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ZEITZEUGENBERICHTE
Wie es damals
in Dürrlettel / Lutol Suchy war
Erinnerungen von Kristhild Kabelitz, schriftlich festgehalten von E. Gebauer 1976.
Es werden die Ereignisse um 1944/45 aus der Sicht von Kristhild Kabelitz
beschrieben (handschriftliche Bögen liegen vor bei Martel Strüwing, Güstrow). Kristhild Else Elisabeth Kabelitz, geboren am 16. Dezember 1924 in Dürrlettel, als Tochter von Emil und Else Rutschke ist am 3. Oktober 2023 in Brandenburg 99-jährig verstorben.
(Bilder Archiv HGr und aus dem privaten Bestand der Fam. Kabelitz)
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Kristhild Kabelitz, 1947 |
Damals vor mehr als 30 Jahren. Die Frage steht
im Raum und die Gedanken wandern zurück.
Mir gegenüber sitzt Kristhild, die Frau des Hauses.
Damals ein Mädchen, zwanzig Jahre jung,
heute eine reife Frau. Aber heute wie damals in
Erscheinung und Wesen angenehm und sympathisch
– und heute dazu resolut und wirtschaftlich.
Und so hat sie zusammen mit ihrem Ehemann,
einem Einheimischen, dem das Schicksal
ebenso übel mitgespielt hat wie ihr, der Heimat
vertrieben oder seinen Erbhof in Größe von circa
80 Hektar im Jahre 1952 zusammen mit ihr verlassen
musste – eine neue Existenz aufgebaut.
Wer hätte dies damals, als alles verloren
schien, zu hoffen gewagt?
Wie war es damals eigentlich?
Doch bei der Unterhaltung wird Stück für Stück
die Erinnerung wieder lebendig.
Zuerst schemenhaft, dann aber immer deutlicher
– manches so, als ob es gestern gewesen
wäre. Zu stark und ausgefallen waren Geschehnisse
im Wirbel der Kriegshandlungen um das
Heimatdorf, die Vorgänge vorher und nachher bis
zur Vertreibung.
Es ist der fünfte Kriegswinter.
Anfang Dezember
1944 wird eine Kleidersammlung veranstaltet
für Winterbekleidung für die Soldaten – in erster
Linie Strümpfe, Pullover, Unterwäsche. Es wird gespendet,
sogar ein Fernglas ist dabei. Die Sachen
werden gestapelt in den früheren Unterrichtsräumen
der „Alten Schule“. Sie verbleiben dort bis
zuletzt und verwahrlosen.
Keinem deutschen Soldaten gaben sie Schutz
vor der Kälte des in der zweiten Dezemberhälfte
1944 hereinbrechenden kaltem Winters. Um die
Jahreswende setzt vielleicht Schneefall ein.
Weihnachten war vorbei. Die Festtage waren
zwar ruhig verlaufen, aber die Stimmung war sehr
gedrückt. Was wird das neue Jahr bringen? Die
Menschen waren recht unsicher geworden. Die
Jugend war immer noch etwas zuversichtlich.
Noch wurde der Russe an der Weichsel gehalten,
und die Weichsel war weit weg.
An einem Januartag 1945 – es war der Hochzeitstag
der im Urlaub befindlichen Richard Schulz
mit Elisabeth Schmidtchen – kamen erstmals russische
Flugzeuge sehr niedrig über das
Obragebiet und über Dürrlettel hinweg. Die Deutschen
waren überrascht. Den Polen erschien es
wie ein Fanal, wie die Boten einer bald anbrechenden
Befreiung.
Ein Bibelwort sei hier zitiert, Luk. 21, Vers 28:
„Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, so steht
auf und erhebt eure Häupter, darum dass sich
eure Erlösung nahet.“
Kristel und der polnische Kutscher Johann
Wawrzynick waren bei der Arbeit auf dem Hofe.
Der Pole sagte zu Kristel, dass die Deutschen den
Krieg verlieren und die Russen bald da sein werden.
Kristel wollte es nicht wahrhaben und widersprach
heftig.

Er gab sich jedoch sehr zuversichtlich
und siegessicher. Kristel meldete aber nichts weiter. Ab dem 10.
Januar 1945 kamen, etwa zwei Wochen lang anhaltend,
die Flüchtlingstrecks aus dem Warthegau
auf der Chaussee entlang, in Richtung Westen.
Bei Einbruch der Dunkelheit bogen sie in das Dorf
ein, campierten über Nacht hier und fuhren
größtenteils am nächsten Morgen weiter. Eine
Flüchtlingsfamilie mit zwei Wagen verblieb jedoch
eine Woche lang im Gehöft Rutschke. Die Leute
campierten in der großen Stube.
