|
|
TEIL 1
Eine Kindheit in Polen
Leonhard v. Kalckreuth
Den Versailler Bestimmungen entsprechend war unser seit 1698 in Familienbesitz befindliches Gut Muchocin knapp westlich Birnbaum mit dem ganzen Kreis Birnbaum an Polen gefallen, obwohl die Einwohnerschaft des Kreises einer Volkszählung von 1910 entsprechend zu je 50% aus Polen und Deutschen bestand und dieses Verhältnis in der Stadt Birnbaum selbst sogar etwa 15 : 85 betrug.
Vor die Wahl gestellt, für einen Verbleib des Kreises beim Deutschen Reich zu optieren oder die polnische Staatsbürgerschaft anzunehmen, entschied sich meine Familie seit 1580 in Großpolen ansässig für letzteres. Sie wäre ansonsten später ausgewiesen worden.
Der Erwerb der polnischen Staatsbürgerschaft brachte es mit sich, daß mein Vater seiner Dienstpflicht beim polnischen Militär genügen mußte, das er mit dem Rang eines Fähnrichs d.R. des 17. Ulanenregiments (Lissa) verließ. Von Vorteil war, daß er durch den Militärdienst sehr gute polnische Sprachkenntnisse erwarb. Von unserer Geburt an waren meine zwei Geschwister und ich also wie die Eltern „Volksdeutsche“ polnischer Staatszugehörigkeit.
Ungeachtet seiner Loyalität zum polnischen Staat, seiner körperlichen Behinderung durch Asthma und des Nichtvorhandenseins eines Autos (ein altersschwacher Chevrolet war 1934 verkauft worden und für ein neues Auto war kein Geld da) widmete mein Vater sich ab 1934 aktiv der Deutschtumsarbeit in der Provinz Posen.
Er wurde Vorsitzender der Deutschen Vereinigung im Kr. Birnbaum und mußte in dieser Funktion oft zu Sitzungen und Besprechungen bis nach Bromberg. Als Transportmittel diente ihm der 6 Uhr 15 - Morgenzug von Birnbaum, der um 8 Uhr 30 in Posen ankam.
Von den Einnahmen eines Gutes mit der extrem schwachen Ertragskraft Muchocins leben zu müssen glich der Quadratur des Kreises und es erscheint mir aus der heutigen Rückschau als ein Wunder, wie viele Generationen meiner Vorväter sich darauf hielten.
Gewiß konnte die eine oder andere Braut mit ihrer Mitgift die materiellen Verhältnisse vorübergehend entlasten; meine Mutter konnte dies nach dem Vermögensverlust ihrer Familie im Ersten Weltkrieg jedoch nicht.
Ein radikaler Wechsel der landwirtschaftlichen Bewirtschaftungsform des Gutes Muchocin von „intensiv“ zu „extensiv“ wäre geboten gewesen, kam aber nicht in Betracht. Er wäre verbunden gewesen mit dem Freisetzen des größten Teils unserer polnischen Mitarbeiter, ein in der deutschfeindlichen Atmosphäre der 20er Jahre nahezu selbstmörderischer Schritt.
So mußte „weitergewurstelt“ werden und jährlich stiegen die Schulden bei der „Westbank“, einer deutschen Genossenschaftsbank mit Hauptsitz in Wollstein und Filiale in Birnbaum bzw. der WELAGE (Westpolnische Landwirtschaftliche Gesellschaft). Auch eine in Teichen, die zuletzt über 40 Morgen umfaßten, 1931 begonnene Karpfenzucht, die vor Weihnachten, wenn bis zu 40 Zentner schlachtreife Fische auf den Posener Markt kamen, etwas Bargeld in die Kasse brachte, konnte die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht nachhaltig beheben.
Karpfenliebhaber wie Otter, Graureiher und Fischadler machten uns zudem den Ertrag streitig und mußten vom Förster bekämpft werden.
Für meinen 1 Jahr jüngeren Bruder und mich war das „Abfischen“ im Dezember ein Heidenspaß. Durch Öffnen des „Mönchs“ war das Wasser der Teiche abgelassen worden, in denen die zu verkaufenden Karpfen waren. Wir Jungens konnten nun, mit Gummistiefeln ausgestattet, die glitschigen Karpfen einsammeln und in große Weidenkörbe legen, die wiederum in fahrbare Wassertanks für den Weitertransport entleert wurden.
