Sommer an der Obra in Strese / Strzyzewon
Von Lieselotte Becker (Bilder: Archiv Becker und/oder HGr)

Ich bin eine geborene Schneider und erlebte meine Kindheit in Strese an der Obra bei Bentschen. Unser Dorf wurde 1919 durch den Vertrag von Versailles vom Kreis Meseritz abgetrennt und zu Polen in den Kreis Neutomischel gelegt.
Am 01.09.1930 wurde ich als zweite Tochter der Eheleute Frieda geborene Simsch und Ewald Schneider geboren. Mein Vater stammte aus Sonntop. Ich habe noch eine Schwester und zwei Brüder: Hannchen, Ewald und Kurt.
Meine Eltern hatten eine kleine Landwirtschaft und ein Weidengeschäft. Wir wohnten in der Bahnhofsstraße in Strese, Nummer 67. Strese war ein großes Dorf an der Obra, mit überwiegend deutschen Einwohnern.

Sommer an der Obra in Strese / Strzyzewo

Wir hatten eine deutsche und eine polnische Schule, zwei Kaufläden, zwei Bäckereien, zwei Gaststätten, zwei Fleischereien, eine Wassermühle, eine Windmühle, einen Fischer und allerlei Handwerker. Es gab auch eine Poststelle, eine Sparkasse und den Bahnhof, an der Bahnlinie Bentschen- Birnbaum.
Zwischen dem Lehmberg und der Obra lag die Ziegelei. Die gebrannten Ziegel wurden früher auf Lastkähne verladen und mit langen Stangen stakenderweiseauf dem Wasserweg fortbewegt. Die Obra ist ein langsam fließender Fluss.

Der Weidenanbau war neben der Landwirtschaft ein gutes Geschäft. Da wurden viele Arbeiter beschäftigt. In den leichten, feuchten Böden wuchsen die Weiden gut und brachten gute Erträge.
Die Sommer an der Obra waren lang und warm. Vor dem Pfingstfest wurde Kalmus (Acorus calmus) aus der Obra geholt. Kalmus sieht aus wie Schilf. Er wurde als Schmuck in die Fenster gestellt. Ich mochte seinen frischen Duft. An den Türen wurden Birkenzweige angebracht.
Sommer an der Obra in Strese / StrzyzewoSo war auch die Kirche festlich geschmückt.
Da Strese keine Kirche hatte, gehörten wir zur evangelischen Kirchengemeinde in Bentschen. Dort wurde ich auch getauft - aber leider nicht mehr konfirmiert, da wir schon vorher flüchten mußten. Zu festlichen Anlässen fuhren wir mit der Kutsche zur Kirche. Zum Kindergottesdienst und Konfirmandenunterricht fuhr ich mit dem Fahrrad nach Bentschen.

Mit sieben Jahren besuchte ich die deutsche Schule in Strese. Nebenan war die polnische Schule. Den großen Schulhof teilten wir mit den polnischen Kindern. In den Pausen wurde viel gespielt. Wir hatten ein recht gutes Miteinander.
Wir wurden auch in polnischer Sprache unterrichtet. Die Unterrichtszeit variierte je nach Alter der Schüler. Bei 30 Grad im Schatten gab es „hitzefrei“.
Dann gingen wir baden. Wenn wir nach dem Unterricht nach Hause kamen, wechselten wir die Schulkleider mit den Alltagskleidern. Hosen trugen wir Mädchen nur zum Sport und überwiegend im kalten Winter. Wir hatten Lederschuhe, die blank geputzt waren, Turnschuhe und Holzpantoffeln, die so schön klapperten. Aber am liebsten gingen wir barfuß. Nachmittags kamen oft viele Kinder zum Spielen zu uns. Wir waren voller Ideen. In unserem Hof und im Garten war alles erlaubt, nur in den Ställen und der Scheune nicht. Mutter hat uns oft ein paar Stullen und eine Kanne Saft gebracht — vielleicht wollte sie auch nur sehen was wir anstellen?
Wenn die Obra warm genug war, durften wir baden gehen. Manchmal „blühte“ die Obra. Da war das Wasser trübe und es waren Schlieren auf der Oberfläche. Nach einer Woche war alles wieder klar.