Es waren Bessarabien-Deutsche. Drei Generationen.
Eine Tochter war mit Kristel gleichaltrig
und sie hatten sich angefreundet. Am 24. Januar
1945 fuhren sie weiter. Sie forderten Kristel wiederholt
zur Mitfahrt auf. Sie lehnte ab - auch schon
deshalb weil es ihr Vater nicht gestattet hätte.Der
Flüchtlingsstrom war geringer geworden, riss jedoch
bis zuletzt nicht ganz ab.
Tags drauf kamen deutsche Soldaten mit zwei
Fuhrwerken, diese vollgepackt mit Proviant, auf
das Gehöft. Sie gehörten anscheinend zu einer
Proviantkolonne mit Landsturmbesatzung, auch
die Nachbargehöfte hatten die gleiche Einquartierung.
Ein älterer Soldat kam wiederholt in die Wohnküche,
um die ganze Familie zur Mitfahrt zu bewegen.
Sie hätten sich leicht der Kolonne anschließen
können. Vater Rutschke lehnte es ab. Dann
wollte der Soldat wenigstens die Kristel mitnehmen,
zu sich jenseits der Oder und Berlin. Er sagte
wiederholt: „Mädel, Mädel, weißt du überhaupt
nicht, was die Russen mit dir machen werden?“
Sie konnte sich den Sinn dieser Worte nicht
erklären. Der Vater sagte: „Nein!“ und Kristel blieb.
Die Soldaten blieben zwei Nächte und fuhren dann
ab. In der vorletzten Januarwoche wurde eine ständige
Wache in dem alten Schulgebäude befindlichen
Gemeindebüro eingerichtet. Unter anderem
auch zur Hilfeleistung für den Stab einer Wehrmachtseinheit,
die sich darin niedergelassen hatte.
Dazu eingesetzt wurden die Angehörigen von
H.J. und B.D.M. (Bund deutscher Mädchen). Eine
Wache-Zeit dauerte 12 Stunden tags – wie nachts
über, stets mit zwei Personen.
Kristel hatte zusammen mit Christel Buchwald
Telefonwache in der Nacht vom 28. bis zum 29.
Januar 1945. In der zweiten Nachthälfte fiel der
elektrische Strom aus – und kam dann auch nicht
wieder Es wurde eine Notbeleuchtung mit Kerzen
eingerichtet.
Als Kristel nach beendeter Nachtwache morgens
um sieben Uhr nach Hause kam, war die
Wohnküche voller Soldaten, etwa zwanzig Mann.
Es war ein altersmäßig zusammengewürfelter
Haufen. Sie waren nachts gekommen und hatten
ein Obdach gesucht. Die Hausfrau (Mutter
Rutschke) hatte Kaffee gekocht und Brotbelag aus
der Räucherkammer geholt. Die Soldaten ließen
es sich schmecken. Kristel half der Mutter bei der
Bedienung. Ein junger Offizier kam herein, groß,
schlank und schneidig. Er fuhr die Soldaten an,
dass sie erst mal nicht aufgestanden waren – insofern
verständlich, keiner hatte „Achtung“ gerufen
– und sie saßen seelenruhig beim Frühstück.
Er forderte sie auf, sich zusammenzureißen
und mit ihm zum Kampf gegen die Russen zu ziehen.
Doch die Soldaten ließen sich nicht aus der
Ruhe bringen. Der Offizier ging hinaus – die Soldaten
später hinterher. Offiziere und Soldaten
gehörten nicht zur Waffen-SS. Wo sie dann verblieben
sind, kann nicht gesagt werden.
Auch die Nachbargehöfte hatten gleiche Einquartierungen.
Am gleichen Tag, Montag d. 29.
Januar 1945 ließ der Vater und Hausherr E.
Rutschke sämtliche Schriften, Fahnen und Abzeichen
im Kamin der Wohnküche verbrennen.
Es gab am 29. Januar 1945 keine besonderen
Vorkommnisse. An der Kreuzung am Südende
des Dorfes stand, wie schon seit einiger Zeit,
immer noch ein deutscher Wachposten.
Es war wirklich die Ruhe vor dem Sturm!
Am Vormittag des 30. Januar 1945 befand sich
Kristel alleine in der Wohnküche. Plötzlich kam
ein Russe herein und zeigte ihr einen Fotoapparat.
Er redete mit Mund und Händen und wollte
anscheinend die Handhabung des Apparates erklärt
haben. Kristel stellte sich unwissend und fasste
den Apparat nicht an. Der Russe sah sich neugierig
um, verhielt sich harmlos und ging wieder.