Der aus eigenen Kartoffeln in der Muchociner Brennerei erzeugte Spiritus bildete eine Haupteinnahmequelle des Gutes.
Barausgaben wurden möglichst beschränkt. Der tägliche Bedarf an Lebensmitteln wurde weitgehend durch Selbstversorgung gedeckt; Obst und Gemüse lieferte in beliebiger Menge der Garten,der Honig kam von unseren Bienenstöcken. In jedem Winter wurden mehrere Schweine geschlachtet und in Form von Pökel- und Büchsenfleisch, Schmalz, Wurst und Schinken für das ganze Jahr haltbar gemacht.
Ab und an brachte der Förster ein Stück Rehwild oder einen Hasen oder ein Lamm wurde geschlachtet. Butter und Käse kamen als Gegenlieferung der Molkerei Birnbaum für die täglich dorthin geschickte Milch.
Jeden Freitag brachte Fischer Grollmisch aus Birnbaum, der das Fischereirecht für unsere Seen gepachtet hatte, das vereinbarte „Deputat“ an Hechten, Aalen, Barschen, Schleien und als seltene Leckerbissen auch Muränen. Kompott, Saft und Marmelade wurden reichlich eingekocht, Gurken und Sauerkraut eingelegt.
Im Natur-Apfelkeller unter dem Pferdestall, der immer 2-3° hielt, wurden säuberlich auf Regalen und Stroh die Winteräpfel, vor allem die würzigen Borsdorfer und Gravensteiner, geschichtet.
Darunter, lose in Sand „eingeschlagen“, hielten sich Sellerie, Rote Rüben, Porree, Kohl und Mohrüben bis zum Frühjahr frisch.
Einmal in der Woche fuhr unser Gutsgärtner mit seinen Erzeugnissen auf den Birnbaumer Markt. Die erzielten, bescheidenen Einnahmen bildeten ein Taschengeld für meine Mutter. Mehl, Grieß und Grütze lieferte unsere eigene Wassermühle, angetrieben von einem die „Tutschenseen“ entwässernden Fließ. Dieses mündete in der Warthe, die ebenso wie die Landesgrenze einen Abschnitt entlang unsere Gutsgrenze bildete.
Beim Kaufmann in Birnbaum wurden lediglich gekauft: Zucker, Salz, Kerzen, Petroleum, Bohnerwachs, Seife, Waschpulver, Streichhölzer, der polnische „Klare“ (Wodka) und ggfs. Tabakwaren. Wein war unbezahlbar und kaum zu haben. Man behalf sich mit einer Art Roggenmet.
Roggen wurde mit Honig und Rosinen angesetzt und ergab nach Gärung und Klärung ein berauschendes Getränk, das sich auch zur Herstellung von Bowle eignete. Kaffee, Tee und Drogerieartikel, in Polen unerschwinglich und von minderer Qualität, schmuggelten meine Eltern von „drüben“, wenn man in Obergörzig gewesen war und auf dem Rückweg in Meseritz einkaufte.
Man kannte die beiden polnischen Grenzbeamten in ihrem Häuschen an der Straße Wierzebaum-Gorzyn und wußte, wann der „mildere“ von ihnen Dienst hatte. Mein Vater hielt persönlichen Kontakt mit ihnen, die eine Fuhre Holz für den Winter und andere Gefälligkeiten nicht zurückwiesen.
Zur Erklärung: Nach Adoption durch seinen Großonkel Leonhard war das Gut Obergörzig nach dem Tod des Onkels 1927 meinem Vater zugefallen.
Meine in städtischen Verhältnissen aufgewachsene Mutter hatte 1929 nach Muchocin geheiratet und sich gut an das Landleben gewöhnt. Sie schreibt in ihren Erinnerungen:
„Ich hatte meine neue Heimat liebgewonnen. Immer deutlicher spürte ich den Zauber, der von Haus und Hof, Gutsschmiede und Wassermühle, den geduckten Dorfhäusern und dem Gutsteich mit seinen Wasserrosen und dem Schwanenpaar ausging ..., Haus, Garten, Umgebung, - alles war bescheiden, blieb in Maßen, ruhte in sich, schien unveränderlich voll tiefen Friedens.
