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Vor 70 Jahren:
Januar-Februar 1945 in Rogsen
Barbara Weber
Während ich mich mit der ungeheuerlichen Brutalität der russischen Soldateska vor 70 Jahren in unserem Dorf Rogsen beschäftige, stirbt Richard v. Weizsäcker (+ 31.01.2015).
Allen bekannt ist der Satz in seiner Rede vor
40 Jahren nach Kriegsende, in dem er von unserer
Befreiung durch den Sieger spricht. Das ist für
die von großem Leid betroffenen Menschen nur
schwer zu akzeptieren, ungeachtet dessen, daß
er Recht hatte.
Eine erste Stimme: „Warum willst du das alles aufschreiben?“
Wenn ich für die Nachwelt die schlimmsten Geschehnisse
aus unserem Leben aufschreiben will,
kann ich jetzt nur noch die über 80jährigen Heimatfreunde
befragen, die sich zu dieser Zeit in Rogsen
befanden, die vor den heranrückenden Russen
nicht geflohen waren.
Das Verlassen des Ortes ohne Genehmigung,
ohne Aufforderung war verboten. Verbotenes Tun
konnte damals schnell am Galgen enden.
Das Bild mit den vielen von Ost nach West
ziehenden, vollbepackten Planwagen bei - 20° war
Mitte Januar verschwunden. Nun beherrschten
deutsche Soldaten auf dem Rückzug mit allen
möglichen Fahrzeugen das Dorfgeschehen.
26. Januar 1945
Gerhard, damals 14 Jahre alt, erzählt:
Mein Leben spielte sich zu dieser Zeit in der Hauptsache
bei meinem Lehrmeister Wobschall, dem
Fleischer am Neustädter Markt in Tirschtiegel ab.
Gemeinsam mit Tirschtiegelern bereitete er seine
Flucht mit Pferd und Wagen vor.
Vom Gutsbesitzer Fischer von Mollard erhielt
er ein zweites Pferd. Der Wagen war hauptsächlich
mit Fleisch und Wurst beladen. Die Tochter
des Meisters und ich führten das Gefährt. Auf glatten
Straßen und bei großer Kälte fuhren wir auf
Meseritz zu. Geschützdonner war in der Ferne zu
hören. Kurz vor Meseritz landete unser Wagen im
Straßengraben. Doch Glück im Unglück. Mit zwei
weiteren Pferden gelang es, den Wagen wieder
auf die Straße zu bringen. Wobschalls folgten mit
ihrem Personenwagen.
Ich trennte mich dann von dem Treck, um in
meinen Heimatort Rogsen zu fahren und um meinen
Vater noch zu erreichen, der sich auf Heimaturlaub
befand. Mein Vater mußte sich noch von
einer erlittenen Verwundung erholen.
Meine Fahrt mit dem Zug nach Rogsen klappte
noch. Leider traf ich meinen Vater nicht mehr an.
Er hatte den vorhergehenden
Zug benutzt, sein
Erholungsurlaub war
beendet, um sich auf den
Weg zu seiner Einheit zu
begeben.
Ich sah meinen Vater nie
wieder. Am Ortsausgang
stöberte ich einen Trupp
deutscher Soldaten auf,
die dort in Stellung gegangen
waren und deren
Lebensmittel knapp wurden.
Dabei dachte ich
sofort an die noch vorhandenen
Vorräte an
Fleisch und Wurst im
Kühlhaus in Tirschtiegel.
Kurz entschlossen
fuhr der Feldwebel mit
mir und drei Soldaten dorthin. Noch fand ich in der Fleischerei alles unverändert
vor.
Die Stadt war noch nicht besetzt. Das war
mit Gewißheit die letzte gute Ausbeute der Soldaten,
um sich noch einmal richtig satt essen zu können.
27. Januar 1945
Den 27. Jan. vergesse ich mein Lebtag nicht mehr. Nicht weil ich kaisertreu erzogen wurde, sondern weil meine Mutter es war. Schon als Kind wußte ich, daß meine Mutter immer dann an des Kaisers Geburtstag dachte. Sie hatte schließlich am 27. Januar schulfrei. So einen Tag bekamen wir als Jungmädel eingebläut, nämlich Hitlers Geburtstag am 20. April. Selbst wenn ich wollte, habe ich diesen in meinem Lebtag auch nicht mehr vergessen können. Dazu mußte man keine „Überzeugte“ sein.