So also benahmen sich die viel gefürchteten
russischen Soldaten. Und was hatte man ihnen
für Schauermärchen erzählt. Sie bekam ein völlig
verändertes Bild vom Iwan und sagte es auch ihren
Eltern – und behielt diese Vorstellung auch –
allerdings nur bis abends.
Sie ging diesen Tag nicht mehr aus dem Haus.
Der jüngere Bruder Herbert wurde an diesem Tag
zum Bäcker Pöhlchen geschickt um Brot zu holen. Er kam ohne Brot an, weinend und auf
Strümpfen mit eiskalten Füßen. Auf dem Rückweg
hatten ihm russische Soldaten die Stiefel
ausgezogen, russische Soldaten hatten das Brot
weggenommen. Am Abend wurde das Vieh versorgt. Im Haus
war es zeitig dunkel, in Folge des Stromausfalls.
Die Familie begab sich zeitig zur Ruhe, alle im
Schlafzimmer neben dem vorderen Hausflur, laut Vaters Rat, alle in voller Bekleidung, die Schuhe
wurden griffbereit neben das Bett gestellt. Sämtliche
Türen des Hauses blieben offen.
Spät abends 22 Uhr kam eine größere Anzahl
Russen von hinten in das Haus. Sie hatten Taschenlampen
bei sich und trugen dunkle Lederjacken.
Sie waren anscheinend schon lange
unterwegs, waren schwitzig und stinkend. Familie
Rutschke stand auf, musste sich die Schuhe
anziehen und laut Anweisung des Wortführers
nebeneinander aufstellen.
Dieser Wortführer beleuchtete und betrachtete
alle der Reihe nach. Vater versuchte etwas auf
Russisch zu erklären, dass dies seine Familie sei
und holte den polnischen Kutscher Johann heran. Die anderen Russen hatten sich inzwischen
in den neben der Schlafstube gelegenen Räumen
niedergelassen. Die vier in der Schlafstube verbliebenen Familienangehörigen:
Mutter, Sohn, Kristel und die kleine
Eva standen wie auf Kohlen. Der polnische
Kutscher erschien in Unterbekleidung, zeigte den
Russen seinen Ausweis und erklärte, dass er
immer gut behandelt worden sei. Der Russe sagte
zu Johann, dass die Paminka – Kristel – in das
Nebenzimmer zu den Russen kommen soll.
Der Hausherr bekam das mit und flüsterte seinen
Angehörigen zu: „Verschwindet!“. Die Mutter
nahm die Kleine an die Hand, huschte durch die
offen stehende Stubentür – Kristel und Bruder
hinterher. Vater folgte als letzter. Ehe sich der
Russe von seiner Überraschung erholt hatte, waren
alle in der Dunkelheit verschwunden. Die Russen
schossen noch blind hinterher.
Die Familie flüchtet durch den Torweg über die
Straße in das gegenüber liegende Gehöft Nummer
19 (Wilhelm Gebauer) und dort in die Wohnstube
des Hauses. In dieser waren versammelt
die Familie Gebauer (Liems), Familie Fichtel, Frau
Lina Bär mit Sohn und eine Flüchtlingsfamilie aus
dem Warthegau. Die Tochter dieser Familie hieß
Halina, war mit Kristel gleichaltrig und beide hatten
sich bald angefreundet.
Vater Rutschke riet dazu, ein Versteck aufzusuchen.
So gingen alle auf den Heuboden des
Stallwirtschaftsgebäudes und campierten dort gut
versteckt im Heu – drei Nächte und zwei Tage.
Es war dies die schlimmste Zeit in der sich die
russischen Soldateska austobten. Schreie und
Schüsse wurden von den Nachbarhöfen wahrgenommen.
Im Laufe des dritten Tages wurden sie
entdeckt und vom Heuboden herunter geschubst.
Sie flüchteten, die älteren Leute über die Treppe,
die jüngeren sprangen durch die Luke in den
Hof. Glücklicherweise lag viel Schnee, sodass sich
niemand verletzte. Alle mussten sich dann in Reih
und Glied aufstellen. Sie wurden gezählt, verhört
und wieder gezählt. Die Russen berieten
miteinander und zählten ihre Kugeln. Alle dachten:
„Jetzt hat ihr letztes Stündlein geschlagen.“
Sie wurden in den Hauskeller gesperrt und
nach einer Zeit konnten sie gehen. Die Familie
Rutschke ging hinüber in die eigene Wohnung.
Dort war alles verwüstet. Auch im Gehöft und in
Stallungen gab es einige böse Überraschungen.
Im Kohlenstall lagen zwei Tote SS-Soldaten in
Schneehemden, die sich selbst erschossen hatten.
Hinter der Scheune lagen tote Pferde und tote
Soldaten, darunter ein Offizier.