Dazu gehörten auch die Laute, die man immer wieder vernahm: das rhythmische Quietschen der Wasserpumpe (wir hatten kein Fließendwasser) vor dem Pferdestall, das Knarren der Ackerwagenräder, das Kollern der Truthähne, das Gemuhe aus dem Kuhstall, das Blöken der jungen Lämmer, wenn die Schafherde über den Hof und die Fließbrücke auf die Stoppelfelder zog. Das merkwürdigste Geräusch kam alle vier Jahre aus der Eiche vor unserem Haus: wenn nämlich tausende von Maikäfern sich summend und fressend über die jungen Blätter hermachten, worauf der kahlgefressene Baum treulich noch einmal trieb. Zu der guten, ja altväterlichen Atmosphäre trugen der gemütliche Brenner Wittchen, der treuherzige Förster Ullrich mit seinen drolligen Geschichten, der originelle Schweizer (Verantwortlicher für den Kuhstall) Paluszak, der im Dorf wohnende Grenzbeamte Koza und der bildungsbeflissene Dorflehrer (für die polnischen Kinder) Pawelka, der, des Deutschen fließend mächtig, sich bei den Erntefesten zum Dichter aufschwang, bei. In ganz weitem Sinne bildeten alle Bewohner Muchocins eine große Familie. Mißhelligkeiten und Kräche kamen fast nie vor.“
Mein Vater war seinen Mitarbeitern außer gelegentlichen kurzen Wutanfällen wegen irgendeiner Schlamperei ein verständiger Dienstherr. Daß er mit den Polen in ihrer Muttersprache redete, wurde ihm hoch angerechnet. Er sah beiseite, wenn sich ein Junge in der Seradella einen Sack mit Kaninchenfutter vollstopfte oder eine alte Babka mit einem Bündel Holz aus dem Wald schlich. Nur wenn das Klauen überhand nahm, wurde ein Exempel statuiert ...
Ein sehr großer Teil der Birnbaumer polnischen Bevölkerung litt zwischen den Weltkriegen unter bitterer Not und so kam es, daß viele Stadtbewohner immer wieder einmal bei uns um einen Teller Suppe oder Brot baten.
Eine beklemmende Situation erlebten wir in Muchocin, als die Nazis Juden, die nach Ende des Ersten Weltkriegs aus Polen nach Deutschland gekommen waren und versäumt hatten, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, ab dem 27. Oktober 1938 kurzerhand an die polnische Grenze beförderten und sie zum Grenzübertritt zwangen. D. h. sie wurden unter Bewachung nach Wierzebaum bzw. Striche gebracht und dort Richtung Osten davongejagt.
Polen wollte sie erst nicht wieder aufnehmen und so irrten einige Unglückliche tagelang im Grenzgebiet hin und her. Auch sie wurden in Muchocin nicht abgewiesen, wenn sie um etwas zu essen baten.
Die in Muchocin, einer für sie völlig neuen Welt, gewonnenen Eindrücke hielt meine Mutter schriftlich fest und bot sie der in Berlin erscheinenden „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ an, die sie im Feuilleton abdruckte. Der erste Artikel „Gedanken an der Grenze“ war im Anblick des gleich hinter dem „Weinbergsee“ auftauchenden weißen Kirchturms des deutschen Dorfs Striche entstanden, dessen Abendglocken zu uns herüberdrangen. Man hätte nach Striche in einer halben Stunde laufen können, und doch waren Dorf und Kirche auf direktem Wege unerreichbar.
Der zweite Beitrag „Eines Hauländer Bauern letzter Weg“ schilderte die Beisetzung des aufrechten Bauern und guten Nachbarn Bengsch. Nach einer Andacht auf dem kleinen, birkengeschmücktem Hof folgten die Trauergäste dem Pfarrer und dem Sarg auf tiefem Sandweg zum einsam zwischen Kiefern gelegenen Hauländer Friedhof.
Auf dem Gang wurden, vom Pfarrer kräftig angestimmt, alle Strophen von „Jesus meine Zuversicht“ abgesungen. Der übergroße Schmerz der Witwe, die ihrem Mann ins Grab folgen wollte man mußte sie halten -, das rasche Zuschaufeln nach Vaterunser und Segen hatten sich meiner Mutter unvergeßlich eingeprägt.
