ZEITZEUGENBERICHTE
Flucht aus Meseritz

Elisabeth Sandmann - Fischer
Wie wir unsere Vaterstadt verlassen mußten, werde ich nie vergessen —
Erinnerungen aus meinem Tagebuch:


20. Januar 1945
Der letzte schöne Tag in Meseritz neigte sich seinem Ende zu. Fünf Fahnenjunker (Offiziersanwärter) und wir fünf Mädels feierten zum letzten Mal: darunter Gerhard Schreiber, Rosemarie Gaumer, Helga Schmidt, Helga Gelling und Thea Kaiser.

21. Januar 1945
Gegen Morgen etwa 3 Uhr gingen wir auf unseren tiefverschneiten Markt, um frische Luft zu schnappen. Auf dem sonst so stillen Markt war Betrieb. Einige Pkws und ein Lkw mit Anhänger waren dort abgestellt. Alle diese Wagen kamen aus dem Warthegau. Sollten die Russen schon soweit vorgestoßen sein? Wir glaubten es nicht.
Mit vereinten Kräften halfen wir einer Frau aus Grätz ihren abgerutschten Wagen den Gerberhof hinaufzuziehen. Aus dem Lkw waren inzwischen die Leute ausgestiegen und suchten ihr Quartier bei Frau Jung auf.
Unsere fröhliche Stimmung war weg, als ahnten wir die Gefahr. Um 4.15 Uhr fuhren die Jungens ins Lager zurück. Ich ging nach Hause. Um 5.30 Uhr wurde bei uns stürmisch geklingelt. Ich sollte sofort zur NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt). Es begann ernst zu werden.
Auf dem Weg zur NSV sah ich viele Wagen, alles LKWs, die aus dem Warthegau kamen. Erst jetzt wurde mir klar, die Bevölkerung räumt den Warthegau. Der Feind rückt in bedrohliche Nähe. Diese Autos waren die Spitze eines unendlichen Flüchtlingsstromes.
Bei der NSV herrschte Hochbetrieb. Für die in der Nacht angekommenen Flüchtlinge wurden belegte Brote zurecht gemacht. Gegen 8 Uhr kam meine Mutter als Helferin dazu.

22. bis 28. Januar 1945
In der nun folgenden Woche zogen Tausende von Flüchtlingen durch Meseritz. Nach den schnell fahrenden Autos kamen die langsamen Pferdewagen.
Es war erschütternd anzusehen, wie Frauen mit kleinen Kindern zwischen ihrer wenigen Habe saßen, nur mit einem Wunsch, dem grausamen Feind nicht in die Hände zu fallen. Auch die Bevölkerung in Meseritz wurde unruhig.
Überängstliche, oder soll man sagen die Klugen, hatten Meseritz schon verlassen. Fast kopflos wurde man, als feindliche Panzerspitzen in Tirschtiegel erschienen, die aber wieder zurückgeschlagen wurden.

Von der Kreisleitung wurde solche Angst immer wieder zerstreut. Zuversichtlich waren die Meldungen, die von dort kamen. Meseritz sollte unter allen Umständen gehalten werden, es sollte nicht geräumt werden.
Die militärische Lage aber wollte es anders. Die Ausfindigmachung der Verantwortlichen, die an den nachfolgenden Tagen mitschuldig waren, wird einer späteren Zeit überlassen bleiben. In diesen Tagen erlebte ich, wie gegenstandslos der Reichsluftschutzbund, in dem ich Mitglied war, in frontnahen Gebieten war. Von uns wollte in diesen Tagen niemand etwas wissen. Mein Chef, Herr Wiese, wollte das nicht ganz einsehen. Es ist ein Glück, daß der Russe nicht über so große Mengen von Bombern verfügte, wie die Engländer und Amerikaner. Ich hätte in diesen Tagen viel lieber der NSV geholfen, denn dort wurde jede Kraft gebraucht.

Mutti war täglich von früh bis abends dort und kochte für Flüchtlinge Suppe und Kaffee. Sie stand mit Frau Swack, Frau Seipelt und Fräulein Lody in einer Garage und einer offenen Bretterbude in Schnee und Kälte an den Kesseln.
Dabei hatte sie sich eine ordentliche Erkältung zugezogen und konnte kaum noch sprechen. Trotzdem stand sie Tag für Tag auf ihrem Posten. Vater hatte schweren Dienst in der Kreisleitung. Er brachte aber über die Situation an der Front täglich recht zuversichtliche Meldungen mit nach Hause. Allmählich wurde der Flüchtlingsstrom aus dem Warthegau schwächer.

