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Aus der Schulzeit in Strese
Erinnerungen von Liselotte Becker (Bilder: HGr)
Wieder ist es Herbst und die bunten Blätter
fallen von den Bäumen. Obwohl ich die bunte
Herbstzeit liebe, so ist doch ein wenig Wehmut
in mir, wenn ich sehe, wie die Bäume so
unbelaubt dastehen.
Das erinnert mich an meine Schulzeit in
Strese bei Bentschen im Kreis Neutomischel.
Auf dem Streser Schulgelände standen Maulbeerbäume.
Im Sommer naschten wir Kinder
oft von den dunklen Beeren, die wie Brombeeren
aussahen. Sie schmecken leicht mehlig.
Ein Baum hatte auch weiße Beeren, man
nannte sie auch Mehlbeeren.
Unser Lehrer ließ uns in den Kriegsjahren
nicht nur Heilkräuter sammeln, nein, er hatte
etwas ganz Besonderes mit uns vor. In der
Kriegszeit waren Rohstoffe jeder Art Mangelware.
Wir sollten zur Rohstoffgewinnung beitragen,
indem wir Seidenraupen züchten. Die
Blätter der Maulbeerbäume sind ein ausgezeichnetes
Futter.
Wir sahen uns fragend an. Unser Lehrer
schüttete einen Löffel voll Raupeneier auf ein
Blatt Papier und legte es auf das Fensterbrett.
Die Sonne sollte die winzigen Eier ausbrüten.
Die Eier sahen aus wie Mohnsamen. Neugierig
beobachteten wir, was dort wohl geschieht.
Nach kurzer Zeit schlüpfen die winzigen
Räupchen.Wir pflücken eine Handvoll frischer,
Maulbeerblätter. Diese legten wir auf die Raupen.
Wir sahen zu, wie die Winzlinge sofort
auf die Blätter krochen und zu fressen begannen. Sie fraßen täglich doppelte und dreifache
Mengen Blätter. Die großen Jungen kletterten
während der Schulpausen in die Bäume
zum Blätterpflücken, und es machte ihnen
anfangs sicher Spaß. Der Unterricht durfte
durch die Arbeit nicht vernachlässigt werden.
Die Raupen wuchsen sehr schnell und sie
brauchten viel Platz. Sie wurden auf Tische
verteilt, die mit Papier abgedeckt waren. Nun
mussten sie auch mehrere Male am Tag gefüttert
werden.
Die Ferien begannen und unser Lehrer
suchte freiwillige Helfer, die die Raupenpflege
übernahmen. Das war nicht jedermanns Sache.
Die Raupen waren nur fingerlang und dick
und sahen grau und hässlich aus.
Nachdem ich meine Abscheu überwunden
hatte, war ich auch fleißig bei der Arbeit. Aus
Platzmangel wurden in der Turnhalle große
Drahtgestelle aufgestellt, ähnlich wie Etagenbetten.
Da hatten die dicken Raupen Platz.
Ihre Gefräßigkeit war unglaublich. Da die Blätter nicht ausreichend waren, legten
wir ganze Zweige hin. Die nahmen sie gleich
als Klettergerüst an und in kurzer Zeit waren
sie kahlgefressen. Langsam wurden die Raupen
ruhiger und träge und fraßen nicht mehr
viel. Als wir eines Tages zum Füttern kamen,
trauten wir unseren Augen kaum. Alle Raupen
waren verschwunden. Sie fingen an, sich
einzuspinnen.
Alle Gestelle, Zweige und Äste waren voll
weißer Seidengespinste. Darin hingen unendlich
viele Kokons. Unser Lehrer freute sich und
erklärte uns, wie sich die Raupe in den Kokon
einspinnt und sich allmählich in einen
Schmetterling verwandelt. Bevor der Schmetterling
herauskommt, muss der Kokon verarbeitet
sein. Die Raupe hat einen Seidenfaden
gesponnen, mit dem man feste Seidenstoffe
weben kann.
Nun begann die Ernte. Fleißig pflücken wir
die daumenstarken Kokons aus den Gespinsten
und schütteten sie in große Säcke. Die
Säcke wurden noch am gleichen Tag von einem
LKW abgeholt, damit sie gleich verarbeitet
werden konnten. Unser Lehrer und wir
waren stolz auf unsere erfolgreiche Seidenraupenzucht.
Zur Belohnung durften wir uns
die Seidengespinste von den Gestellen und
Ästen abzupfen und mit nach Hause nehmen.
Ich habe die Seidenwolle meiner Mutter gegeben.
Sie hat mir die Wolle gesponnen und
strickte mir mit viel Mühe ein paar Fausthandschuhe
daraus. Sehr stolz war ich auf
meine Seidenwollhandschuhe. Aber als der
erste Schnee kam und die Handschuhe
nass waren, wurden sie kalt und steif. Sie
trockneten auch sehr schlecht. Es war keine
Wolle.
Wo sind sie geblieben? Die Maulbeerbäume
vom Streser Schulgelände sind nicht
mehr da. Hat es ihnen geschadet, dass wir
sie im Sommer fast entlaubt haben?
Vielleicht haben sie darum den kalten Winter
nicht überlebt. Schade.
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