|
Zur Geschichte von Meseritz Bärbel Kracht - Grünberg Oberstudienrätin i.R. Wenn ich jemandem erzählen will, wo ich geboren bin, dann sage ich: „In Meseritz in Ostbrandenburg“, meist mit dem Zusatz „östlich der Oder-Neiße-Linie“. Aber auch mit dem Zusatz kommt es oft zu Unverständnis und Desorientierung. Man kennt Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, Schlesien, aber daß zwischen Pommern im Norden und Schlesien im Süden ein Land Ostbrandenburg liegt, weiß kaum jemand. Selbst in der „Heimatstube“ in Bad Zwischenahn,die wir einmal im Urlaub aufsuchten, von kundigen Heimatvertriebenen eingerichtet, kam diese Region nicht vor. Also lohnt es sich, das Dunkel zu lichten. Schwierig ist die Auswahl aus der Fülle der Fakten. Beginnen wir mit dem Begriff „Ostbrandenburg”. Dazu heißt es bei Manfred Vollack: „Wer einen älteren Atlas zur Hand nimmt und eine Karte der Mark Brandenburg aufschlägt, wird den Begriff „Ostbrandenburg“ weder als geographische noch als administrative Bezeichnung finden, schon gar nicht als Namen einer historischen Landschaft. Es ist ein politischer Begriff, der erst 1945 geboren wurde, um das Gebiet benennen zu können, das nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Beschlüsse von Potsdam „Unter polnische Verwaltung“ gestellt wurde. Es ist ein Land zwischen zwei Grenzen: der 1919 in Versailles gezogenen Reichsgrenze und der 1950 zur „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ erhobenen Demarkationslinie, ein Land, das ein wichtiges Bindeglied zwischen Pommern und Schlesien darstellte, ein wichtiges Durchgangsland zwischen Ost und West.” Wir haben es also mit einem Durchgangsland und einem Grenzland zu tun. Entsprechend kompliziert ist seine Geschichte mit den verschiedenen Bezeichnungen und den vielfachen Brüchen. Versuchen wir, sie möglichst einfach und allgemeinverständlich darzustellen. Dazu fangen wir nicht bei Adam und Eva an, aber immerhin bei Christi Geburt. Zu dieser Zeit war das Gebiet besiedelt von Ostgermanen - Burgundern in unserer Region - ursprünglich aus Skandinavien eingewandert, die im vierten nachchristlichen Jahrhundert in einer mächtigen Bewegung in Richtung Süd-West zogen. Man spricht von der germanischen Völkerwanderung. Sie hatte den Niedergang und schließlich Untergang des Römischen Reiches zur Folge, die Römer zeigten sich dem Ansturm der germanischen Stämme nicht gewachsen. Ausgelöst wurde die germanische Völkerwanderung u.a. durch den Hunnensturm; die Hunnen drangen nach der Vertreibung aus China Richtung Westen vor. Die verlassenen Gebiete der ostgermanischen Stämme wurden nun von Slawen in Besitz genommen. Im Mittelalter kam es zu einer breiten, schubweisen Eroberungs- und Siedlungsbewegung von West in Richtung Ost. Etwa 1250 war die Oder-Linie erreicht, bis 1300 die Obra-Linie. Die deutsche Stadt Meseritz soll vor 1248 gegründet worden sein, nahe einer slawischen Siedlung zwischen Obra und Packlitz. Meseritz, polnisch Miedzyrzecz, bedeutet soviel wie „zwischen den Flüssen“. Polen war zu dieser Zeit schwach und ungleichmäßig bevölkert; neue Siedler waren willkommen, denn sie kultivierten größere Bodenflächen. So stiegen auch die Gewinne der Grundherren, die sie kommen ließen. (S.13 - die Zahlen in den Klammern verweisen auf Ausführungen im Begleitheft zur Ausstellung im Meseritzer Museum: „Deutsche und andere Bewohner von Meseritz“ aus dem Jahre 2012 