Zurück zum 27. Januar 1945. Ich betrat das
Wohnzimmer und der Leutnant, der bei uns gerade
beköstigt wurde, unterhielt sich mit meiner Mutter
über dieses Datum. Beide sprachen vom Geburtstag
unseres letzten Monarchen. Wahrscheinlich
gehörte er auch zum älteren Semester. Ich
bekam auch noch mit, wie er zu meinem Vater
sagte: „Bringen sie ihre Familie in Sicherheit“. An
mir rauschte das vorbei. Als ich neulich zum ersten
Mal überhaupt meinen Bruder darauf ansprach,
wußte er auch davon und ebenfalls die Antwort
meiner Mutter, ihren Mann nicht verlassen zu wollen.
29. Januar 1945
Im Dorf erfolgte die Anordnung zum Abtransport der Bevölkerung. Mit Handgepäck sollte man sich am Bahnhof einfinden, um in den aus Meseritz kommenden Zug zu steigen. Abfahrt um 10 Uhr. Mit Schlitten und Handwagen machten sich alle auf den Weg. Ich sehe heute noch vor mir eine lange, breite, dunkle Menschenschlange sich durch die mit Schnee bedeckte Landschaft auf unseren Bahnhof zu bewegen.
Alle Augen waren in Richtung Meseritz gerichtet,
woher der Zug kommen sollte. Während
des Wartens auf dem Bahnsteig konnte man sich
im Wartesaal immer wieder etwas aufwärmen.
Gerda, damals 8 Jahre alt, erinnert sich:
„Wo wollt
ihr den hin? Kommt hierher!“ riefen ihnen die Nachbarn
zu. Doch ihr Vater hatte bessere Informationen
und handelte eigenmächtig. Als Eisenbahner
in Frankfurt/Oder wurde er gewahr, daß aus Posen
keine Züge mehr in Frankfurt ankamen. Für
ihn stand fest, er mußte Frau und Tochter aus
Rogsen rausholen, es war allerhöchste Zeit.
Gerda erzählte: Als Vater plötzlich zu Hause
auftauchte, war Mutter in Haus und Hof so beschäftigt,
daß sie die Dringlichkeit des sofortigen Aufbruchs
nicht einsehen wollte. Vater hatte alle Mühe,
sie vom Ernst der Lage zu überzeugen.
Am Bahnhof durfte er von seinem Kenntnisstand,
daß die Russen voll im Anmarsch waren,
nichts preisgeben. Wir liefen mit unserem Schlitten
am Bahnhof vorbei über Brätz nach Schwiebus.
Total abgekämpft kamen wir dort an und konnten
mit Vaters Hilfe noch den letzten vollbesetzten Zug
erreichen, der uns nach Frankfurt/Oder brachte.
Wir waren hinter der Oder erst einmal gerettet. Wie
wir später erfuhren, waren wir der Hölle entkommen.
Das Warten der Rogsener auf ihrem Bahnhof
nahm kein Ende. Alle Augen schauten immer
wieder in Richtung Meseritz, woher der Zug erwartet
wurde. Über uns erschienen drei russische
Flugzeuge.
Bahnhofsvorsteher Meier erhielt die telefonische
Nachricht, russische Jäger haben die Lokomotive
des Zuges bombardiert, der uns wegbringen
sollte. Mit dem Zug war also ein Entkommen
nicht mehr möglich. Stationsvorsteher Meier wurde
einige Tage später mit einigen Soldaten erschossen
aufgefunden und in der Nähe von Dorfbewohnern
begraben. Die dunkelblaue Reichsbahneruniform
hielten viele Russen für eine SS-Uniform.
Den vielen Menschen blieb nichts weiter übrig,
als wieder nach Hause zu gehen. Inzwischen
waren im Dorf überall unsere Soldaten. Ich fand
im warmen Obergeschoß unseres Hauses vor den
Schlafräumen auf dem Fußboden in voller Uniform
fest schlafende Soldaten, über die ich stieg. Im
Wohnzimmer spielte mein Vater mit einigen Offizieren
Karten die Ruhe vor dem Sturm.