29. Januar 1945
Auch am Montag
lautete die Nachricht von der Kreisleitung über die Situation an der Front nicht schlecht. An den Kanonendonner aus östlicher Richtung hatten wir uns gewöhnt, denn Meseritz liegt ja noch 13 km von der Grenze entfernt. Dort seien die russischen Panzerspitzen sicher aufgehalten worden.
Gegen 18.30 Uhr kam Vater nach Hause. Mutter war auch gerade gekommen. Vater hatte ein sehr ernstes Gesicht und sagte: “Fertig machen und sofort los!“ Wir bekamen einen riesigen Schreck und wollten es nicht glauben - so plötzlich. Was war geschehen? Russische Panzer waren durchgebrochen und standen vor Meseritz.

Das Schicksal schonte auch uns nicht, wir mußten flüchten. Unsere Sachen hatten wir schon gepackt. Es galt nur noch verschiedenes zusammenzusuchen, was im Keller untergebracht werden sollte. Wir ließen die Wohnung sonst wie sie war, denn Vater, der zur Verteidigung mit dem Volkssturm hier blieb, wollte noch darinnen schlafen. Ich habe inzwischen noch Sckerls und Swacks alarmiert. Onkel Bernhard begann unsere Fahrräder zu bepacken - außerdem hatte er vorher noch schnell einen Schlitten gebaut, der auch noch voll bepackt mitgenommen werden sollte.

Sckerls und Swacks waren inzwischen gekommen. Tante Ella hatte belegte Brote für die Reise gemacht. Vaters Tornister wurde noch vollgepackt. Mit Tante Grete und Traute war Frau Lepin gekommen. 2 Hunde liefen aufgeregt herum. Vater drängte zum Aufbruch. Als unser Reiseziel wurde Oscht, Kreis Schwerin, hinter der Bunkerlinie vereinbart.

Wir verabschiedeten uns von Vati und waren alle der festen Meinung, daß wir hinter der Bunkerlinie in Sicherheit wären und nach mindestens 14 Tagen wieder nach Meseritz zurückkoÅNnnten — unser Weg sollte uns viel weiter führen. Um 9 Uhr abends ging es los. Der einzige Weg, der uns noch offen war, führte nach Pieske. Als wir vom Markt abmarschierten, kamen wir in eine Fahrradkolonne, die ebenfalls den Weg nach Pieske ging.

Der Himmel war bedeckt, aber nicht dunkel, denn hinter den Wolken stand der Mond, der Schnee leuchtete und rings am Himmel zeichneten sich rote Brände ab, von brennenden Panzern oder in Brand geschossenen Gehöften. Zeitweilig sah es aus, als ob wir dem Feind entgegengingen. Als wir die Stadt verließen, waren Sckerls und Swacks schon weit voraus. Wir selbst hatten zu schwer zu schleppen. Jeder sein Fahrrad und Onkel Bernhard und ich zogen außerdem den schweren Schlitten. Das links und hinter uns herüberschallende Feuer von Panzern und Geschützen trieb uns alle weiter.

Der Weg nach Pieske führte bergan und bergab, der viele Schnee machte uns den Weg nicht leichter. War er hoch und locker, kamen wir mit dem Schlitten nicht durch und wo ihn der Wind weggeweht hatte, konnten wir vor Glätte nicht Fuß fassen. Als Krönung des Ganzen herrschte ein Sturm, der auch noch neuen Schnee brachte. Wir kamen also nur langsam voran. Wir wurden von Wehrmachtswagen und von Wagen, die aus Meseritz kamen, überholt.
Erst als wir in die Nähe von Pieske kamen, also innerhalb der Bunkerlinie waren, trafen wir auf deutsche Truppen, die die Stellung besetzt hatten.

30. Januar 1945
Zwischen 12 und 1 Uhr nachts kamen wir in Pieske an. Wir kamen gerade zurecht, um Sckerls und Swacks mit Treckern in Richtung Tempel abfahren zu sehen. Wir mußten nun eine kleine Pause machen, Onkel Bernhard war mit seiner Kraft am Ende. Wir hatten uns zu viel zugemutet. Doch fanden wir noch Gelegenheit, Onkel Bernhard mit einem Lkw nach Wandern zu schicken, leider ohne Gepäck.