Sommer an der Obra in Strese / Strzyzewo Die Obrabrücke war allgemeiner Treffpunkt für die Bevölkerung. Da waren Zuschauer aller Art bis spät in den Abend. Der Badestrand war neben der Brücke. Von der Brücke sprangen die größeren Jungen gleich ins Wasser.

So gab es allerlei Kunststücke und Wettspiele zu bewundern. An den Wochenenden herrschte die ganze Zeit Badebetrieb an der Obra. Am Vormittag wurden die Pferde „gebadet“. Die jungen Burschen machten ein Spektakel daraus. Nachmittags war der Strand wieder sauber für die Badegäste, für uns.
Gastwirt Dalchaus Garten reichte bis zur Obra. Dort waren Fliederhecken mit Bänken und einem Tisch in der Mitte. Mit meiner Schulfreundin, Roselore Dalchau, konnten wir uns dort umziehen, wenn wir baden wollten.
Wir schlüpften nur durch die Gartenpforte und waren schon am Wasser.
Für die Erwachsenen gab es dort oft Gartenfeste an lauen Sommerabenden.

Aber da hatten wir Kinder nichts zu suchen. Wenn Musik und Tanz begannen, mußten wir heim. Manchmal durfte ich mit Lorchen die Eismaschine drehen. Diese war in einem Bottich mit Eisstückchen. Im Keller unter dem Haferkaff (Spreu) lagen große Eisblöcke, die man im Winter aus den gefrorenen Obraseen gesägt hatte. Das Eis war wichtig für die Fleischerei und Gastwirtschaft und ersetzte die Kühlschränke. Wenn das Speiseeis fertig war, bekamen wir eine leckere Portion zur Belohnung.
Manchmal stand auch ein Karussel auf dem Dorfplatz. Da gab uns Mutter 20 Pfennig und wir konnten zwei Runden mit dem Karussel fahren. Eine beliebte Beschäftigung war auch das Angeln und Kahnfahren. Dabei wurde viel gesungen und Mundharmonika gespielt, so daß der Kahn zu schaukeln begann.

Einmal im Jahr fuhren wir nach Deutschhöhe zum Sommerfest. Wir saßen auf einem Leiterwagen, der mit Birken und Blumen geschmückt war. Wir sangen und lachten, während zwei Pferde die fröhliche Fuhre über Sandwege, durch Felder und Wald zogen.
Beim Gastwirt in Deutschhöhe wurde ausgespannt.


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Auf der Festwiese gab es Streuselkuchen und Saft für uns zu trinken. Es wurden viele Spiele gemacht, wie Sackhüpfen, Eierlaufen und Würstchenfangen. Diese hingen an einer Leine, die zwischen zwei Bäumen gespannt war und wir mußten hochspringen und ein Würstchen mit dem Mund „fangen“. Wir haben nach der Ziehharmonikamusik Kreisspiele gemacht, Volkstänze getanzt und vieles mehr. Bis wir abends wieder nach Hause fuhren.
Als wir größer wurden, mußten wir oft in der Landwirtschaft helfen. Wenn der Weg zu unserem Feld über die Obrabrücke führte, jammerten wir vor Hitze, so daß uns Mutter erlaubte, durch die Obra zu schwimmen, um uns abzukühlen. Sie ging über die Brücke und wartete am anderen Ufer mit unseren Kleidern auf uns. Sie konnte uns nur mit Mühe aus dem Wasser locken.
Nun führte der Weg zu unseren Feldern durch einen Wald, in dem viele Pilze standen. Diese sammelten wir auf dem Heimweg. Gebratene Pilze aßen wir gerne. Wir hatten auch eine Herde Gänse. Der Gänserich führte seine „Familie“ morgens an die Obra und abends kamen sie wieder heim. Manchmal mußten wir sie auch hüten und aufpassen, daß sie vollzählig zurückkamen. Meine Schwester und ich hatten jeder eine Kaninchenfamilie, die wir versorgen mußten. Wir hatten auch viel Obst und Gemüse.
Beim Beerenpflücken halfen wir gern. Kirschen und Pflaumen mußten auch entsteint werden. Erbsen pellen und Bohnen pflücken war eine Kinderarbeit, bei der viel erzählt und gesungen wurde.