Plötzlich stürmte ein Soldat herein: „Herr
Hauptmann, die Russen sind vor Tirschtiegel!“
Es gab keine große Verabschiedung mehr, sie verließen
sofort unser Dorf.
Mein Vater fuhr mit dem Fahrrad in Richtung
Dürrlettel auf Erkundungstour. Er war bald wieder
mit schlechten Nachrichten zurück. Der Bürgermeister
bekam keine telefonische Verbindung mehr
nach Meseritz und rief eigenmächtig auf zur Flucht
mit Pferd und Wagen.
Wie das alles so schnell bewerkstelligt werden
konnte, ist mir heute noch ein Rätsel. So wie die
vielen Flüchtlingswagen aus dem Osten unser Dorf
durchfuhren, so verließen wir nun, in die Nacht hineinfahrend
unser Dorf in Richtung Groß Dammer.
29. / 30. Januar 1945
Ich saß mit Verwandten auf dem beladenen Wagen unter der Plane. Oma Selma, Tochter Grete mit Baby, Mutti mit uns drei Mädchen und Tante Ulla. Bauer Jensch ging und führte auf der eisglatten Straße die Pferde. An seiner Seite waren noch Vater Philipp, Onkel Hans und Bruder Hansi.
Ich wollte nichts sehen und hören und bekam
natürlich von dem Drumherum mehr mit, als
ich wollte. Gechützdonner immer wieder, oft recht
nah. Auch Rufe schallten durch die Nacht. Jensch
rief immer wieder sein Pferd „Hans“. Die Tante auf
dem Wagen, die da glaubte, ihr Mann wurde gerufen,
konnte das nicht hinnehmen und rief daraufhin
aus dem Wageninnern, wenn sie „Hans“ hörte,
„Philipp, Philipp“, meinen Vater. Das war wirklich
eine komische Situation in dieser Abnormität
wahrscheinlich hab auch ich das nur so empfunden.
Später wurde nie darüber gesprochen.
„Der Bürgermeister ist angeschossen!“ rief
jemand im Dunklen die Straße entlang. Dann, Pferde
und Wagen lagen im Graben. Wir fuhren weiter.
Ich sehe, wie mein Vater ein Bündel vom Wagen in
den Wald wirft seine gut verpackten, so geliebten
Jagdwaffen. Mich schmerzt das noch heute,
wenn ich daran denke.
Waren die Russen vor uns oder wir auf gleicher Höhe mit ihnen? Wir befuhren einen Waldweg, sie die Hauptstraße? Sie tauchten plötzlich von irgendwoher auf. Halt! Runter vom Wagen, alles stehen und liegen lassen und Abmarsch. Am Wegesrand viele tote deutsche Soldaten. Die erste furchtbare Konfrontation mit dem Tod. Ein Dorf lag vor uns. Wir wurden durch das Dorf geführt, es schien verwaist zu sein, bis zu einem größeren Haus am Dorfende. Auf der anderen Seite eine kleine Anhöhe, auf der russische Soldaten zivile Personen erschossen. Ich habe gleich weggeschaut, als ich sah, daß jemand durch Genickschuß getötet wurde. Mutti sagte: „Jetzt erschießen sie K.“. Er war es Gott sei Dank nicht, wie sich später heraustellte.
In zwei zusammenhängenden Räumen setzte man uns fest, Männer, Frauen und Kinder. Wir waren etwa zwanzig Personen. Alle saßen sprachlos an den Wänden verteilt. Die innere Anspannung war riesengroß. Wie würde es weitergehen? Ich kann mich nicht erinnern, daß wir während der ganzen Zeit etwas gegessen oder getrunken haben. Unser Kleingepäck wurde untersucht. Bei mir war es die Wandertasche, in der ich 3000 Reichsmark für die Familie bei mir trug. Genüsslich verstreute ein Russe das Geld im ganzen Raum. Niemand bückte sich danach. Es hätte uns später ein gutes Stück weiterhelfen können.
Ich wollte nichts sehen und hören, machte
die Augen zu und glaubte, alle wären etwas eingenickt.