Nun standen wir da, Mutter, Tante Ella und ich, 4 Räder und ein Schlitten. Mutter ging überall herumhorchen, ob nicht für uns eine Fahrgelegenheit aufzutreiben wäre. Im Schulhaus traf ich einen bekannten Amtsträger vom RLB, Plawa aus Bobelwitz. Die Bobelwitzer waren mit Pferden und Wagen in Pieske, für uns war kein Platz mehr. Mutter hatte auch nichts erreicht. Also mußten wir zu Fuß weiter.
Da traf Mutter auf Jekel aus Meseritz, der mit seinem kleinen Pkw Pendelverkehr bis nach Pieske machte und alte Leute herausbrachte. Er nahm von uns das eine Fahrrad, den Koffer von Swacks und Mutters Koffer mit den Konservenbüchsen wieder nach Meseritz zurück. Er sollte alles bei Gastwirt Heinrich im Löwenbräu in den Keller stellen.
Zwischen 2 und 2.30 Uhr morgens zogen wir los. Der Flüchtlingsstrom aus Meseritz wurde immer stärker. Wir schlossen uns an. Mutter und ich zogen den Schlitten und jeder hatte noch sein Fahrrad. Wir gingen jetzt in einem langen Zug. Oft stockte die Kolonne, wenn wir von Wehrmachtswagen überholt wurden oder wenn die Pferde ihre Wagen auf den glatten Straßen in hügeliger Landschaft nicht mehr schafften. Wie oft sind wir an gestürzten Pferden vorübergezogen.
Gegen 4 Uhr früh verließen wir die Kolonne und gingen nach Tempel. Auf dem kurzen Weg von der Landstraße bis ins Dorf hatte der Wind so viel Schnee zusammen gefegt, daß wir nicht weiterkamen. Wir haben erst unsere Räder vorgeschoben und dann den Schlitten geholt. Es war schwer mit dem Schlitten durch den hohen Schnee zu kommen.
Auch in Tempel fragten wir uns bis zum Lehrer durch. Das Gasthaus und die Klassenzimmer waren mit Soldaten belegt. In der Wohnung des Lehrers, Mutter war einfach hineingegangen, war alles auf. Erst dachten wir, der Lehrer hätte seine Wohnung auch verlassen, wie das in Pieske der Fall war, aber nach einer Weile hörten wir aus dem Nebenzimmer eine brummige Stimme, die uns fragte, was wir wollten.

Als wir drei noch versuchten, ihm klarzumachen, daß wir Flüchtlinge seien und uns nur etwas aufwärmen wollten, ging die Tür auf und der Lehrer, ein Mann zwischen 60 und 70 Jahren, bekleidet mit Hemd und Hose trat ein. Erst brubbelte er noch etwas, dann ging er in die Küche und kam nach einer Weile mit einer Kanne Kaffee zurück. Der heiße Kaffee tat uns sehr gut. Dann saßen wir noch und ruhten unsere kalten und nassen Beine. Kurz vor 6 Uhr kam jemand aus dem Dorf und alarmierte den Lehrer, fertigmachen und auf Abmarschbefehl warten.
Nun wurde es für uns höchste Zeit. Wieder mußten wir den beschwerlichen Weg durch den hohen Schnee bis zur Landstraße zurücklegen. Erst den Schlitten, dann die Räder. Als wir aus Tempel abrückten, trafen wir Frl. Kaiser, die nach Tempel hinein wollte, wahrscheinlich zum Bahnhof. Auf der Landstraße reihten wir uns in den laufenden Treck ein.
Weiter ging der Elendsweg bergan und bergab. An vielen Stellen machte uns der Schnee große Schwierigkeiten. Der Schlitten war zu niedrig gebaut, als daß er mühelos durch den hohen Schnee gleiten konnte.
Auf der halben Strecke zwischen Tempel und Grochow trafen wir Stabszahlmeister Görner aus Meseritz. Ein Wink des Himmels, denn wir waren bald mit unseren Kräften am Ende. Görner stand mit seiner Autokolonne und hielt Rast. Uns selbst konnte er nicht mitnehmen, aber den schweren Schlitten. Er wurde an seinen Wagen hinten angebunden und bis Wandern mitgenommen.
Dort sollte er bei Stabsintendant Stürzebecher abgestellt werden. Nun waren wir das schwerste Gepäck los. Jeder von uns hatte nur sein Fahrrad. Das war ein Glück, denn bald darauf wurde die Straße so schlecht, daß wir den Schlitten nicht mehr fortbekommen hätten.
Im Wald, durch den die Straße führte, lag auch viel Schnee und die vielen Trecks hatten ihn lose und weich getreten. Görners Kolonne überholte uns und wir sahen unseren Schlitten hinten dranhängen. Auf der nun folgenden Straße bis Wandern konnte ich hin und wieder die Spur unseres Schlittens im Schnee entdecken.
In Grochow machten wir Rast, etwa gegen 9 Uhr. Am Anfang des Dorfes wurden wir von einer Frau ins Haus geholt. Dort gab es Kaffee. Wir aßen unseren Kuchen dazu und nahmen Herztropfen. Der Bauer Wolf aus der Mühlstrasse kam mit seiner Frau auch herein. Nach 1 1/2 Stunden zogen wir weiter. Im Dorf trafen wir noch Otto Licht und Frau nebst Schwiegertochter. Sie waren dort mit ihrem Treck.
Wir zogen mit unseren Rädern weiter.

