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Die Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen
Prof. Dr. iur. Georg-Christoph v. Unruh
Der britische Regierungschef Lloyd George fürchtete im Hinblick auf die durch den Versailler Frieden vom 28. Juni 1919 getroffene Regelung, besonders der Einrichtung des Ostpreußen vom übrigen Teil des Reiches abschneidenden polnischen »Korridors«, daß hier die Ursache für den nächsten Krieg liegen könne. 20 Jahre später erfüllte sich seine Sorge mit dem Ausbruch des 2. Weltkriegs.
Grundlage für die Regelung der Ostgebiete sollte der Inhalt von Punkt 13 des Friedensprogramms des amerikanischen Präsidenten Wilson sein, wonach ein unabhängiger polnischer Staat die von einer polnischen Bevölkerung bewohnten Länder umfassen und einen gesicherten freien und zuverlässigen Zugang zur See besitzen sollte.
Danach suchte man bei den Verhandlungen in Versailles zu verfahren, ohne daß doch die deutsche Regierung hinreichende Möglichkeit fand, auf die Schwierigkeit der vorhandenen Volksverhältnisse hinzuweisen, die nicht überall eindeutig begrenzt waren. Allerdings bildeten die Polen in den meisten Kreisen der Provinz Posen die Mehrheit, nicht hingegen in den westlichen und nördlichen kommunalen Gebieten des Posener Landes.
Die Provinz Westpreußen mit der Hauptstadt Danzig war von einer deutschen Mehrheit bewohnt, weshalb man, um die Forderung des amerikanischen Präsidenten zu verwirklichen und Polen einen Zugang zur Ostsee zu schaffen, von einer Volksabstimmung in diesem Gebiet absah und einen Freistaat Danzig schuf, wodurch im übrigen Gebiet der Provinz der Anteil der Deutschen gemindert wurde.
Die definitive Grenzziehung zwischen dem Deutschen Reich und Polen entsprach keineswegs den deutschen Vorstellungen. Lediglich die Kreise mit einer starken deutschen Bevölkerung blieben bei Deutschland:
Die Kreise Fraustadt, Bomst, Meseritz, Schwerin, Schönlanke, Deutsch Krone, Flatow, Schlochau und die Stadt Schneidemühl sowie die östlich von Weichsel und Nogat gelegenen Teile der Provinz Westpreußen wurden nicht abgetreten.
Die schließlich festgelegte Grenze zwischen Polen und dem Deutschen Reich im Posener Land verlief zum Nachteil des Reichs weiter westlich, als es in der Waffenstillstandsvereinbarung zwischen deutschen und polnischen Truppen vom 16. Februar 1919 vorgesehen war. Die damals vereinbarte Demarkationslinie ließ Lissa, Bojanowo, Bentschen und Birnbaum - Orte, die im Friedensvertrag an Polen fielen - bei Deutschland. Den Polen war die Eisenbahnlinie von Birnbaum über Tirschtiegel nach Bentschen angeblich aus militärischen Gründen so wichtig, daß sie in den polnischen Herrschaftsbereich gehörte. Allerdings erlangte diese Strecke in der Folgezeit kaum irgendwelche Bedeutung und wurde lediglich als Kuriosität betrachtet, weil sie die Stadt Tirschtiegel von ihrem Bahnhof abschnitt.
Für die bei Deutschland verbliebenen Gebiete der beiden Provinzen mußte alsbald eine Verwaltungsregelung getroffen werden. Man sprach zunächst davon, die Kreise an die Provinzen Schlesien, Brandenburg und Pommern anzuschließen, entschloß sich dann jedoch, durch ein preußisches Gesetz vom 1. Juli 1922 einen Auftrag zu erfüllen, der bereits in der preußischen Verfassung von 1919 vorgeschrieben war; die Grenzmark war darin schon als Provinz aufgeführt.
Die Provinzen bildeten in Preußen wichtige Verwaltungseinrichtungen. Ein Oberpräsident vertrat die dem Staat vorbehaltenen Angelegenheiten, während ein von der Bevölkerung gewählter Provinziallandtag mit einem Landeshauptmann kommunale Angelegenheiten zu erledigen hatte.
Provinzen stellten sich in Preußen regelmäßig als historisch gewachsene landschaftliche Einheiten dar und bewahrten somit gebietliche Eigenarten wie Ostpreußen, Schlesien, Pommern, Brandenburg oder Schleswig-Holstein. Solch eine landschaftliche Einheit, getragen vom Bewußtsein der Bevölkerung, stellte auch die neue Provinz dar.
Der Name hebt ihre Besonderheit hervor. Er erinnert nicht nur an zwei Provinzen, deren Abtretung im ganzen Umfang von deutscher Seite als nicht gerechtfertigt angesehen wurde, wie es auch in der Bezeichnung »Grenzmark« anklang.