von Andrzej Kirmiel u.a.). Dazu gab es im Westen als Folge der Fortschritte in der Landwirtschaft (Dreifelderwirtschaft) und besserer Ernteerträge eine relative Überbevölkerung. Ein anderes Motiv für Einwanderung war religiöser Natur. Die polnische Elite war christlichen Glaubens geworden und erhoffte sich Unterstützung bei der Missionierung der Bevölkerung. Diese Aufgabe, gepaart mit der harten Arbeit der Urbarmachung des Landes, übernahmen die religiösen Orden, allen voran die Zisterzienser, aber auch Templer und Johanniter. Gebet und Arbeit, ora et labora, waren die Lebensinhalte. Daneben gab es noch eine Gruppe von Juden, die zeitweilig ein Drittel der Stadtbevölkerung ausmachte. Sicher war das Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen nicht konfliktfrei; aber man kann davon ausgehen, daß die Zuwanderer sich mit ihrer neuen Heimat identifizierten und sich als vollkommen loyale Untertanen der polnischen Herrscher fühlten. (S.14) Wir können uns heutzutage nur schwer in dieses untergegangene Weltbild zurückversetzen. Das uns heute selbstverständliche Denken in nationalen Zusammenhängen spielte erst seit der Französischen Revolution 1789 eine Rolle. (Nation von lat. nasci = geboren werden): Der Kulturnation liegt das Gefühl innerer Verbundenheit zugrunde durch gemeinsame Abstammung, Sprache, Werte und Tradition. Darauf aufbauend wird dann die Nation zum Ausdruck für ein politisch geeintes Machtgebilde, das dank dem Prinzip der Volkssouveränität nach Selbstbestimmung verlangt. Der Untertan soll verschwinden und zum selbstbestimmten Staatsbürger werden. Zunächst strebten die Nationen nach nationaler Einigung und verdrängten die absolutistischen Monarchien mit ihrem Anspruch auf Gottesgnadentum. Im weiteren Verlauf drängte sich das Großmachtstreben, das Streben nach Weltgeltung, verbunden mit Gewaltherrschaft (Imperialismus), immer mehr in den Vordergrund; der Nationalismus zeigte seine dunklen Seiten. Waren in vornationaler Zeit begrenzte Auseinandersetzungen einzelner Herrscher (Kabinettskriege), so kommt es im Zeitalter des Nationalismus zu Volkskriegen, in denen mit unmenschlicher Brutalität, aufgepeitscht durch Propaganda, die Vernichtung der jeweils feindlichen Nation angestrebt wird. Heute, zwei Generationen später, scheint der damals gesäte Hass in Europa gänzlich überwunden zu sein, man hat aus dem Inferno Konsequenzen gezogen. Doch zurück in die Vergangenheit! Der 30-jährige Krieg (1618-1648) traf die Region Ostbrandenburg besonders hart. Es kam regelrecht zu einer Entvölkerung, und das Gebiet wurde zu einem neuen Einwanderungsland. Erst zur Zeit Friedrichs des Großen (17401786) wurde ein deutlicher Aufschwung spürbar: Sümpfe wurden trockengelegt, Ackerbau wurde systematisch eingeführt und Straßen wurden gebaut. Das polnische Wahlkönigtum erwies sich als schwach; die Zerrissenheit des polnischen Adels war so groß, daß der Staat letztlich regierungsunfähig war. Die benachbarten Großmächte Preußen, Österreich und Russland bedienten sich. In den drei polnischen Teilungen von 1772, 1793 und 1795 teilten die absolutistischen Herrscher das Land nach und nach unter sich auf, so daß Polen zeitweilig ganz von der Landkarte verschwand. Bei der Zweiten Teilung Polens 1793 kam es zur Eingliederung von Meseritz als Teil der Provinz Posen in das Königreich Preußen. (S.39). Preußen belastete sich mit einer völkischen Minderheit