Am Ausgang des Dorfes trafen wir einen Pferdewagen, auf dem nur ein Soldat stand. Ein Russe (Ostarbeiter) war Kutscher. Auf unsere bescheidene Frage, ob er uns nicht ein Stück mitnehmen könnte, sagte der Soldat; „Aber selbstverständlich!“ Wir hatten es nicht für möglich gehalten, daß es so etwas noch gab, weil wir vorher immer abgewiesen wurden. Unsere Räder wurden auf dem Wagen verstaut und dann stiegen wir auf. Der Wagen sollte wohl bis Zielenzig fahren. Sehr warm war es nicht. Wir hatten kalte und nasse Füsse, aber besser schlecht gefahren, als gut gelaufen. Es ging durch Schermeisel. Da wurde der Soldat von Feldgendarmerie(Militärpolizei, heute Feldjäger), die Soldaten nannten sie Kettenhunde, verhaftet. Er war auch nur mitgefahren. Der Russe fuhr aber mit uns weiter bis Wandern. Dort setzte er uns bei der Wohnung von Stürzebecher ab. Wir gingen in seine Wohnung. Er selbst war gar nicht zu Hause, es war gegen 2 Uhr mittags. Die Wohnung war nicht aufgeräumt. Frau Stürzebecher war scheinbar schon abgereist. Tante Ella blieb bei den Rädern zurück.

Mutti und ich gingen zur Kommandantur, um Stürzebecher zu suchen. Als wir zur Kommandantur kamen, standen gleich neben der Tür unsere Schlitten und das Gepäck. Wir waren sehr froh. Stürzebecher war auch dort nicht zu finden, auch im Scheibenhof nicht. Da er aber noch im Lager war, gingen wir zu seiner Wohnung zurück mit dem Gedanken, er wird schon kommen.
Von Onkel Bernhard hatten wir bisher noch nichts erfahren. Wir schafften die Räder und den Schlitten in den Keller und das ganze Gepäck nach oben. Dort räumten wir erst einmal auf. Mutti fing an zu heizen. Mit einmal kam der Zahlmeister Knoch zur Tür herein. Er war erstaunt, uns dort vorzufinden. Auch er versuchte noch einmal, Stürzebecher telefonisch zu erreichen. Er hatte Glück. Stürzebecher sagte, wir sollten uns erst einmal aufwärmen. Zum ersten Mal konnten wir unsere nassen Strümpfe und Schuhe ausziehen und trocknen.
Dann kam Stürzebecher. Nun erst erfuhren wir, daß wir auch in Wandern nicht lange bleiben konnten. In der Nacht vorher waren schon 2 russische Panzer beim nahen Narviklager abgeschossen worden.
Bei Groß Kirschbaum sollten Panzer und Infanterie der Russen aufgefahren sein. Aber diese eine Nacht sollten wir erst einmal dort bleiben. Nach ein paar Stunden Schlaf fühlten wir uns wohler. Stürzebecher hatte für uns eine Fahrgelegenheit besorgt. Eine Wagenkolonne sollte in der Nacht bis Frankfurt/Oder gebracht werden. Diese sollte uns mitnehmen. Abfahrt 1 Uhr nachts.
Nachdem wir unser Gepäck verkleinert hatten, für jeden nur so viel, wie er tragen konnte, tranken wir noch einen „Seehund“, den uns Stürzebecher spendierte hatte. Um 24 Uhr machten wir uns auf den Weg ins Narviklager.