Dem Anschein nach, hatten diese auch sich
selbst erschossen. Die Pferde wurden im Garten
hinter der Scheune vergraben. Die toten Soldaten
wurden später auf dem Friedhof in einem Massengrab
beerdigt. Zu den Gehöften Nr. 23 und Nr.
24 lagen weitere Angehörige der Waffen SS, die
den Freitod begangen hatten. Auch diese wurden
auf dem Friedhof beerdigt.
An einem Spätnachmittag wurden Kristel und
ihre Freundin Hilde Fichtel von der neugebildeten
polnischen Miliz aufgesucht und aufgefordert zur
Pflege der verwundeten deutschen Soldaten im
Hilfslazarett im Saal Rasch zu erscheinen. Sie
sagten, es sei ihre Pflicht, die deutschen Brüder
zu pflegen. Mit geschultertem Gewehr wurden sie
dort hingeleitet. Dort war bereits die Gemeindeschwester
Frieda Brauer und als Hilfsschwester
Anna Schmidtchen. Sie hatten schon die schwersten
Fälle behandelt und notdürftig verbunden.
Die alten Verbände mussten mit der Schere
vom Körper geschnitten werden. Dabei kam
Kristel, von Natur aus kontaktfreudig, auch in Privatgespräche
mit den Verwundeten. Sie gaben ihr
Briefe und Karten, die an die Angehörigen geschrieben
waren. Sie verwahrte sie in der Oberweite
ihres Kleides. Beide Hilfsschwestern waren
dazu angehalten, ständig da zu bleiben. Übernachtung
und Verpflegung gab es an Ort und Stelle.
Ein junger Soldat, schwer verwundet, schrie
wiederholt im Fieber: „Ich möchte zu meiner Mutter!“.
Schmerzstillende Medikamente waren nicht
vorhanden. Es gab nur Malzkaffee zum Durststillen.
Soweit möglich brachten Bauern Milch für
eine Suppe. Beide hatten ihre Lagerstätte am hinteren Ende
des Saales neben der Bühne. Kristel lag neben
einem leicht Verwundeten, der ihr seine persönlichen
Verhältnisse berichtete.
Er war Lehrer in Berlin, jung verheiratet und
wollte abhauen. Kristel sollte ihm Zivilkleidung
besorgen.

Er übergab ihr noch eine Karte an seine Frau.
Am nächsten Tag sammelte sie noch mehr Post
ein und verwahrte sie. Doch es kam ganz anders.
In der folgenden Nacht wurden an die dreißig
Verwundete, die beiden Schwestern und ein jüngerer
Zivilist in einem Massaker erschossen und
verschiedene Verwundete in einer wahllos abgegebenen
Salve noch stärker verletzt.
Als die russischen Henker nach der letzten
Salve wieder aus dem Saal gingen, flüchteten
Kristel und Hilde durch den Schankraum in die
Schlafstube der Familie Rasch und versteckten
sich dort unter den Betten. Das hatten einige russische
Soldaten vom Saaleingang beobachtet und
gingen etwas später hinterher. Beim Betreten der
Schlafstube schossen sie und trafen einen jungen
Mann durch die Brust, sodass er bald darauf
starb. Die beiden Mädchen wurden unter den
Betten hervorgeholt und abgeführt. Jede in einen
anderen Raum. Sie wurden abgetastet, die Kleider
zerrissen und Briefe und Karten weggenommen
und zerrissen. Sie wurden geschlagen und
auf den Boden geworfen, bekamen Fußtritte und
ihre Stiefel wurden ausgezogen.
Die Russen gingen weg und beide Mädchen
fanden sich wieder und blieben schockiert
beieinander. Sie blieben bis zum Morgengrauen
und schauten nochmal in das Lazarett. Es war
ein Bild des Grauens.
Sie gingen in das Gehöft, da ein russisches
Fahrzeug vor dem Haus anhielt. Ein russischer
älterer Offizier stieg aus und ging durch den Saal
und entdeckte die beiden Mädchen. Er sagte ihnen
in einem gut verständlichen Deutsch, sie sollten
besser hier weggehen. „Soldaten nicht gut,
wenn Soldaten betrunken.“
So gingen sie hinten über die Felder nach Hause.
Jede in ihre Familie. Die Familie Rutschke
befand sich in der Nachbarwohnung von Wappels.
Der Schreck stand den beiden noch ins Gesicht
geschrieben.Stockend berichteten sie ihr grausiges
Erlebnis.
Das Wohnhaus Rutschke war in den ersten Wochen
nach der Besatzung ständig von russischen
Soldaten belegt, bei ständigem Wechsel der Einquartierung
im Schlafzimmer hatte sich ein junger
Offizier für etwa eineinhalb Wochen festgesetzt.
