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Vor 70 Jahren:
Erinnerungen an die letzten Wochen in Bauchwitz
Schwester Friedburg (Dorothea) Kruschel, aufgeschrieben im Jahr 2000
Der erste Schnee fiel, Weihnachten 1944 kam und
konnte von allen fast wie im Frieden gefeiert werden.
Menschen trafen sich, um noch einmal in altgewohnter
Weise das Jahr miteinander zu beschließen.
Vier Wochen später war alles vorbei. Der
Russe hatte sich Zeit gelassen, den letzten Sturm
vorzubereiten. Dann brach er mit voller Gewalt
herein. Wir packten ein, wir packten aus. Was soll ten wir mitnehmen? Alles was uns lieb und teuer war.
Anfang der Woche, Montag und Dienstag dem 22.
oder 23. Januar 1945, holte sich Vater am Abend
den Schlitten. Er hatte sich eine Eichenkiste gezimmert,
seine Gewehre eingefettet, in Tücher gewickelt
und in diese Kiste gelegt. Auf den Schlitten damit und
einen Spaten drauf. Dann zogen wir den Schlltten zur
Feldscheune, die auf dem Acker von Onkel Adolf
stand.
Dort angekommen, wurde eine Grube gegraben
und dort hinein legten wir die Kiste mit den Gewehren.
Ein Abschied! Traurig zogen wir nach Hause.
Was mag Vater für Gedanken gehabt haben? Wir
hatten viel Schnee und viel Kälte.
Ein paar Tage später sagte Vater zu mir am
Abend: „Komm, wir fahren mit
dem Auto durch den verschneiten
Wald.“ Wir fuhren auf der
Straße Richtung Meseritz bis
zum Wischener Weg, dann dort
entlang. Es war eine wunderbare
Fahrt, durch tiefverschneiten
Wald. Jeder ging seinen Gedanken
nach. Dann kam der 27.
Januar. Es war Samstag. Wir
hatten gefrühstückt. Vater meinte.
„Fahr zur Post, sieh ob Post
vom Jungen da ist.“
Gut, daß ich zur Post war.
Ein Wunder! Post von Walter
aus Burgwedel bei Hannover.
Ich wußte gar nicht, wie schnell
ich nach Hause fahren sollte.
Der viele Schnee, der Schinderberg.
Unten der Schnee, oben
die Tiefflieger. Einmal habe ich
mich in den Schnee gelegt, ich
hatte Angst. Endlich war nichts
mehr zu hören und ich so
schnell wie möglich nach Hause.
Zu Hause angekommen, den Brief den Eltern
gegeben. Die Freude, die große Freude, die letzte in
ihrem Leben. Sie wußten, Walter lebt, wenn auch verwundet,
aber er lebt, ist in Deutschland. Der schönste
Tag im Leben der Eltern. An diesem Tag, es war
der 27. Januar 1945, wußten wir ja nicht, was am
Montag, dem 29. Januar 1945, auf uns zu kommen
sollte, daß etwas Schreckliches, Entsetzliches geschehen
sollte.
Am Sonntag schrieben Mutter, Vater und ich
Briefe an Walter. Mutter packte noch ein Päckchen,
der Sonntag war sehr unruhig. Laufend kamen Soldaten
in unser Haus. Was sollte man tun? Das Wetter
war ungünstig, 18 bis 20° Kälte , Schnee. Die Straßen
überfüllt mit Flüchtlingen aus dem Warthegau.
Die Flucht der Einwohner war verboten.
Der Gedanke war da, es könnte ja noch eine
Wende kommen und auch der Gedanke: die Russen
sind auch Menschen. Da wir auch am Montag, dem
29. Januar noch zu Hause waren, beschlossen Vater
und Mutter, daß ich noch nach Meseritz die Briefe
zur Post bringen und von der Grenzmarkbank Geld
überweisen sollte, alles für den Jungen.
Glück im Unglück! Herr Karl Lechelt mußte Jungen
zum Volkssturm nach Meseritz bringen. Etwa um
12 Uhr kam er mit dem Pferdeschlitten vorgefahren,
und ich stieg mit ein. Die Eltern verpackten mich warm
und verabschiedeten sich: „Bis nachher!“ Es war ein
Abschied für immer. Wir kamen in der Stadt an. Mein
erster Weg ging zu Herrn Kannegießer in die
Grenzmarkbank, um die Überweisung des Geldes an
Walter zu erledigen. Herr Lechelt fuhr weiter, um die
Jungen abzuliefern. Wir verabredeten, uns später im
Laden Kruschel zu treffen.