Auf einmal Unruhe, kein Rufen, kein Schreien.
Ich sah einen Gegenstand aufblitzen zum Körper
meines Vaters. Mein Vater wurde zwischen uns
getötet und aus dem Raum gezogen.
Die Situation am nächsten Morgen wird mich
bis zu meinem Lebensende verfolgen. Unser guter
Vater liegt ohne Joppe und Stiefel tot vor dem
Haus im Schnee. Im ersten Augenblick wollte ich
hinlaufen, mein Verstand sagte mir: nein, geh‘ weiter,
sonst wirst du auch getötet. Und so dachten
wahrscheinlich auch meine Angehörigen. Ich sage
dachten, denn wir haben nie über diese ganze Situation
gesprochen.
Als ich vor drei Jahren meine inzwischen
verstorbene Schwester, die damals sieben Jahre
alt war, darauf ansprach, erhielt ich die Anwort:
„Mutti hielt mich an der Hand und sagte, guck da
nicht hin.“
Man führte alle Männer fort. Sie kamen in
das Gefangenenlager nach Schwiebus. Mein Bruder,
damals 15 Jahre alt, schlich sich davon und
erreichte Rogsen nach acht Tagen. Mein Onkel,
damals 50 Jahre alt, machte sich 10 Jahre älter
und erreichte total abgemagert nach 3 Wochen
Rogsen. Er hat übrigens auch in der DDR mit dem
falschen Geburtsdatum gelebt und dieses erst korrigieren
lassen, als er 1956 in die Bundesrepublik
floh und seinen Beamtenstatus geltend machen
konnte.
Erst kürzlich wollte ich von meinem Bruder
wissen, wie er den Weg von Schwiebus nach Hause
gefunden habe. Er orientierte sich an der bereits ausgehobenen Trasse der Autobahn Frankfurt-Posen, die heute ausgebaut ist und an Rogsen
vorbeiführt.
31. Januar 1945
Die Frauen und Kinder durften hingehen, wohin sie wollten natürlich nach Hause. Am Ende des Dorfes wurden wir noch einmal in einem Haus aufgehalten. Ein Russe brachte für das jammernde Kleinkind Milch. Meine Mutter legte ihren Fuchskragen ab, um das Baby zu wärmen (Es hat alles gut überstanden und erfreut sich noch heute seines Lebens).
Ein anderer Russe wollte sich eine Mitdreißigerin aus der Gruppe holen. Ihren Ruf höre ich heute noch: „Sollen doch die jungen Mädchen gehen, ich bin verheiratet!“ Als wir uns am nächsten Tag auf den Heimweg machten, wollte uns ein Russe von der Hauptstraße auf einen Nebenweg abdrängen. Vielleicht verdanken wir unserer couragierten Grete unser Leben, die da sagte: „Das machen wir nicht, auf der Straße sind wir sicherer.“ Unterwegs gab es für einige Frauen, auch für mich, einen Arbeitseinsatz. Wir bekamen eine Hacke in die Hand gedrückt, um kleine Eisschollen auf einem gefrorenen Acker wegzuhacken.
Dabei flog hin und wieder ein Flugzeug über uns und schoß. War es ein deutsches oder ein russisches? Sollte die große Fläche als Flugplatz benutzt werden? Mit welchen Rogsenern ich am nächsten Tag den Heimweg antreten konnte, weiß ich nicht mehr.
Ich hätte alleine nicht nach Hause gefunden, aber
wir sind gut angekommen. Das Wetter schlug um
und es begann zu tauen.
Als wir das Rogsener Depot (kleiner Ortsteil abseits am Wald zu Rogsen gehörig) aus dem Wald betraten, erfuhr ich gleich die neueste Nachricht: Deine Familie lebt in Pucherts Wohnung im Depot.
Ein Leben in unserem schönen Haus an der Durchgangsstrassee war nicht mehr möglich. Was musste meine Mutter in diesen Tagen durchmachen, Ehemann, Tochter, Sohn und Schwager waren fort und unseren Hof konnte sie nicht mehr betreten.