Er war sehr anspruchsvoll bezüglich Verpflegung
und Bettwäsche, er wollte sie täglich
gewechselt haben. Fast jede Nacht ließ er sich
von der polnischen Miliz eine Frau holen.
Die toten Soldaten aus dem Hilfslazarett und
die beiden Schwestern wurden auf dem Dorffriedhof
in einem Massengrab beerdigt. Auf Veranlassung
von Vater Rutschke wurde den Soldaten
die Erkennungsmarke abgenommen und in
eine Büchse getan und neben dem Massengrab
eingesenkt.
Beim ersten Besuch nach Lutol-Suchy /
Dürrlettel 1967 wollte Kristel deswegen nachsehen
und sagte dies zu Franz Fiedler, einem Polen.
Dieser erklärte ihr, dass ihm dies bekannt war.
Die Büchse sei deshalb ausgegraben und mit Inhalt
an das Rote Kreuz in Posen geschickt worden.
Dies wurde auch von Withold bestätigt, der
war als Kutscher auf der Hofstelle Nummer 19
beschäftigt gewesen.
Am Tage nach der Rückkehr aus dem Hilfslazarett
gingen die beiden Mädchen direkt in ein
Versteck, das Vater Rutschke auf dem Reisigboden
über dem Schweinstall eingerichtet hatte.
Nach der Hofseite gab es eine kleine Luke ohne
Leiter. Eine größere zweite Luke nach der Hinterseite
war von innen gut getarnt mit Reisigbündeln.
Unweit davor stand die Hofpumpe. Wenn die Luft
rein war, gab der Vater ein Zeichen mit der Hofpumpe.
Verpflegung und so weiter wurden mit einer
Heugabel in einem Korb hochgereicht. Das
leere Geschirr zurückgegeben. Durch Luftlöcher
der Ziegeln konnten sie die Vorgänge im Gehöft
beobachten. Die in einem Mietshaus wohnende
Frau Manthei wurde wiederholt von den Russen
geholt, sie musste viel über sich ergehen lassen.
Zwei bis drei Mal wurde ein Schwein aus dem
Stall geholt, geschlachtet und auf dem Gehöft
abgesengt. Die Mädchen blieben etwa drei Wochen
in diesem Versteck und kamen erst hervor,
als der große Zivilgefangenentransport abrücken
sollte. Kristel wollte sich noch von ihrem Bruder
Herbert verabschieden. Im Dorf herrschte allgemeines
Erstaunen als die beiden Mädchen wieder
auftauchten. Man hatte angenommen, sie wären
auf der Flucht. Doch mit Aufenthalt im Versteck
auf Liems Heuboden und Rutschkes Reisigboden
ist beiden Mädchen sehr viel Schlimmes erspart
geblieben. Schlimmer war, was viele Frauen und
Mädchen in dieser Zeit durchmachen mussten.
D. R., gleichaltrig wie Kristel, wurde gleich in
der ersten Besatzungsnacht überfallen und in den
Keller gesperrt. Dort wurde sie von ihrer Mutter
ohnmächtig auf einem Kohlehaufen liegend aufgefunden.
Es dauerte Tage bis sie wieder völlig
zu sich gekommen war. Ende Februar 1945 war
es etwas ruhiger, jedoch nicht völlig gefahrlos.
Sobald Gefahr drohte, gingen Kristel und Hilde in
das Versteck. Mitte März 1945 wurden an die
zwanzig Frauen und Mädchen, sämtliche vom
Bauern, zum Arbeitseinsatz hinter Tirschtigel bestimmt.
Sammeln bei der Gastwirtschaft Wappelt.
Abmarsch zur Sammelstelle hinter der Obra.
Bau von Verteidigungsstellungen, Schützengr.ben,
und Unterständen. Auch aus anderen Orten
waren Frauen und Mädchen da. Insgesamt mochten
bei diesem Arbeitsvorhaben an die 100 Personen
gewesen sein, einschließlich männlicher
polnischer Arbeitskräfte. Es wurden kleine Arbeitsgruppen
gebildet, bestehend aus zwei Frauen und
einem Polen, welcher die schweren Arbeiten leisten
musste.
Die Aufsicht der Bewachung wurde von Russen
gestellt. Campiert wurde in einem Bauerngehöft.
Die Verpflegung war sättigend, aber wenig
nahrhaft. Der Einsatz dauerte zwei Wochen.
Die Dürrlettler Gruppe war schon einige Tage im
Einsatz.