Nachdem ich in der Post die Briefe abgegeben
hatte lief ich schnell zum Laden. Dort sah es furchtbar
aus, alles drunter und
drüber. Überall lag Kleidung
herum. Ich habe Tante
Paula und Onkel Fritz
gesprochen. Herr Lechelt
kam und wir wollten
schnell nach Hause: durch
die Kirchstraße, an der
Post links, am Lustgarten
vorbei, Brätzer Straße,
Richtung Bauchwitz.
Am Krankenhaus kamen
uns deutsche Soldaten
entgegen. Wir könnten
nicht nach Bauchwitz,
beide Brücken nach
Heidemühle seien gesprengt,
wir mußten zurück.
Wir überlegten: Wie
kommen wir nach Hause?
Eine Möglichkeit:
Schwiebuser Straße,
Kalau, Schindelmühl. Als
wir Kalau verlassen hat
ten, kamen uns Panzer
entgegen. Wir waren der Meinung, es wären Deutsche.
Nein, es waren Russen!
Nach einer Weile fuhren wir weiter. Dann spannte
Herr Lechelt die Pferde aus. Wir liefen in den Wald.
Auf einmal sah ich mich in den Rietbergen, das Haus
von Kynast und von Kube. Diese Häuser waren für
mich ein Zeichen, wo ich mich befand.
In der Zwischenzeit war es dunkel geworden.
Ich ging die Straße runter Richtung Gasthaus Lettau.
Ich sah Menschen, Bekannte. Immer wieder frage ich
nach meinen Eltern. Niemand hat sie gesehen. Frauen
und Kinder schreien. Russen toben zwischen uns
herum, Maschinengewehre immer schußbereit.
Auf einmal stehe ich in der Gaststube von Lettau.
Ringsherum Bekannte: Irmgard Binder mit den
beiden Kindern. Gerda Schwarz fragt mich, ob ich
sie begleiten würde, das Haus lag gegenüber auf der
anderen Seite. Ich sagte: „Nein, bleib bitte hier.“ Sie
ging und wurde am selben Abend erschossen. Die
Russen fingen an zu hausen. Die Frauen waren die
erste Beute. Uhren wurden weggerissen, alles zerschlagen und zerrissen. Wir waren diesen Bestien
ausgeliefert.
In den nächsten Tagen lief ich verwirrt umher.
Niemand konnte mir sagen, wo die Eltern sind. Nach
ein paar Tagen wollte ich nach Hause. Sofort kam
eine Horde Russen an. Ich lief zurück ins Haus und
versteckte mich. Tag und Nacht rollten die Panzer
Richtung Meseritz, Landsberg, Küstrin, Berlin. Es war
grausam.
Mitte Februar kam der Förster Heese zu mir
und brachte mir die furchtbare Nachricht, sie haben
die Eltern im Schuppen gefunden, erschossen. Sie
haben die beiden auf einen Wagen gelegt, der steht
auf dem Weg zum Park, ich möchte bitte mitkommen,
um sie noch einmal zu sehen, damit sie dann begraben
werden können.
Als ich ankam, hatten ein paar Männer bereits
eine Grube gegraben und dort wurden meine Eltern
hineingelegt. „Das Sterben ist der große Schlußakkord
im Leben des Menschen.“ Das war das Ende meiner
glücklichen Jugendzeit.
Die Horden kamen, nahmen sie mit Gewalt und
töteten sie grausam. Ich ging zurück in das Haus von
Lettau. Wir schlossen uns eng aneinander und erwarteten
das Ende. Die Angst vor dem Tod, die schon
seit dem Anfang des Einmarsches der Roten Armee
keine wesentliche Rolle mehr spielte, war durch weit
Schlimmeres aufgehoben. Wir Verzweifelten schrien
nur noch: „Schießt doch, schießt doch!“ Sie quälten
uns lieber, als daß sie von den Waffen Gebrauch
machten. Man kann über diese Dinge nicht schreiben,
die furchtbarsten, die es unter Menschen gibt.
Mein Weg zum Grab der Eltern. Ich schleiche
über den Kirchhof, kleine Seite, Stück Park, dann bin
ich bei ihnen. Hier besteht die Möglichkeit, etwas Ruhe
zu haben, Geborgenheit. Kalt und stumpf lege ich
mich hin, damit mich keiner sieht. Denn Horden Rotarmisten
kommen laufend durch das Dorf. Das ist der
Nachschub für die kämpfende Front Richtung Berlin.
Wir müssen das Haus Lettau verlassen, denn
dort zieht die rote Kommandantur ein. Ich frage Frau
Lehmann, ob ich bei ihr wohnen dürfte. Sie nahm mich
gottlob auf. Es kamen für mich ein paar ruhigere Wochen.
