ZEITZEUGENBERICHTE - BRIEFE
Briefe aus dem Archiv des Heimatgruß – Teil 2
zusammengestellt von Joachim Schmidt


Mit Briefen und Bildern wollen wir im Jahr 2015 an die Zeit vor 70 Jahren erinnern, eine Zeit, in der wir noch Kinder waren. Die Briefe stammen aus den ersten Nachkriegsjahren und sind zum Teil heute noch sehr bewegend. Sie dürfen nach so langer Zeit mit Zustimmung ihrer Schreiber und Empfänger, mit gebührender Achtung und im Interesse unserer Geschichte im Heimatgruß veröffentlicht werden. Durch ihre Nähe zu den Ereignissen sind sie für uns unübertroffene Zeitzeugen. Ihre Mitteilungen sind nicht über Jahrzehnte lange gereifte Erinnerungen, sondern ihre Mitteilungen sind zeitnahe aktuelle Betroffenheit. Wir danken unseren Heimatfreunden dafür, daß sie uns ihre wertvollen Zeitzeugnisse zur Verfügung stellen.




Eibenstock, den 7.11.1945
Sehr geehrte Frau W.
Mit Erstaunen werden Sie den Absender dieses Briefes gelesen haben. Da endlich der Postverkehr geregelter und zuverlässiger ist, versuche ich mit Ihnen in Verbindung zu treten und hoffe, daß dieser Brief Sie auch ohne nähere Anschrift erreicht.
Ich will auch gleich auf den Kernpunkt meines Schreibens kommen. Als in Tirschtiegel die Lage kritisch wurde, versprach B. uns auf seinen Wagen mitzunehmen. Erst als die Panzer hier bereits vor T. standen und der Himmel vom Feuerschein gerötet war, sagte er uns, daß er sein Versprechen nicht halten könnte, da er das zugesagte 2. Pferd nicht bekäme und infolgedessen den 2. Wagen nicht anhängen könnte.
Nun war aber unser Gepäck - ein großer Koffer mit Garderobe, zwei Pack Betten mit Wäsche ectr.- verladen, und zwar zu unterst. Es war keine Zeit mehr eine Umpackung vorzunehmen.
Wir tauschten unsere Adressen aus und hofften, daß wir von Frankfurt aus unser Gepäck holen zu können oder zusenden zu lassen. Aber es kam ja alles ganz anders und viel schneller als man ahnte, Sie wissen es ja.

Mein Mann hat sich in den vergangenen Monaten dauernd bemüht zu erfahren, wo der Wagen mit hingekommen ist, aber nie eine Antwort auf seine Anfragen erhalten. Wissen Sie vielleicht Näheres, verehrte Frau W. oder haben Sie Verbindung mit Tirschtiegelern, durch die wir etwas erfahren könnten? Wenn ja, teilen Sie es uns doch bitte mit, wir wären Ihnen sehr dankbar dafür.
Wo mag wohl der Wagen von Z., auf dem Mutter, Tante und O. waren, hingekommen sein und wie mögen besonders die beiden alten Damen die Strapazen und Aufregungen überstanden haben? Wo sind die Familien S. und Sch.? Wo ist vor allen Dingen meine Schwägerin mit Tochter? Mit Geld hatte sie mein Mann versehen und sie wollten sich G. anschließen.

In alle Winde sind wir verstreut, heimatlos geworden, alles was uns lieb und teuer war, haben wir für immer verloren. Ob man wohl noch einmal seine Verwandten und lieben Bekannten wiedersieht? Es ist alles sehr traurig, und das Leben als Flüchtling hat etwas Bitteres.
Ich will Ihnen noch erzählen, wie wir nach Eibenstock gekommen sind.
Mit unserem Handgepäck gingen wir am 25. 1. abends nach der Neustadt, wo man uns gegen 23 Uhr ein offener Lkw nach Schwiebus mitnahm. Dort verbrachten wir mit vielen Tirschtiegelern die Nacht in der kalten Vorhalle des Bahnhofs, bis man uns am nächsten Morgen gegen 9 Uhr in einen Flüchtlingszug nach Frankfurt /Oder brachte. Dort fanden wir Aufnahme bei meinem Bruder.
Die Stadt selbst glich einem Heerlager, und der Flüchtlingsstrom an Wagen riß nicht ab. Am 5. verließen wir vier die Stadt, verbrachten die beiden letzten Nächte des starken Beschusses wegen bereits im Keller. Wir kamen nach Dresden, wo uns nach einer kurzen Nacht im Auffanglager morgens gesagt wurde, daß wir heute die Stadt verlassen müssen. Als Ziel wurde uns Leipzig oder das Erzgebirge angegeben.