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Sommer an der Obra in Strese / Strzyzewo

Wenn die zweite Heuernte (Grummet) eingefahren war, hüteten wir die Kühe auf den Wiesen. Das war nicht einfach. Oft trafen wir auf dem Weg mit andern Kuhherden zusammen und wir mußten unsere Kühe herausfinden. Unsere große Wiese war von Gräben umgeben, so konnten die Kühe nicht fortlaufen, aber sie tranken gerne aus den Gräben. Es kam vor, daß sie mit den Beinen die Grasnarbe durchtraten. Dann steckten sie im Moor fest und je mehr sie traten, umso tiefer sanken sie ein. Da war guter Rat teuer und wir mußten schnell Hilfe holen, um sie herauszuziehen.
Zum Glück waren wir nie allein beim Hüten und hatten Freunde mit denen wir uns die Zeit vertrieben. Wir planschten im Gemeindegraben, der zur Obra floß und ließen Schiffchen schwimmen. Die wurden aus Baumrinde geschnitzt oder wir flochten aus Binsen allerlei Körbchen. Ganze Gebinde aus Binsen halfen uns beim Schwimmenlernen, weil sie hervorragend trugen.
Auch ein kleines „Lagerfeuer“ gehörte dazu. Unsere Mutter versorgte uns gut mit Stullen und Obst. Die Vesperbrote legten wir auf eine Astgabel und rösteten sie. Den Belag haben wir vorher abgenommen, um ihn nachher wieder draufzulegen- das schmeckte köstlich. Wir haben auch Kartoffeln oder Möhren in die Asche gelegt und dann die schwarze Kruste vor dem Verzehr abgeklopft.
Oft nahmen wir auch Bücher zum Lernen und Handarbeiten mit. Eine Mundharmonika war meistens auch dabei. Bei allem Spaß aber mußten wir vor allem die Kühe beaufsichtigen.
Im Frühsommer, wenn die eingestellten Weiden Kätzchen trugen, begann in unserem großen Garten die Weidenschälerei. Dort wurden Klemmen eingegraben, durch die die Weiden gezogen wurden. Der Bast platzte ab und die weiße Weide konnte weiter verarbeitet werden. Wenn alle Weiden geschält waren, feierten wir ein Fest. Alle Leute, die bei der Weidenernte und beim Schälen geholfen hatten, wurden eingeladen. Auch die Kinder kamen mit. Es war ein fröhliches Gartenfest mit Essen und Trinken und Musik. Manchmal war auch ein Dudelsack dabei. Wir Kinder tollten herum und spielten Fangen und andere Spiele, wobei ich oft an den Zöpfen gezogen wurde.

Als ich nach etwa 50 Jahren mit meinem Mann unsere alte Heimat besuchte, waren wir auch in Strese bei meiner alten Schulfreundin Alice. Wir gingen auf unseren ehemaligen Hof. Der jetzige Besitzer war freundlich und führte uns überall herum. Beim Abschied sagte er zu mir: „Lottchen, wo hast du Zöpfe?“ Ich war sehr überrascht, so etwas zu hören! Danach stellte sich heraus, daß er seinem Vater beim Weidenschälen in unserem Garten geholfen hatten. Er war also der freche Junge, der mit uns fangen spielte und mir an den Zöpfen zog.

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Nun lebte er mit seiner Familie auf dem ehemaligen Grundstück meiner Eltern. So oft ich kann besuche ich auch mit meiner Familie und mit Freunden unsere alte Heimat an der Obra.