Der Frühling zog ins Land. Ich meinte schöner
denn je. Es fing an zu blühen: Schneeglöckchen, Veilchen,
Anemonen, Sträucher, alles blühte. Es war unsere
einzige Freude. Inzwischen war es März, die
Nächte waren taghell. Flugzeuge flogen, brausten
über uns dahin, denn Landsberg, die Festung Küstrin,
die Städte müssen noch in Schutt und Asche gelegt
werden, um dann auf Berlin anzustürmen.
Für uns kam jetzt die Zeit der Frühjahrsbestellung:
Kartoffeln legen, alles Mögliche mußte
man arbeiten. Eine Zeit lang mußte ich auf dem Hof
von Bauer Schwarz den Kartoffeldämpfer fertig machen.
Für mich nicht schlecht, konnte ich mich doch
an den gekochten Kartoffeln satt essen. Für Frau
Lehmann hatte ich auch noch welche. Dazu gab es
öfter Spargel. Jedenfalls war es ein gutes Essen.
Mitte Februar brannte unser Haus. Wieder ein
Schmerz. Das Sägewerk wurde demontiert und verschleppt.
Immer wieder kam der Gedanke, was soll
werden, was wird mit uns geschehen? Kommen wir
nach Russland, nach Sibirien, in die Taiga? Was sagen
uns all diese Horden. Vom Forsthaus sagt man,
Onkel Paul, Tante Ottilie, Renate und Martin sind tot.
Man hat sie im Wald gefunden. Unser guter Nachbar,
Herr Gronwald, mit seiner Frau tot in der Wohnung.
Was war doch alles Grausames geschehen!
Warum Menschen, die in ihrem Alltag lebten? Warum
haben mich Mutter und Vater fortgeschickt? Warum
leben? Es ist doch alles sinnlos! Und wo ist Walter?
Lebt er noch? Alles Fragen und keine Antwort. Wie
sollte man das verstehen.
So gingen die Wochen und Monate dahin. Am
8. Mai 1945 war es so weit: Deutsche Soldaten, Gefangene,
armselige Menschen, geschunden bis es
nicht mehr geht. Man konnte nur noch weinen, wenn
man dieses Elend sah. So zogen sie durchs Dorf Richtung
Osten.
Die Russen, die Rotarmisten, grölten und jubelten
über ihren großen Sieg. Ich schlich mich zum
Grab, legte mich lang, daß mich keiner sah. Hier war
ich den Eltern ganz nah, sie schützten und beschützten
mich. Die Polen bekamen ihre Kommandantur in
Lehrer Näumanns Haus.
Zweimal mußte ich dorthin. Man zeigte mir ein
Schreiben, daß ich unterschreiben sollte. Das tat ich
nicht. Ich sagte: „Ich besitze nichts mehr. Ich kann
nicht Polnisch lesen und schreiben. Es könnte mein
Todesurteil sein und das unterschreibe ich nicht.“
Polen und Russen konnten sich nicht verstehen.
Es sah aus, als ob es zwischen ihnen Krieg gibt.
Das war die polnische Besatzung. Was wird nur mit
uns geschehen?
Dann kam der Juni und mit ihm kam das Ende.
Wir mußten Haus und Hof in ein paar Minuten verlassen.
Vor dem Gasthaus Lettau war ein großer freier
Platz. Auf den trieb man uns. Es war Montag. Die
Sonne brannte vom Himmel. Was hatte man mit uns
vor? Osten? Westen?
Allmählich setzte sich der Treck in Bewegung.
Kinder schrien, man weinte, wir müssen die Heimat
verlassen. Es war für immer. Der Treck setzte sich in
Bewegung in Richtung Meseritz. War es in diesem
Elend ein Lichtblick, winzig klein? Am Ortsausgang
wußte ich, wo es lang ginge. Ein langer Blick zu den
Eltern. Dank, Dank für alles! Dies war das letzte Mal
Schinderberg.
Wie oft bin ich diese Straße mit dem Fahrrad
gefahren. Unbegreifliche Worte: „Es war einmal“. Doch
die Erinnerung bleibt. Dann kam die Schneidemühle,
das Wohnhaus lag in Schutt und Asche, das Sägewerk
ebenfalls. Es war ein Schmerz, den man nicht
beschreiben kann. Das Forsthaus, der Wald, in dem
wir Pilze und Waldbeeren gesucht hatten, alles war
Großvaters Wald“. Dann kam Heidemühle, der See,
wie oft sind wir in ihm geschwommen.
Es war einmal.
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