„Wir schwimmen im Fluß“ beschrieb ein besonderes Unternehmen. Mit aufgepumpten Autoschläuchen vertrauten meine Eltern sich an der flußaufwärts gelegenen Stelle, wo die Warthe die Gutsgrenze erreichte, dem Fluß an, von dessen Strömung sie sich einige Kilometer treiben ließen.
Unterwegs mußten sie Frachtschiffen, (die dort heute nicht mehr verkehren) ausweichen. Dicht vor der deutschen Grenze, zwischen Buhnen und hängenden Weidenzweigen, erklommen sie wieder das Ufer.
Als nützlich sollte sich erweisen, daß meine Mutter vor ihrer Heirat einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert hatte und unser Medizin- und Verbandsschrank immer mit dem Nötigsten versehen war. Wie oft kam Plewa, der Schmied, und streckte ihr seine blutende Hand hin, auf die sie zunächst reinen Wasserstoff goß, ehe sie sie verband.
Der Stellmacher Rebacz wollte ein Geschwür mit Ichthyol behandelt haben, seine Frau brauchte regelmäßig Spritzen gegen Gallenkrämpfe. Die Tochter von Gärtner Ceba, ein halbwüchsiges Mädchen, hatte sich beim Ofenanzünden mit Petroleum eine gefährliche Unsitte schwer verbrannt und mußte mehl- und ölgetränkte Laken aufgelegt bekommen. Wußte meine Mutter nicht weiter (allmählich entstand die Gefahr, daß man ihr medizinisches Können überschätzte), ließ sie den freundlichen Dr. Skowronski aus Birnbaum kommen.
Bei aller Bescheidenheit im Lebenszuschnitt unserer Familie kann ich für meine Geschwister und mich von einer uneingeschränkt glücklichen Kindheit sprechen. Daß manches an materiellen Gütern fehlte, wurde mehr als wettgemacht durch die Freiheit, in der schönen Natur herumstreifen zu können, Pilze und Beeren auf eigenen Wiesen und im Wald zu sammeln, zu reiten und in den Seen zu schwimmen. Ausritte mit den Eltern gehören für mich zu den schönsten Jugenderinnerungen.
Manche dieser Unternehmungen führten zu unseren Nachbarn, der Familie v. Willich in Altgörzig, mit der ein freundschaftlicher Verkehr gepflegt wurde, nicht zuletzt eine Folge des Abgeschnittenseins von den nahen Verwandten im Kr. Meseritz. Diese zu besuchen erforderte den Erwerb eines „Kleinen Grenzscheins“, den es nur für volksdeutsche Bewohner eines 30 km breiten Streifens entlang der polnischen Westgrenze gab, alle anderen Volksdeutschen mußten ein für damalige Verhältnisse extrem teures Ausreisevisum erwerben.
1936 wurde ich in die „Deutsche Privatschule Birnbaum“ eingeschult. Unser Kutscher Jozef Lengowicz mußte mich mit einer kleinen Pferdekutsche, im Winter mit einem Pferdeschlitten, hin- und herfahren. War es warm genug und der Weg trocken, mußte ich auch schon einmal auf der Längsstange seines Fahrrads Platz nehmen ...
Obwohl an der Finanzierung des Schulbetriebs in keiner Weise beteiligt (die oblag allein dem deutschen Schulverein), führte der polnische Staat, repräsentiert durch einen gestrengen Schulrat, genaue Aufsicht über die Unterrichtsinhalte, zu denen bereits ab dem ersten Schuljahr Polnisch gehörte. In regelmäßigen Abständen wurden daher unsere Kenntnisse über die polnische staatliche Ordnung, ihre Repräsentanten usw. abgefragt und mußten wir die Nationalhymne einwandfrei vorsingen können.
Rechtzeitig vor Kriegsausbruch begaben wir uns nach Obergörzig. Mein Vater hätte dem Mobilmachungsbefehl zu seinem Regiment nach Lissa folgen müssen, zog es aber vor, über die „grüne Grenze“ ins Altreich überzuwechseln.
Seines fließenden Polnisch wegen wurde er als Dolmetscher beim Verhören polnischer Gefangener im Abschnitt der Armee Reichenau im Norden eingesetzt.
|
|