So kamen wir nach Eibenstock. Zunächst natürlich Massenlager, dann für uns zwei Ehepaare ein großes Zimmer mit sehr guten Betten in der Apotheke. Die Stadt hat 8.000 Einwohner und ebenso viele Flüchtlinge waren unterzubringen. Seit dem 1. August habe ich mit meinem Mann eine kleine Wohnung (zwei Räume) und bin sehr froh, daß ich die Küche für mich alleine habe. In der Apotheke war es sehr schwierig. Die junge Frau mit drei kleinen Kindern, die gelähmte Mutter des Apothekers mit Pflegerin. Gleich nach uns kam eine Verwandte des Hauses als Flüchtling mit 4 Kindern, das jüngste am Tage vorher geboren.
Das ganze Leben spielte sich in der Küche ab, ich half bei der Arbeit so viel wie möglich, nähte und handarbeitete für die Kinder, mein Tag war immer ausgefüllt.

Im September waren wir für einen Transport nach Thüringen vorgesehen, waren bereits reisefertig, da wurde er erst für einige Tage verschoben, dann wegen totaler Bahnsperre aufgegeben. Inzwischen haben wir uns entschlossen hier zu bleiben, denn wenn die Lebensmittelzuteilung auch sehr schlecht ist, so haben wir doch wenigstens eine Behausung.
Ich will Ihnen ein kurzes Beispiel unserer Lebensmittelzuteilung geben. In den beiden letzten Zuteilungsperioden haben je einmal 100g Fleisch, 25g Butter, 40g Oel erhalten, Brot gibt es 2 1/2 Pfund, Kartoffeln 5 Pfund pro Woche, Mehl keins, das müssen wir uns vom Brot abknappsen, Milch seit Februar keine.
Mein Mann hat annähernd 50 Pfund abgenommen und vor Unterernährung Wasser in den Füssen, ich habe 20 Pfund an Gewicht verloren. Hunger ist unser tägliches Brot.

Nun wird es noch schlimmer, denn wir gehören mit den neuen Marken ja zur fleisch- und fettlosen Gruppe. Irgendwelche Beziehungen haben wir nicht, die Bevölkerung ist sehr zugeknöpft und betrachtet uns nur als lästige Fremdlinge und Mitesser. Wie ist es bei Ihnen mit Ihrer Zuteilung und Unterkunft, man hört verschieden und wir wüssten gern etwas Positives, denn bei günstigeren Lebensbedingungen würden wir uns doch entschließen hier weg zu gehen. Denn wenn erst der sehr kalte Gebirgswinter einsetzt, der Schnee Meter hoch liegt, ist die Stadt von jeder Außenverbindung abgeschnitten und damit die Lebensmittelversorgung ernstlich gefährdet. Eibenstock liegt 620 Meter hoch und hat in der näheren Umgebung nur sehr karge Landwirtschaft.

Wie geht es nun Ihnen, verehrte Fau W.? Haben Sie Verbindung mit Ihrem Sohn? Wir wissen von unserem leider nichts, sein letzter Brief vom 31.12.44 erreichte uns noch in T., seitdem ist von unserer Seite alles vergeblich gewesen, ich habe nicht mehr viel Hoffnung.

Mein Mann und ich wünschen Ihnen alles Gute und grüssen Sie und alle evtl. dort weilenden Bekannten
herzlich Ihre A. u. E.





