussten durch die ganze Stadt hin und zurück bei großer Hitze
unterwegs, mussten wir uns auf den Boden
setzen und uns ausruhen.
Wir waren total verdreckt seit Frankfurt/Oder gab es keine Möglichkeit, uns und unsere
Sachen zu waschen. Wir hatten nur das,
was wir anhatten. Unsere Sandalen waren
längst kaputt. Barfuß, verlaust und verdreckt
standen wir auf dem Friedhof am Grab.
27.8.1945 Ich habe Geburtstag, aber es interessiert
niemanden. Zu essen gab es nichts.
Manfred holt Lebensmittelkarten für den
nächsten Monat. Auf die neuen Lebensmittelkarten
gab es erst am 1.9. etwas zu kaufen.
In der Nacht werden wir durch laute Schreie
unserer Mutter geweckt. Sie krümmt sich vor
Schmerzen in der Brust; vom Arzt hat sie Tropfen
bekommen. Die habe ich ihr gegeben. Es
hat aber nichts geholfen, sie hat weiter geschrien
und gerufen: „Erschlagt mich doch.“
Wir konnten ihr nicht helfen.
Allmählich wurde sie ruhiger, sie hat sich
die Decke über das Gesicht gezogen. Eine
große Plage waren die vielen Fliegen, die es
dort gab. Sie sind einem im Gesicht herum
gekrochen, in den Augen, Ohren, Mund und
Nase, ohne die Decke übers Gesicht zu ziehen,
war schlafen nicht möglich. Das ging Allen
so.
Als wir am Morgen aufwachten, war unsere
Mutter tot. Sie war total zusammengerollt
wie eine Kugel, sie war ganz blau angelaufen
und ganz steif. Wir konnten sie nur mit größter
Mühe in den Papiersack bringen, schließlich
habe ich ihn noch zunähen können.
28.8.1945 Am Morgen wird sie abgeholt.
29.8.1945 Abends um 22 Uhr stirbt unsere
Oma. Dasselbe Prozedere wiederholt sich.
Am Morgen wird sie abgeholt.
30.8.1945 Weil alle Erwachsenen gestorben
sind, sollen wir Kinder in der Stadt verteilt
werden. Meine Schwester Christel, 9 Jahre,
kommt zum Oberstaatssekretär Müller, der
die Toten alle registriert hat in Neustadt
(Dosse), Kirchplatz 5. Mich, Käthe, 13 Jahre,
bringt Manfred zu Pastor Wauer, Neustadt/D.
Kirchplatz 11, Elsbeth Wilhelm, 13 Jahre,
kommt zur Familie Schröder, Bahnhofstr 5 und
Manfred Koschützke, 14 Jahre, kommt zum
Bauer Gottschalk nach Kyritz.
31.8.1945 Um 16:30 Uhr ist die Beerdigung
von unserer Mutter und unsere Oma. Sie kommen
in ein Doppelgrab.
Nachtrag: Mathilde Wilhelm, die Schwiegermutter
von Anna Wilhelm, die wir am 14.7. im
Altenheim in Fürstenwalde gelassen hatten,
ist dort am 11.8.1945 verstorben.
Elsbeth Wilhelm, die von der Familie
Schroeder aufgenommen wurde, verstarb am
2.11.1945 im Krankenhaus Wusterhausen an
Lungenentzündung und Tuberkulose. Zu der
Familie musste der Kammerjäger kommen
und das Haus desinfizieren. Ihr Vater war
zuletzt in Russland. Es gibt keine Nachrichten
von ihm.
Hildegard Wilhelm, mit der wir am 7.8. ins
Krankenhaus Wusterhausen gefahren wurden,
ist dort am 3.9.1945 an einer Lungenentzündung
gestorben.
Unser Vater Wilhelm Koschützke, der Ende
Oktober aus Russland gekommen war, erfuhr
bei unserem Treffen in Frankfurt/Oder was
passiert war, und wo wir sind. Unser Onkel
Paul war mit unserem Vater in Russland und
hier in Deutschland im Arbeitslager mit ihm
zusammen.
Mein Vater bekam hohes Fieber, er hatte
einen großen Furunkel im Nacken und ist
daran am 23.11.1945 gestorben. Er wurde
noch am selben Tag auf dem Friedhof beim
Krankenhaus am See im Beisein meines Onkels
um 15 Uhr beerdigt.
Unsere älteste Schwester Elfriede haben
wir über unsere Tante in Frankfurt/Oder wiedergefunden.
Sie war beim Militär mit einem
Lazarettzug in Rendsburg, Schleswig-Holstein,
gelandet. In der englischen Zone nach
meiner Ausbildung als Krankenschwester hat
sie mir 1954 eine Arbeitsstelle im dortigen
Krankenhaus besorgt. Es war, als hätte ich
mit meiner ältesten Schwester ein Stück Heimat
wiedergefunden, ich war ganz glücklich;
endlich jemand, der nicht fremd war.
Zu Manfred Koschützke
Nach Manfreds Bericht habe ich mich mit
Manfreds Lebenslauf intensiver beschäftigt
und bewundere den Jungen, der 2008 als gestandener Mann verstarb.
Manfred, der keinen Schulabschluss hatte,
begann im Januar 1945 täglich gewissenhaft
über mehrere Jahre mit Kopierstift und
kleinen Heften, sein Tagebuch zu führen. Obwohl
Manfred nach der Vertreibung den
Konfirmationsunterricht besuchte, nahm er an
der Konfirmation nicht teil, weil er nur die Sachen
besaß, die er auf dem Leib trug.
Seine Knechtschaft bei einem Bauern endete,
als er mit Hilfe seiner Cousine Johanna
Fort eine Landwirtschaftsschule besuchte und
weiter studierte, den Grad des Diplomingenieurs
für Melioration (Anm. d. Redaktion: Verbesserung der Ertragsfähigkeit von land- oder forstwirtschaftlichem Boden, auch: Bodenkunde, Landschaftspflege und Wasserwirtschaft) erwarb und sein
Arbeitsfeld im Raum Potsdam fand. Bei meinem
Besuch bei ihm fiel mir sofort der fachmännisch
angelegte Garten auf.
Barbara Weber
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