Eine Rogsenerin berichtet:
29. Januar 1945
Am 29. Januar 1945 machten mehrere deutsche
Panzerfahrzeuge in unserem Ort Halt. Eine
Panzerbesatzung war bereit unsere Familie, Vater,
Mutter und fünf Kinder, in ihrem Fahrzeug mitzunehmen.
Als wir alle einsteigen wollten, stellten
wir fest, daß wir unsere Betten hätten mitnehmen
sollen. Einige von uns durften noch einmal schnell
nach Haus gehen, um noch Bettzeug zu holen. Der
Weg von den Panzern, die am Friedhof standen,
bis zu unserem Haus war nicht weit. Jedenfalls warteten
die Soldaten auf uns.
Die Fahrt im Panzer nahm kurz vor der Oder
ein jähes Ende. Er wurde von einer russischen Granate
getroffen. Es war sofort Chaos. Nicht alle
schafften es herauszukommen. Es war dunkel und
die Oder zugefroren. Vater rief: „Lauft, Kinder, lauft
rüber!“ Ich hielt meinen kleinen Bruder an der Hand
und überquerte mit ihm die Oder. Wir sahen
unterwegs eingebrochene Gespanne. Am anderen
Ufer war noch ein Bruder. Von meinen Eltern und
zwei kleinen Geschwistern gab es kein Lebenszeichen
mehr.
Eine Rogsenerin berichtet:
30. Januar 1945
Spät abends kamen die Russen in unser Haus
gestürmt. Sie fragten und suchten nach deutschen
Soldaten, Uhren und Schmuck. Im Keller holten
sie sich aus dem Pökelfaß Schinken. Zwei Offiziere
bereiteten daraus ein Mahl zu. In der Wohnstube
saßen meine Eltern, ich markierte eine Kranke.
Plötzlich gab es Aufregung. Im Stall waren
sie auf 4 deutsche Soldaten getroffen, von denen
wir nichts wußten. Aber wie sollten wir das glaubhaft
machen? Wir verstanden kein russisches Wort.
Da sprach plötzlich einer der russischen Soldaten
fließend Deutsch und erklärte uns, daß er aus
Breslau stamme. Er übersetzte unsere Erklärungen
ins Russische und wir kamen ungeschoren
davon.
Als sie gegessen hatten, verließen sie unser
Haus. Unsere Schinken und Würste nahmen sie
mit. Vorsichtig schauten wir auf die Dorfstraße. Diese
stand voller russischer Panzer, die im Schnee
mit weißen Tüchern bedeckt waren.
Am nächsten Tag fanden wir 2 der deutschen
Soldaten erschossen auf unserem Hof liegen.
Ein deutscher Soldat erholte sich bei unserem
Nachbarn in der Küche. Tags darauf fanden
wir auch ihn erschossen auf der Straße liegen.
Eine Rogsenerin berichtet:
30. Januar 1945
Trotz großer Angst sprach sich bei den im Dorf
gebliebenen Einwohnern schnell herum, was im
Ort geschehen war.
Mit brutaler Gewalt drangen russische Soldaten
in die Häuser, durchsuchten sie nach deutschen
Soldaten und Hitlerbildern. Ihre Begierde
richtete sich dabei auf Uhren und Schmuck, sowie
auf Frauen und Mädchen. Auch auf Kinder wurde
keine Rücksicht genommen.
Alle Menschen die diesen Wahnsinn miterlebten,
waren außerstande noch normal zu reagieren.
Viele wollten ihrem Leben so schnell wie
möglich ein Ende bereiten. Sie besorgten sich Stricke
zum Erhängen, denn so ging es vermeintlich
am schnellsten.
Als es die ersten bereits getan hatten, gingen
die Diskussionen hin und her: „Das kannst Du
doch nicht tun, denk an Deine Kinder!“ „Du hast
doch eine christliche Erziehung gehabt.“ Diese
Einwände erreichten die kopflosen Menschen nicht
mehr.
„Die hängen schon!“ schallte es über die Hofgrenzen
hinweg. „Jetzt bin ich dran“, rief ein Junge
aus dem Fenster. Ein anderer lief dem Großvater
davon: „Ich will nicht!“ „Junge, du mußt!“ die
Antwort.
Einen sah man von der Straße aus hängen.