Man hat sich seinerzeit bei der Gesetzgebung wenig Gedanken darüber gemacht, doch zeigte die Namengebung, daß man den bei Deutschland gebliebenen Flächen der alten Provinzen eine besondere Stellung einräumen mußte, die eine vielfache Förderung erforderte. Daß diese Notwendigkeit wiederholt geltend gemacht wurde, war das Verdienst des Oberpräsidenten Friedrich v. Bülow und seiner hervorragenden Führung der ihm anvertrauten Geschäfte.
Bülow (1868 - 1936) hatte gründliche Erfahrungen in der preußischen Verwaltung gesammelt und wurde 1917 Regierungspräsident in Bromberg. Mit großem Geschick setzte er sich für die Bildung der neuen Provinz ein, die wie die übrigen einen gewählten Provinziallandtag erhielt. Der für diese Angelegenheiten zuständige Landeshauptmann Dr. Caspari (1888 -1985) war ebenfalls ein erfahrener Verwaltungsbeamter und hatte sich besonders auf dem Gebiet der Sozialpflege Anerkennung verschafft. Seine Fähigkeiten, die dem Wohlstand der Provinz zugute kamen, verhinderten 1933 nicht seine Entlassung aus Gründen der sogenannten Ariergesetze, die ihn zur Emigration nach Amerika zwangen.
In einer sehr geschickten Denkschrift gelang es dem Oberpräsidenten v. Bülow, die vorgesetzten Behörden und die Öffentlichkeit auf die prekäre Lage der Provinz aufmerksam zu machen, die besondere Unterstützung erforderte. Diese Darlegungen blieben auch nicht ohne Wirkung, konnten aber doch nicht alle Hilfsmaßnahmen aktivieren, die zur Verbesserung der Infrastruktur der Provinz als notwendig erkannt waren. Die schweren finanziellen Lasten, die das Deutsche Reich als »Reparationen« an die Siegermächte zu tragen hatte, wirkten sich hier besonders bedrückend aus. Um so größere Anerkennung verdienen die Leistungen von Staats- und Selbstverwaltungsträgern, die von der Bevölkerung auch in vielen Lebensbereichen als ihr zugute kommend anerkannt wurden.
Dazu gehörte die Einrichtung einer Landesversicherungsanstalt, der Ausbau des Elektrizitätswesens sowie das Beheben der durch Zerreißen des Verkehrsnetzes, von Eisenbahnen und Straßen, eingetretenen wirtschaftlichen und sozialen Schäden.
Für Handel und Gewerbe mußten neue Kammern zur Wahrung ihrer Interessen geschaffen werden, wie überhaupt der ganze Behördenaufbau einer dringend, gebietlich erforderlichen Neuordnung bedurfte. Diese wurde allerdings in Ansätzen verwirklicht.
Schwierige Aufgaben hatten die Verwaltungsbehörden zu leisten, um die aus Polen ausgewiesenen Deutschen aufzunehmen und zu integrieren. Es waren »Optanten«, die, teilweise in Unkenntnis des Zwecks einer Abstimmung, sich für Deutschland entschieden hatten und deshalb nicht polnische Staatsangehörige werden konnten.
Damals hatten nicht wenige Deutsche in den abgetretenen Provinzen angenommen, es handele sich bei der Abstimmung um die Frage, ob ihr Wohnbezirk deutsch bleiben oder polnisch werden sollte, entsprechend den Abstimmungen in Schleswig, Oberschlesien, Marienwerder und Allenstein.
Dagegen erfolgte die Abtretung weiter Gebiete der Provinzen Posen und Westpreußen ohne Beteiligung der Bevölkerung.
Öffentliche Aufgaben von Staat und Gemeinden sind in jeweiligen Haushaltsplänen mit den zu erwartenden Kosten aufgeführt. So gliedern sich auch die Aufgaben des Provinzialverbands Grenzmark in folgende Abschnitte:
- I. Organisation des Verbandes und Amtstätigkeit im Allgemeinen
- II. Verkehrswesen
- III. Landeskultur
- IV. Volkswirtschaft/ Wirtschaftspflege/Landesarbeitsamt
- V. Volkswohlfahrt
- VI. Kunst und Wissenschaft
- VII. Finanzverwaltung
- VIII. Werbende Betriebe
- IX. Viehseuchenentschädigung
- X. Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft
Unter Landeskultur ist vor allem Verbesserung der Agrarstruktur, darunter auch wasserwirtschaftliche Angelegenheiten, zu verstehen. Volkswohlfahrt meint Sozialpflege im weitesten Sinne, das vielfältige Fürsorge- und Gesundheitswesen.
Der Katalog dieser Aufgaben macht die ganze Vielfalt der Angelegenheiten deutlich, welche die Provinzialselbstverwaltung im Einvernehmen mit dem staatlichen Oberpräsidenten wahrzunehmen hatte.
Das unter allen zeitbedingten Schwierigkeiten Beachtliches für Land und Leute geleistet werden konnte, war zunächst das Verdienst von zwei hervorragenden Verwaltungsbeamten, des bereits erwähnten Oberpräsidenten Friedrich v. Bülow und des Landeshauptmanns Dr. Johann Caspari, die sich ungeachtet verschiedener politischer Anschauungen hervorragend ergänzten und durch ihre Persönlichkeit beachtlichen Einfluß auf die Leistungen ihrer Mitarbeiter hatten.