Eines Abends als schon einige ihr Lager aufgesucht
hatten, kamen Polen in den Raum – es
war dreiviertel dunkel – und fragten nach den
Dürrlettlern. Es wurde bejaht. Weiter wurde nach
der Tochter von Emil Rutschke gefragt. Kristel
bekam Herzklopfen und verkroch sich im Stroh
und wagte sich nicht zu melden.
Auf Drängen ihrer Schicksalsgefährten meldete
sie sich dann doch und musste mit den Polen hinaus.
Sie wurde noch mal gefragt ob sie die Gesuchte
sei. Dann wurden ihr vier Brote überreicht
mit der Begründung: ihr Vater habe polnische Arbeiter,
als sie 1944 in Not waren, sehr geholfen.
(Vielleicht steckte auch unser Pole Johann
dahinter.) Sie wollten es wieder gut machen. Jede
Dürrlettlerin bekam vom Brot eine Scheibe ab.
Zur Erläuterung:
1944 waren eine Anzahl Polen beim Straßenbau
auf der Chaussee Brätz-Dürrlettel beschäftigt. Sie
campierten in einem Gebäude neben der Kreuzung.
Die Verpflegung war schlecht. Emil Rutschke
hatte irgendwie Kontakt mit ihnen (Johann?). Die
Menschen taten ihm leid. Irgendwie traf er eine
Vereinbarung, er legte ab und zu im Hintergarten
seines Gehöfts Lebensmittel, Brot, Kartoffeln,
Erbsen hin. Am nächsten Morgen war es weg. Das
wurde getan, solange die Polen im Lager waren.
Allerdings war dabei größte Vorsicht geboten.
Seine Frau hat stets große Ängste ausgestanden.
Zum Glück ist es gut gegangen und alle haben
dicht gehalten.
Bei den Dürrlettlern waren unter anderem dabei
die junge Frau von der Wirtschaft Gebauer Nummer
28 und Helena, die Tochter von der Flüchtlingsfamilie,
die geblieben ist. Die junge Frau
Gebauer hat den jungen Mädchen stets Mut zugesprochen,
besonders als ihnen die Verschleppung
nach Russland drohte. Sie war eine
fromme, gläubige Frau und nahm alles Geschehene
als von Gott gegeben hin und war dadurch
im Stande, andere in der Not zu trösten und aufzurichten. Eines Tages wurde bekannt gegeben, dass das
gesamte Lager nach Russland verlegt werden soll.
Alle wurden aufgefordert nach Hause zu schreiben
und warme Kleidung anzufordern.
Halina beherrschte die polnische und russische
Sprache und fungierte von Anfang an als Dolmetscherin.
Sie schloss Freundschaft mit dem aufsichtsführenden
Offizier und veranlasste auch,
dass er mit ihr nach Dürrlettel fuhr und brachte
am gleichen Tag Kleidung zurück. Wie weit die
anderen Frauen damit versorgt worden sind, kann
nicht gesagt werden.
Am folgenden Tag mussten alle Frauen und
Mädchen des Lagers antreten, in Reih und Glied, jede erhielt einen Spaten ausgehändigt – die Vorbereitung
für den Abtransport. Dann kam der Befehl:
Dürrletteler heraustreten! Sie bekamen den
Bescheid, dass sie nach Hause gehen konnten
und bekamen das entsprechende Dokument.
Halina kam zu ihnen und sagte, dass sie dies
dem russischen Offizier abgehandelt habe unter
der Bedingung dafür eine ordentliche Portion
Schnaps und saure Gurken als Lösegeld aufzubringen
und in dem Gehöft Nummer 19 abzugeben.
Alle versprachen ihr das hoch und heilig.
Sie gingen mit Sack und Pack nach Dürrlettel
zurück und haben ihr Versprechen soweit wie möglich
gehalten. Halina und ihr Offizier kamen drei
Tage später, um das Versprochene in Empfang
zu nehmen. Sie haben sich noch einen weiteren
Tag bei ihnen aufgehalten und sind dann spurlos
verschwunden. Wer vermochte Halina ob ihres moralischen
Verhaltens verurteilen?
Sie war es, die zwanzig deutsche Frauen und
Mädchen von Dürrlettel vor der Verschleppung
nach Russland bewahrt hatte. Wo sie geblieben
ist – niemand weiß es. Doch diese Zeilen seien
ihr als Dank gewidmet.
Inzwischen war die polnische Verwaltung eingerichtet
worden. Als Gemeindevorsteher fungierte
der Pole Franz Fiedler. Er holte sich Kristel als
Schreibhilfe. Dadurch wurde sie vom Arbeitseinsatz
in der Landwirtschaft befreit. Was es nun alles zu tun gab. Die Dorfbewohner
wurden registriert. Die Lebensmittelversorgung
der Bewohner war sichergestellt. Brotkarten wurden
ausgegeben, versehen mit amtlichem Stempel,
je Einwohner waren pro Tag 300 Gramm vorgesehen.