Eine evakuierte Frau aus Berlin mit ihren 3 Kindern
war auch dabei. In der Dorfmitte erhängte
sich eine junge Frau mit ihren beiden Kindern. Alle
drei wurden abgeschnitten, die Kinder waren tot,
die Frau lebte noch lange.
Eine junge Frau erlebte den Überfall der russischen
Soldaten am Unterende des Dorfes nicht
mit, sie befand sich bei ihrem Bauern in der Dorfmitte.
Als sie am nächsten Tag Eltern und Angehörige
aufsuchte, fand sie alle erhängt vor. Ihr Leben
lang durfte niemand dieses Erlebnis berühren,
nie konnte und wollte sie darüber sprechen.
Vielleicht hat dieses Erlebnis dazu beigetragen,
daß sie nach der Vertreibung alle Heimatfreunde
als ihre Familie empfand und in der DDR
private Heimattreffen organisierte.
Eine Heimafreundin absolvierte ihr Pflichtjahr in
Groß Dammer. Dort gab es beim Einmarsch der
Russen keine Probleme, weil sich die Mehrzahl
der Einwohner auf Polnisch mit den Russen verständigen
konnte. Sie fuhr am nächsten Tag nach
Rogsen und hörte dort von den Ungeheuerlichkeiten
der russischen Soldaten.
Eine Rogsenerin berichtet:
Januar 1945
Ein paar Stunden bevor die Russen erschienen,
brachte ein Arzt schwer verwundete Soldaten, die
wir in Bürgermeisters Wohnung legten. Die Verletzungen
waren grauenvoll. Betten und Wäsche war
genügend vorhanden. Meine Schwester und ich
versorgten sie.
Auf Rat eines Unteroffiziers zog ich mir ein
altes Kleid von Frau B. an. Die Russen, die ins
Haus kamen, gingen zuerst zu den verwundeten
deutschen Soldaten und erschossen sie. Dann
kamen sie zu uns. Meine Schwester und ich
mußten dran glauben. Meine Schwester wurde
stundenlang gemartert und von mehr als 15 Russen
vergewaltigt. Ich hatte ein paar weniger. Meine
Schwester wurde dabei sehr schwer verletzt.
In unserer Verzweiflung schnitten wir uns,
Oma und ich, die Pulsadern auf. Karlchen gaben
wir Morphium. Aber der liebe Gott hat uns trotz
großem Blutverlust alle am Leben erhalten. Als ich
die Besinnung wieder hatte, kamen neue Russen,
die mit Frau B. furchtbar umgingen.
Wir flüchteten in der Nacht, obwohl wir kaum
laufen konnten, bei 15° Kälte und hohem Schnee
ohne Strümpfe und Mantel ins Depot. In der Nacht
nahmen sich 5 Personen, darunter drei Kinder das
Leben. Im Ganzen haben sich in diesen Tagen in
Rogsen 42 Leute erhängt.
Meine Schwester blieb im Dorf. Dort wurde
sie jede Nacht mehrfach vergewaltigt, bis sie auch
den Weg ins Depot fand und Ruhe hatte. Die Russen
haben systematisch Haus für Haus durchsucht
und alles Geschirr zerschlagen. Auf der Dorfstraße
lagen in den ersten Tagen totes Vieh, Stühle und
Tische, Sirup und Weckgläser in großen Mengen.
Eine Rogsenerin berichtet:
31. Januar 1945
Kopflos liefen Frauen und Mädchen im Dorf umher, immer hoffend, irgendwo einen sicheren Platz zu finden. Wir waren mehrere, die auf der Durchgangsstraße vor Hampels Haus landeten, auch Breschens Erich mit seinen 13jährigen Zwillingen und Motzgens Vater. Ein Fenster öffnete sich und Hampels Mutter rief: „Kommt rein, was wollt ihr draußen in der Kälte stehen!“ Kurz nachdem wir uns in der warmen Stube befanden, kamen drei junge Männer in blauen Arbeitsanzügen ausgehungert hinter uns her. Kurz danach stürmen russische Soldaten das Haus, sofort schnappen sie sich die jungen Männer, die sie als Soldaten an ihren Uniformkragen erkannten und führten sie auf den Hof.