Berlin, den 13. Januar 1946
Liebe Frau G. und Angehörige!
Herzlichen Dank für Ihren langen Brief. Zuerst möchte ich Ester mein herzliches Beileid ausdrücken zum Verlust Ihres Sonnenscheins von dem Sie in Ihrem Brief so freudig berichteten. Ich weiß, und Sie auch, wie wehe es einem tut, ein geliebtes Kind durch den Tod entrissen zu werden.
Noch sind bei uns die Wunden nicht verheilt, ein Jahr ist es fast her, daß wir von unserem Kätchen Abschied nehmen mußten und doch wie gut sind die geborgen, die in Gottes Hand gefallen sind, und wenn ich so sehe wie junge Menschen, die im öffentlichen Dienst standen ohne Stellung und Brot und hin und her wanken glaube ich, daß auch Gott unseren Johannes vor vielem bewahrt hat und er die Grausamkeiten des Kriegsendes nicht mehr erleben brauchte.
Von Ihrer Schwester Tabea haben wir auch einen netten Brief erhalten, der uns sehr erfreut hat. Ich habe aber keine Adresse und wenn Sie mit ihr zusammen kommen, sagen Sie bitte unseren Dank und daß sie ihr Kindchen gesund zur Welt bringen und viel Freude erleben möchte.
Ihr Vater ist nun auch bei Ihnen. Martel und ich waren am 25. bis 27. Juli noch einmal in Tirschtiegel bzw. in Eschenwalde. Die Polen erlaubten uns nicht mehr in die Stadt zu gehen und wir kamen nur bis zum Gemeindehaus und kehrten dann über den Kirchhof nach Eschenwalde zurück sonst wären wir in den Vertreibungstreck eingereiht worden. So konnten wir noch einiges von Walli retten.

Wir sind dann nachts auf Umwegen in strömenden Regen 6 Stunden lang nach Neu-Bentschen gepilgert. Martel sprach Französisch und Fritz auch einige Brocken, dann hatten wir einen Mitleid erregenden Kinderwagen mit zerbrochenen Rädern bei uns und die Polen hielten uns womöglich für Franzosen, führten uns zu einem Güterzug, der ohne Aufenthalt (außer in Schwiebus 2 Minuten) bis Küstrin durchfuhr, so daß wir nachmittags schon in Berlin waren. Der Vater und Fritz fanden in einer Großbäckerei Arbeit, wo sie heute noch sind. Wir bekamen eine sehr schöne sonnige 2 1/2 Zimmerwohnung mit Küchenbenutzung und so sind wir dankbar, es vor vielen Tausend anderen Leidensgenossen sehr gut zu haben.

Walli und Fritz haben einen kräftigen goldigen Jungen, er ist nun schon 4 Monate alt. Martel arbeitet bei den Amerikanern in der Offiziersmesse, eine sehr nahrhafte Angelegenheit. Es ist ja heute von großer Bedeutung, daß man bei Kräften bleibt. Es sterben hier sehr viele Leute an Unterernährung. In der freien Zeit gehen wir alle in den Grunewald nach Holz. Wir haben uns einen eisernen Ofen zulegen können, so brauchen wir auch nicht zu frieren. Sonst haben wir Zentralheizung, aber diese steht still wegen Koksmangel. Ein kleines Gemüsegärtchen haben wir uns auf einer Grünflächen schaffen können.
Im Sommer hatten wir unsere Oma hier, sie wird jetzt 83 Jahre, kann immer noch etwas tun. Jetzt ist sie wieder bei A.. Evchen hat ihre Bahnstelle behalten. Schwager Richard ist am Kriegsende gestorben. As. Haus wurde noch am letzten Tag von Bomben getroffen, wohnen jetzt nur notdürftig, wie viele, viele.

Schmargendorf ist englische Zone. Man sagt, daß es bei den Engländern am anständigsten ist, jedenfalls ist ihr Benehmen korrekt. Mit den Russen haben wir schlechte Erfahrungen gemacht. In Werder sind uns noch unsere wollenen Sachen fortgenommen worden. Es war doch gut, daß wir damals im Januar fortgingen, viel Schweres haben die anderen durchgemacht. Herr S. wird wohl erzählt haben. Viele Leben sind ausgelöscht. Der Vater von L. ist am Bahndamm bei Küstrin (?) tot ohne Beine von Küstrinern gefunden worden. P. und A. sind bei einem Bauern in Gransee.