Getreide zum Brot backen war ausreichend
im Dorf vorhanden.
Es wurde eine Bestandsaufnahme von allen
Grundstücken des Ortes durchgeführt, je Grundstück
ein besonderes Blatt angelegt. Aufgeführt
wurden darin die Wohn- und Wirtschaftsgebäude.
Die Wohnhäuser mit dem vorhandenen Inventar,
wie Maschinen, Fahrzeuge und größeres
Handwerksgerät.
Die Bögen wurden mit polnischen Namen versehen.
Nach Beendigung dieser Arbeit – es war
in der ersten Junihälfte 1945 – fragte Kristel den
Franz Fiedler, was diese Arbeit eigentlich für einen
Zweck hat. Seine Antwort:
„Bisher wart ihr Deutschen die Herren und wir
Polen die Knechte. Jetzt kommts umgekehrt. Wir
haben das P am Rock getragen. Euch wird das D
in die Stirn eingebrannt!“
Kristel war entsetzt und konnte sich so etwas
nicht vorstellen. Sie erzählte es sofort zu Hause,
wurde aber von ihren Eltern beruhigt.
Sie hat diese Aussage des Polen nie vergessen.
Die ganze Arbeit war die Vorbereitung für die
Übernahme des deutschen Vermögens durch die
Polen nach der Vertreibung, die ja wenig später
erfolgte.
Die Vermögensbestandsaufnahme war auch
für den Besitz Haaks-Vorwerk am Kutschkauer
See durchzuführen obwohl dieser nicht zur Gemarkung
Dürrlettel gehörte. Hinfahrt mit Kutsche,
Fiedler als Amtsperson, der Pole Withold als Kutscher.
Kristel wollte nicht alleine mitfahren und
hatte die Begleitung von Hilde Fichtel, Dora Rüge
und Elsbeth Wilhelm ausgemacht. Der Wunsch
wurde akzeptiert. Alle vier hatten sich schick gemacht,
zudem war Sonntag und schönes Wetter.
Die Bestandsaufnahme war beendet, da kam ein
russischer LKW auf das Gehöft gefahren, beladen
mit Getreidesäcken, mit drei Russen als Besatzung,
weiteres Getreide wurde hier zugeladen.
Die Russen hatten die vier Mädchen entdeckt
und forderten sie auf mitzukommen. Sie lehnten
ab, die Polen redeten dagegen. Alles war vergeblich.
Sie wurden mit der Waffe bedroht und mussten
aufsteigen. Sitzgelegenheit auf den Getreidesäcken.
Zwei Russen nahmen Platz im Führerstand,
ein Russe mit M. P. als Wache bei den
Mädchen. Kristel machte den Versuch unterwegs
abzuspringen, der Russe drohte zu schießen.
Hilde riet ab.
Die Fahrt ging in Richtung Tirschtiegel. Alle vier
waren in großen Ängsten. Auf der Chaussee in
gleicher Richtung befand sich ein großer Viehtreck,
der in Eschenwalde zusammengetrieben
war. Der LKW kam nicht durch und musste in angepasstem
Tempo hinterher fahren. Die beiden
Polen hatten die Verfolgung mit der Kutsche aufgenommen,
diesen nun erreicht und folgte hinterher.
Dem Treck entgegen kam ein russischer PKW
besetzt mit Offizieren. Er fuhr langsam am Treck
vorbei. Fiedler sprang von der Kutsche ab und
sprach mit den Offizieren. Diese wendeten und
gaben der LKW-Besatzung den Befehl, die Mädchen
frei zu geben. Die vier Mädchen konnten
erleichtert aufatmend wieder auf die Kutsche steigen.
Die Offiziere warteten bis die Kutsche wieder
in Richtung Dürrlettel weiter fuhr. Fiedler hatte den
Offizieren gesagt, die Russen haben ihre Ehefrauen
entführen wollen.
Deutsche Mädchen – das hätte wohl nicht geklappt.
So kamen zum Glück alle wohlbehalten in
Dürrlettel an. Die vier Mädchen mit dem Vorsatz,
nie wieder solche Fahrt und nie wieder bei den
bestehenden Verhältnissen sich schick zu machen.
Mitte Juni machte Fiedler Andeutungen zu
Kristel, dass es zweckgemäß wäre, noch vorhandene
Wertsachen zu verstecken beziehungsweise
in Kannen oder großen Töpfen verschlossen
zu vergraben. Das wurde auch von der Familie
Rutsche getan. Es wurden drei große Milchkannen,
ein großer Eisenbehälter mit Kleidung und
Wäsche, Fotos und Briefen im Schuppen gebuddelt,
sowie mehrere Steintöpfe und Lebensmittel.