Ob man Schüsse hörte, weiß ich nicht mehr.
Dann holten sie die Zivilisten heraus, unsere Nachbarn.
Erichs Frau hatte mit dem Kleinen schon
Selbstmord begangen. Nachdem wir die Schüsse
gehört hatten und die Russen weg waren, verließen
wir eilig das Haus über die toten und halbtoten
Menschen hinweg.
Wir Mädchen fanden uns auf dem Heuboden
bei den großen Steinbachs wieder, wo der
polnische Knecht Stanislaw uns mit Nachrichten
und Nahrung zwei Tage lang versorgte. Er teilte
mir auch mit, daß mein Vater bei den Nachbarn
tot im Holzschuppen aufgefunden wurde.
Meine Mutter, Tante und Oma und andere
Frauen waren in das kleine Wäldchen zwischen
Rogsen und Kutschkau gelaufen. Dort versteckten
sie sich zwei Tage lang. Wie sie das mitten im
Winter schafften darüber wurde nicht gesprochen.
Gerhard Aleth berichtet:
Zum Bürgermeister W. Bresch
Ich gehörte zum Treck des Bürgermeisters W. Bresch. Der Bürgermeister erhielt eine schwere Verletzung am Bein. Nachdem die Gruppe von den Russen nicht mehr festgehalten wurde, machten sie sich auf den Rückweg. Dazu besorgten sie sich einen Handwagen, um W. Bresch transportieren zu können. Ihr erstes Ziel war Muschten, weil dort Verwandte wohnten. Der Verletzte konnte in ein Bett gelegt werden, was ihm aber zum Verhängnis wurde.
Im Nachtschrank neben dem Bett bewahrte
die Besitzerin ein Foto ihres Sohnes auf, das ihn
in der Soldatenuniform zeigte. Ein Russe fand das
Bild und erschoß sofort den Rogsener Bürgermeister
in Muschten.
Else Draber berichtet:
Ich wurde zum Säubern des Hauses von W. Bresch in Rogsen herangezogen. In letzter Not brachte man schwer verwundete deutsche Soldaten im Haus des Bürgermeisters unter. Die einrückenden Russen erschossen alle in den Betten.
Warum wurden von den Russen Lebensmittel zerstört?
1945, als die Lebensmittel knapp und kostbar
waren, zerstörten die Russen so viele Lebensmittel.
In Stillers Keller konnte man durch Sirup waten,
die Fässer waren umgekippt. Die Weckgläser
waren in vielen Kellern zerschlagen worden.
Nach dem Grund dafür habe ich mein Leben
lang gefragt. Die Antwort erhielt ich erst jetzt
durch einen 9jährigen Königsberger Jungen H.-B-Sumowski
in seinem Buch: „Jetzt war ich ganz allein
auf der Welt“. Den russischen Soldaten hatte
man eingeredet, die Deutschen hätten vorsätzlich
alle Lebensmittel vergiftet.
Eine Rogsenerin berichtet:
Ihr zur Erholung als Soldat anwesender Vater mußte die Vergewaltigung seiner Frau miterleben.
Die polnischen Knechte
Fast alle Knechte zeigten sich in der großen Not als Helfer und Freunde der Deutschen. Ihre Sprache war dabei sehr hilfreich. Sie konnten sich mit den Russen verständigen.
Heute höre ich erstmals von der Anordnung, daß sie sich in Brätz in einem Lager melden sollten kurz vor dem Einzug der Russen. Darüber gab es Empörung bei ihnen. Einige versteckten sich im Dorf.
Verwüstungen in unserem Haus
Im Büro wurden alle Akten aus den Schränken gerissen,
auf den Boden geworfen und darauf herumgetrampelt
ebenso die Klaviernoten. Die Betten
waren aufgeschlitzt und Federn überall, das
Buffet und die Kredenz durchschossen, die Couch,
wo Mutti das Fotoalbum versteckt hatte, fehlte, die
gefüllten Weckgläser im Keller zerschlagen, und
am Traurigsten unser kleiner Dackel „Schufti“ im
Keller erstochen.
So ähnlich wütete die Soldateska in allen Häusern
unseres Ortes.