und begründete mit dem Erwachen des Nationalbewußtseins das gespannte deutsch-polnische Verhältnis, von dessen Auswüchsen im 20. Jahrhundert oben schon die Rede war. Meseritz selbst hatte immer - auch in polnischer Zeit eine bis zu 90% überwiegend deutsche Bevölkerung. In der Provinz Posen insgesamt hingegen sprachen damals 55% polnisch und 45% deutsch. Nach der Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg (1914-1918) wurde die Grenze im Osten weit nach Westen verschoben; Meseritz verlor seine administrative Zugehörigkeit zur Provinz Posen und sein Hinterland.. 40% des Kreises Meseritz gingen an Polen; die im abgetretenen Kreisteil lebenden Bewohner waren zu 60% Deutsche. Im Jahr 1922 kam Meseritz zusammen mit zwei weiteren Kreisen (Schwerin/Warthe und Bomst) zur Grenzmark Posen-Westpreußen. Im Zuge der Neuordnung der östlichen Provinzen wurden diese drei Kreise dann 1938 nach Auflösung der Grenzmark an Brandenburg angegliedert. Ebenfalls im Jahre 1938 wurde Meseritz Garnisonsstadt. In die fertiggestellten Kasernen in der Schwiebuser Straße zog das Grenz-Infanterieregiment 122 ein. (S.51) Mit dem deutschen Angriff auf Polen am 1.9. 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Die polnische Armee wurde in einem „Blitzkrieg“ zerschlagen. Hitler arrondierte das deutsche Staatsgebiet (in Ostpreußen, Oberschlesien, Danzig, Westpreußen/polnischer Korridor und dem Wartheland); ein polnischer Reststaat mit dem Zentrum in Krakau wurde einem Generalgouverneur unterstellt. Am Ende des Krieges 1945 war das Gebiet um Meseritz schon früh umkämpft; die Russen ließen einen Keil ihrer Truppen über den Kreis Meseritz nach Berlin vorstoßen. Der Ostwall, von 1935 bis 1938 erbaut, erwies sich als sinn- und nutzlos angesichts der Bedingungen eines modernen Krieges mit Panzer- und Luftwaffe. (In den unterirdischen Gängen und Stollen des Ostwalls gibt es heute ein Paradies für Fledermäuse; sie werden als touristische Attraktion angeboten.) Am 29.1.1945 und am 30.1. gelang einem Teil der Meseritzer Bevölkerung die Flucht vor den heranrückenden Russen, nachdem am 24.1.1945 in einer großen Plakataktion versichert worden war, es bestehe überhaupt keine Gefahr. (S.53). Wer türmte, dem drohte die Todesstrafe. Am 30.1.1945 wurde Meseritz von den russischen Truppen eingenommen. Am 25.4.1945 trafen sowjetische und amerikanische Truppen in Torgau an der Elbe zusammen; am 30.4. nahm Hitler sich im Führerhauptquartier in Berlin das Leben; am 8.5.1945 wurde die bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst unterzeichnet. Schon im Februar 1945 beschlossen die Siegermächte auf der Konferenz in Jalta, daß Deutschland Gebiete im Osten abtreten sollte; genaue Grenzen wurden noch nicht festgelegt. Um vollendete Tatsachen zu schaffen, beschloß die polnische Regierung die Zwangsaussiedlung der restlichen deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße. Ab Juni 1945 räumte das polnische Militär den Kreis Meseritz von Deutschen. Der polnische Leiter des Meseritzer Museums Andrzej Kirmiel schreibt dazu: „Die Rücksichtslosigkeit und sehr oft auch Brutalität dieser Aktion waren Folgen der deutschen Besatzung in Polen. Es wurden sechs Jahre Angst und Demütigung abreagiert, was natürlich ein solches Benehmen nicht entschuldigen kann.