Es war Freitag, der 22. Juni 1945 für Kristel
der letzte Arbeitstag der laufenden Woche im
Gemeindebüro. Franz Fiedler war etwas befangen,
als er zu Kristel sagte, dass er mit ihr eine
wichtige Sache zu besprechen habe. Er machte
ihr etwas stockend einen Heiratsantrag. Die Begründung
dafür: Die Vertreibung steht fest, wenn
sie ihn heiratet, dann könne die ganze Familie in
Dürrlettel bleiben, auch der Bruder Herbert nach
seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft.
Beide, Kristel und Franz Fiedler, würden nach
Posen fahren, dort sollte die Trauung stattfinden.
Kristel lehnte sein Angebot ab. Er meinte, sie
solle nicht so stolz sein, und es sich gut überlegen.
Doch Kristel blieb dabei, sie würde nie einen
Polen heiraten. Fiedler schwieg. Die Antwort hatte
ihn scheinbar verletzt und hart getroffen.
Zuhause machte sie ihren Familienangehörigen
Mitteilung über alles und eine bevorstehende
Ausweisung. Keiner
mochte ihr
glauben.
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Kristhild Kabelitz, 2020 |
Am 25. Juni
1945 ging sie nicht
ins Gemeindebüro.
Am Vormittag wurde
die Bevölkerung
des Ortes zusammengerufen
und die Ausweisung
bekannt gegeben.
Je Person
wurde die Mitnahme
von zwanzig
Kilo Gepäck gestattet.
Fiedler hielt
sich abseits und schenkte Kristel keine Beachtung,
sie ihm auch nicht. Jeder Einwohner bekam
ein Papier als Ausweis, auf dem seine Personalien
enthalten waren.
Am Nachmittag begann die Wanderung in eine
ungewisse Zukunft – bis an die Oder geleitet von
polnischer Miliz, dann sich selbst überlassen. Es
waren Tage und Wochen, die keiner von den dazu
Verdammten nochmal mitmachen möchte, aber
auch nie vergessen wird.
Die letzte Station auf der Wanderung der Familie
Rutschke (vier Personen) war das Dorf Gortz
bei Brandenburg an der Havel. Sie wurden an den
Gutsbesitzer H. Möbus gewiesen. Dieser konnte
sie am gleichen Tag nicht aufnehmen, gab ihnen
einen Korb voll Kartoffeln und brachte sie zu dem
Großbauern Giese im gleichen Ort. Dieser wies
ihnen die Scheune als Quartier zu, in der sie auch
übernachteten.
Kristel ging ins Haus und fragte, ob sie sich
auf dem Herd ihre Kartoffeln abkochen könnten.
Dies wurde abgelehnt, mit dem Rat, sie könnten
die Kartoffeln im Hof abkochen. Es wurde ein
Steinherd aufgebaut und die Kartoffeln darauf abgekocht.
Kristel ging wieder ins Haus mit der bescheidenen
Frage nach einer Zutat Quark für die
Kartoffeln. Die Familie saß am gut gedeckten Tisch
beim Abendessen. Diese Bitte wurde abgelehnt.
So gab es draußen Kartoffeln mit Salz.
Da kam die Tochter des Hauses mit einer
Schüssel voll Quark aus der Tür. Die Vertriebenen
meinten dieser sei für sie bestimmt. Aber nein!
Sie ging stur vorbei und brachte den Quark den
beiden Jagdhunden. Die Kartoffeln blieben den
Vertriebenen im Halse stecken. Der Vater schluckte.
Er hatte den Polen damals verbotener Weise
Lebensmittel zugesteckt. Kristel kämpfte mit den
Tränen. Das war ein bitteres Erlebnis für die Familie.
Am nächsten Tag kam der Gutsbesitzer Möbius
und holte sie zu sich. Sie bekamen dort eine Wohnung
und Arbeit. Das bedeutet: Wohnung, Arbeit
und Brot.

Auf Initiative von Heimatfreundin Dr. Bärbel
Voigt, Berlin/Dürrlettel wurde im Jahr 2013 auf
dem Friedhof in Dürrlettel ein Gedenkstein eingeweiht,
der an das Massaker im Hilfslazarett erinnert.
Siehe hierzu HGr 206/Sept. 2013 ab Seite
3 und HGr 207/Dez. 2013, Seite 46. Ein Nachruf auf die 2023 verstorbene Kristhild Kabelitz findet sich im HGr 246/Dez. 2023 auf Seite 59 von Enkelin Svenja Kabelitz und Nadine Redlich.
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