Eine große Anzahl von fähigen Personen fand sich auch in der Leitung der Kreise und der Provinzhauptstadt Schneidemühl, so Dr. Ortner, Dr. Prange und Niemeyer im Kreis Schwerin oder der fachlich besonders hervorragende Hans von Meibom (1879 - 1960), der von 1920 bis 1933 Landrat von Meseritz war.
Allgemein ist nach seinem Ausscheiden aus dem Amt gesagt worden, er habe sich sehr große Verdienste um das ihm anvertraute Gebiet und seine Menschen erworben. Nur kurze Zeit war es ihm vergönnt, als Nachfolger seines Freundes Bülow die Provinz Grenzmark zu verwalten, da er sich dem politischen Druck der nationalsozialistischen Herrschaft nicht fügen wollte und deshalb am 22. Juni 1933 aus dem Dienst ausscheiden mußte. Immerhin erkannten auch die neuen Machthaber die vorbildlichen Leistungen des Landrats und Oberpräsidenten bei seiner Verabschiedung an. Auch die Hauptverwaltungsbeamten der Stadt Schneidemühl, besonders Oberbürgermeister Reichard, zeigten sich ihren besonders schwierigen Aufgaben durchaus gewachsen. Abgesehen von mehreren staatlichen Behörden und Gerichten standen in dieser Stadt wichtige kulturelle Einrichtungen wie das Grenzlandtheater, eine gut ausgestattete Bücherei, ein Landesmuseum und eine Konzerthalle, die allesamt regionale Bedeutung besaßen, allerdings wegen des gebietlichen Zuschnitts der Grenzmark nur einem Teil der Bevölkerung zugute kommen konnten.
Die »Machtergreifung« der Nationalsozialisten im Frühjahr 1933 schuf eine zunächst wenig erkannte neue Lage. Sie äußerte sich allerdings sehr deutlich in der Tatsache, daß für Meibom kein neuer eigener Präsident für die Grenzmark ernannt wurde, vielmehr der Oberpräsident von Brandenburg Wilhelm Kube hinfort die Geschäfte des Behördenleiters der Grenzmark führte.
Einsichtige Beobachter merkten bald, daß Bestrebungen in Berlin im Gange waren, die Provinz Grenzmark aufzulösen. Gewiß spielte dabei auch der am 26. Januar 1934 geschlossene »Nichtangriffs- und Freundschaftsvertrag« zwischen dem Deutschen Reich und Polen eine Rolle, da man stärkere Rücksicht als bisher auf Polen nehmen wollte. Nunmehr hielt man die Provinz Grenzmark für ein verwaltungspolitisch wenig zweckmäßiges Gebilde ohne Berücksichtigung, was dieses »Gebilde« in den vergangenen Jahren zur Verbessserung der Lebensverhältnisse der Menschen geleistet hatte.
Zunächst wurde der Kreis Bomst mit Unruhstadt am 1. August 1938 aufgelöst und zwischen Schlesien und Brandenburg aufgeteilt.
Die übrigen Kreise blieben in ihrem gebietlichen Umfang weitgehend bestehen. Der Kreis Fraustadt fiel an die Provinz Schlesien, Meseritz und Schwerin als Bestandteile des Regierungsbezirks Frankfurt/ Oder an die Provinz Brandenburg und die übrigen Gebiete der Provinz an die Provinz Pommern.
Am 1. Oktober 1938 hatte die Provinz Grenzmark aufgrund eines von Göring, Popitz und Frick unterzeichneten Gesetzes vom 21. März 1938 aufgehört zu bestehen.
Die Bevölkerung war wie in anderen Fällen zu dieser Gebiets- und Verwaltungsreform nicht gehört worden. Aufmerksame Beobachter konnten jedoch eine große Enttäuschung der Menschen feststellen, die sich durchaus aufgrund von öffentlichen und privaten Leistungen als »Grenzmärker« verstanden hatten.
Deshalb sollte die Erinnerung an diese Provinz erhalten bleiben, weil sie ein Beispiel für einen hervorragenden Leistungsträger bildet, der den Menschen diente und zudem ihr deutliches Vertrauen besaß.
Zur Vertiefung: Franz Lüdtke, Grenzmark Posen-Westpreußen, Ein Heimatbuch (1927), Kurt G. A. Jeserich, Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen, in: Verwaltungsgeschichte Ostdeutschlands 1815 bis 1945 (hrsgb. von Kurt Heinrich u.a.) 1991, S. 566 ff.
Verfaßt in dankbarem Gedenken an Frau Clara-Alexandra v. Kalckreuth-Obergörzig, Frau Marei v. Kalckreuth-Muchocin, Frau Otti v. Dziembowski-Bobelwitz sowie an Frau Lima v. Unruh-Klein Münche.
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