Eine Rogsenerin berichtet:
Nachdem die Russen unser Haus verlassen hatten, schrieben sie etwas in russischer Schrift an die Haustür. Wir hatten von der Bedeutung keine Ahnung und natürlich Angst, so daß wir uns immer irgendwo versteckt hielten.
Barabara Weber: Wo hat Oma den Wilhelm versteckt?
Mit dieser Frage konfrontiert mich Nichte Käthe heute. Verwundert erfahre ich die Familiengeschichte, die ich noch nicht kannte und vor 75 Jahren geschah. Wilhelm, ihr Onkel, der jüngste Sohn von Lichmanns, 43 Jahre alt, war wegen der Führung des Bauernhofes nicht zum Kriegseinsatz eingezogen worden. Ihn wollte die Oma auf keinen Fall hergeben und ließ ihn beim Einmarsch der Russen einfach verschwinden. Wohin? ist die ungelöste Frage.
Wie sich die meisten Zeitzeugen im fortgeschrittenen Alter mit ungeklärten Fragen aus der Vergangenheit beschäftigen, so auch Käthe. Wilhelm blieb verschwunden von Ende Januar bis Ende Februar 1945. (In Manfreds Aufzeichnungen steht Ende Februar: Wilhelm ist wieder da.) Als von den polnischen Besatzern der Befehl zum Verlassen des Dorfes ausgegeben wurde, reihte Wilhelm sich plötzlich in die lange Schlange der Dorfbewohner ein. Auf die Frage Wo warst Du? gab es weder von Wilhelm noch von der Oma eine Antwort.
Beide starben mit mehreren Familienangehörigen
auf dem Vertreibungsweg im Pferdestall des
bekannten Gestüts in Neustadt an der Dosse an
Typhus. Hier nahm die Befreiung kein gutes Ende.
Nun nehmen die Überlegungen zu dem Versteck einen breiten Raum ein. Wo konnte Wilhelm bei -30° überleben? Die Häuser durften vor den räubernden Siegern nicht abgeschlossen werden.
Im Kuhstall standen noch einige Kühe, die Wärme
spendeten. Doch nichts, um unsichtbar zu bleiben.
Bei den vielen Gedanken kommt eine neue
Idee, vielleicht die wahrscheinlichste. In vielen alten
Häusern existierten noch Keller, die über eine
Falltür zu erreichen waren. Unentdeckt blieben sie,
wenn darüber ein Teppich lag und eventuell noch
ein Tisch darauf stand. Das könnte die Lösung für
Wilhelms Versteck gewesen sein.
Doch wie vieles in dieser Zeit kam die Wahrheit
nie ans Licht. Oma und Wilhelm nahmen sie
mit ins Grab.
Von Heimatfreundin Elfriede erfahre ich folgendes Erlebnis:
Sie lebte damals mit ihren Eltern und 4 Geschwistern
in Meseritz in der Posener Straße 35
in ihrem eigenen Haus. Der Vater war als Eisenbahner
unabkömmlich für den Kriegseinsatz der
Wehrmacht.
Eines Tages erschienen 2 fremde Männer und forderten Zutritt zur Wohnung, um diese zu durchsuchen. Dabei stießen sie auf 5 Säcke mit Betten, die die Mutter für die Kinder für den Notfall einer Flucht bereitgestellt hatte. Jedes Kind war mit der Situation vertraut gemacht worden. Diese Fluchtvorbereitung stieß bei den beiden fremden Herren auf großes Entsetzen. Mit den Worten:
„Wenn sie hier nicht sofort eine normale Situation
wieder herstellen, werden ihnen die Lebensmittekarten
entzogen.“ Mit dem letzten Zug am 29. Januar verließen sie Meseritz. Wieder ein unvergessenes Erlebnis vom Kriegsende.
Schlussanmerkung: Einige Heimatfreunde waren nicht mehr bereit, die Erlebnisse, die sie tief versenkt, verdrängt und vergessen wollten, hervorzuholen. Denjenigen, die mir früher oder nach 70 Jahren von den schlimmsten Tagen in ihrem Leben noch einmal berichteten, danke ich. Gleichzeitig bitte ich um Nachsehen, wenn sich kleine Unrichtigkeiten eingeschlichen haben. B. W.
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