“ (S. 56) Auf der Potsdamer Konferenz im Juli/August 1945 wurde die Vertreibung fast aller Deutschen aus den deutschen Ostgebieten von den Siegermächten sanktioniert. Das 20. Jahrhundert wird auch „das Jahrhundert der Flüchtlinge“ genannt. In der Nachkriegszeit kam es zunächst zur Aufteilung Deutschlands unter den Siegermächten in vier Zonen, aus denen 1949 zwei deutsche Staaten hervorgingen, ein Spiegelbild der neuen Blockbildung weltweit. Der „eiserne Vorhang“ zwischen Kommunismus und Kapitalismus verlief mitten durch Deutschland. In einem Geschichtsbuch der DDR, das ich 1974 auf unserer Fahrt nach Meseritz in Ostberlin, der „Hauptstadt der DDR“, kaufte, heißt es zum Ende des Zweiten Weltkriegs: „So drückte sich in der unvermeidlichen Niederlage des deutschen Imperialismus und Militarismus vor allem die Unbesiegbarkeit der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der Sowjetunion aus.“ Im Jahre 1990 kam es zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten BRD und DDR, ein Jahr später zum Untergang der Sowjetunion. Gesetzmäßig, wie Marx glauben machen wollte, läuft wohl nichts in der Geschichte ab. Aber es fällt schwer zu glauben, daß einzig und allein der Zufall regiert. Die vielfachen Brüche im 20. Jahrhundert, die wir Angehörigen der älteren Generation zum Teil selbst erlebt haben, sind ein erstaunliches Phänomen. Mögen die Brüche, die uns bevorstehen, friedlich verlaufen. Geschichte wird - wie der Mensch auch - wohl immer etwas Rätselhaftes haben. Ein Meilenstein für die Stadt Meseritz oder Miedzyrzecz ist der im Jahre 2012 neu eingerichtete Teil des Stadtmuseums, der zum ersten Mal zweisprachig, also auch für deutsche Besucher lesbar, die deutsche Vergangenheit der Stadt darstellt, mit ansprechendem Bildmaterial und objektiven, informativen Texten. In dem Begleitheft zur Ausstellung wird z.B. ganz offen über die Zerstörungswut der russischen Truppen gesprochen: „Die größten Zerstörungen fanden im Februar und März 1945 statt. Meseritz verlor damals ganze Stadtviertel…Zerstört wurden auch viele sehenswerte und ansehnliche Bauwerke. Die Feuer brachen meistens durch Willkür und Schlamperei russischer Soldaten aus, man setzte auch Flammenwerfer ein.“ (S. 55) In der DDR waren diese Dinge ein Tabu. Es gab dort überhaupt keine Flüchtlinge (vor dem Einmarsch der Russen) oder Vertriebene (nach dem Einmarsch), sondern die Sprachregelung sah nur „Umsiedler“ vor. Denn eine Flucht vor dem großen „Brudervolk“ der Sowjetunion war natürlich undenkbar. Die zerstörten Städte lastete man der deutschen Zivilbevölkerung an, sie habe ihre Häuser in Brand gesetzt und den Russen „verbrannte Erde“ überlassen wollen. Das ist natürlich absurd, denn alle Flüchtlinge waren überzeugt, wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können, wann auch immer. Die Polen haben viel in ihrer Geschichte gelitten, eingekeilt zwischen den Großmächten Deutschland und Russland. Ihre Stärke liegt wohl nicht in der sog. Deutschen Gründlichkeit (ich denke an das Wort von der „polnischen Wirtschaft“), sondern in einer ausgeprägten Anpassungsfähigkeit an die Wechselfälle des Lebens und in einem starken Überlebenswillen. In der Vergangenheit kam es beim Zusammenleben von Deutschen und Polen sowohl zur Vermischung (wo die Liebe hinfällt) als auch zur Ausgrenzung (siehe „polnische Wirtschaft“!) Heute erscheint angemessen eine Form der gegenseitigen Anerkennung. In „Anerkennung“ steckt das Verb „kennen“. Der erste Schritt ist also das gegenseitige Kennenlernen. |