D. ist in Neuruppin. Die alten Ds. sind in Berlin, haben schon für unsere Männer Sachen gearbeitet.
P. hat eine Radiowerkstätte. Wir haben uns auch einen Volksempfänger eingetauscht. In Berlin steht der Rundfunk unter russischer Verwaltung. Ps. sind nach Potsdam. H. ist in russischer Gefangenschaft, ein Kamerad brachte Nachricht, daß er in Frankfurt im Lager wäre, es ist schon viele Wochen her und von ihm selbst ist noch nichts gekommen. R. ist in englischer Gefangenschaft, er hat sich noch nicht gemeldet, aber Verwandte in Hessen haben irgendwie Nachricht erhalten, daß er im Arbeitseinsatz sei, wo wissen wir nicht.
H. wohnt mit seiner Frau bei seinen Eltern in Dortmund. Der Vater seiner Mutter aus Meseritz, über 80 Jahre alt, ist zu Fuß dort angekommen. Hs. Vater hat seinen alten Posten bei der E.W., wo er 1933 entlassen wurde, wiederbekommen. S. hat eine Bahnstelle in Barby/Elbe, die Schwägerin aus der Wirtschaft ist allein übrig geblieben, sie ist bei ihm. Die Anderen sind in Lewitzhauland ums Leben gekommen.

Wir haben mit vielen Tirschtiegelern Verbindung. Ein Drittel davon ist gestorben, ermordet usw. Die meisten glauben an eine Rückkehr und haben das alte Tirschtiegel vor Augen und im Herzen. Das ist wohl aber nur ein Traum. Ich rechne damit gar nicht.






Den folgenden vierseitigen Brief stellen wir hier in einer gekürzten Version zur Verfügung.

Berlin, den 10. Februar 1944

Solange hat der Brief gelegen. Unterdessen ist Ihr Gemeindebrief eingetroffen. Besten Dank, Herr Pfarrer Schmidtke.
Sie sind bei uns Tirschtiegelern eine sehr bekannte Persönlichkeit. Wir gehören hier zur Kreuzkirchengemeinde von Pfarrer Nehmitz.
In unserer Nähe wohnen noch mehrere Tirschtiegeler, mit denen wir Kontakt halten. Unter Ihnen gibt es zum verlorenen Krieg und zur verlorenen Heimat sehr unterschiedliche Meinungen. Die Mehrheit lebt immer noch in der Hoffnung einer Rückkehr in die alte Heimat.

Berlin gehört unter russische Verwaltung bzw. der Verwaltung 3 aliierter Kontrollzonen. Die arbeitenden Berliner und aufgenommenen Flüchtlinge und Vertriebenen werden mit den nötigsten Lebensmitteln versorgt. Gewichtsverluste von 20 bis 30 Pfund haben wir trotzdem aufzuweisen. Die Leute sterben noch in Scharen. Unsere Oma ist drei Tage nach ihrem Geburtstag heimgegangen, sie ist einem Schlaganfall erlegen. Zum Sarg mußten wir einen Schrank liefern. Die Beerdigung war wie ein Jahrmarkt. So viel Betrieb, die Grabreihen so eng und die Särge in langen Reihen, viele ohne Särge, die Leichen wurden nur in Papier gewickelt und so soll es alle Tage gehen, auf jedem Friedhof.


Im Folgenden berichtet der Schreiber des Briefes über den Verbleib von über 90 Personen aus Tirschtiegel und dem Tirschtiegeler Land. Über 50% davon werden schon von ihm als verstorben oder vermißt beschrieben.

Es wäre noch sehr viel zu schreiben, aber für heute genug. Unser Sohn arbeitet seit einiger Zeit als Conditor in der amerikanischen Offiziersmesse. Er möchte mit den Amerikanern auswandern. Was sagen Sie dazu Frau R.?

Allerherzlichste Grüsse an alle ...