31. Januar 1945
Gegen 1 Uhr kamen wir dort an. Da hörten wir, daß der erste Wagen schon weg war. Der Fahrer war einfach früher losgefahren. Wir hatten den Wagen getroffen. Der nächste Wagen sollte am Morgen fahren. So mußten wir bis zum Morgen warten.
Im Büro des Dienststellenleiters wurde für uns geheizt. Dann saßen wir in bequemen Sesseln und warteten. Wenn Stürzebecher das gewußt hätte. Gegen 7 Uhr früh sollten die anderen Wagen losfahren. Endlich, nach Überwindung von einigen Hindernissen, wie Benzin tanken und kleinen Pannen konnten wir um 8 Uhr starten Unsere Fahrt ging durch Zielenzig und Drossen. Auf der Fahrt nahmen wir noch einige Flaksoldaten mit, die nach rückwärts wollten.
In Drossen wurden sie von der Feldgendarmerie aus dem Wagen geholt. Die Soldaten kamen aus Meseritz. Sie erzählten, sie seien in der Woche zuvor in Berlin neu zusammengestellt und mit 15 neuen Flakgeschützen ausgerüstet worden. Sie sollten die Stellung bei Meseritz beziehen. Nach Abgabe von einigen Schüssen bekamen sie den Befehl, die Geschütze und die Munition zu sprengen und zurück zu gehen. Wie der Soldat selbst sagte, wenn sie alle Munition verschossen hätten, wäre nie ein Russe nach Meseritz hereingekommen.

Als wir etwa 5 km hinter Drossen waren, streikte unser Wagen wieder. Nach Aussage unserer Fahrer, es waren Holländer, war der Sprit alle. Wir standen in der Mitte der Straße. Der Fahrer tröstete uns mit der Mitteilung, daß noch die anderen Wagen der Kolonne kommen müssen, und daß da ein Wagen dabei ist, der noch genügend Sprit hat. Es hieß also wieder warten. Der Wagen stand auf der Mitte eines langen Berges. Es herrschte weiterhin ein starker Wind und in unserem Kübelwagen zog es mächtig. Die Zeit verging. Treck auf Treck zog an uns vorüber. Einmal war Dr. Vincent dabei.

Wieder kam ein langer Treck an. Auf einem der ersten Wagen saßen Tante Grete und Traute. Es war der Treck aus Kainscht und Regenwurmlager. Sie hatten ihn in Tempel getroffen. Da für uns wieder kein Platz war, wollten wir uns am anderen Morgen in Frankfurt treffen. Wir warteten weiter. Es war noch immer kein Wagen vom Fuhrpark Wandern gekommen. Wir wurden unruhig. Mit jeder Stunde, die wir warteten, kamen die Russen näher. Wir standen nun schon seit etwa 10 Uhr. Um 16 Uhr machten wir uns auf, um zu Fuß weiterzuziehen. Unser Gepäck nahmen wir mit.
Wir waren alle sehr durchgefroren und mußten uns erst wieder an das Laufen gewöhnen. Wir gingen bis zum Dunkelwerden etwa 8 km. Als wir in Zerbow ankamen, waren wir mit unseren Kräften am Ende. Das Gepäck hatte uns zu Boden gedrückt.
In der Lehrerwohnung des Dorfes fanden wir wieder ein Unterkommen. Das ganze Schulhaus war belegt. Im Dorf waren mehrere Trecks untergekommen. Husemanns aus Meseritz waren auch da.

1. Februar 1945
Gegen Morgen, es war etwa 1/2 4 Uhr, wurde der Lehrer herausgeklopft: „Fertig machen, aber Abmarschbefehl abwarten!“ Wieder mußten wir los, die Russen an den Fersen. Als wir raus auf die Straße kamen, regnete es. Es war vorbei mit dem Winterwetter.
Der Lehrer hatte uns einen Schlitten gegeben, auf dem wir unsere Rucksäcke und die Decken unterbringen konnten. So zogen wir um 4 Uhr morgens los. Es war noch stockfinster. Keine Menschenseele zu sehen oder zu hören In dem Dorf war man noch nicht aufgebrochen. Spiegelglatt war die Straße und wir sind oft ausgerutscht. Bis Frankfurt waren noch 18 km. Dadurch, daß wir unser Gepäck nicht zu tragen brauchten, kamen wir ganz gut voran. Gegen 9 Uhr waren wir in Kunersdorf. Die Wegeverhältnisse waren immer schlechter geworden. Der Schnee hörte ganz auf.
In einem Haus bekamen wir Kaffee und sogar Brot. Wir hatten ungefähr 12 km hinter uns. In Kunersdorf wimmelte es von Soldaten. Als wir noch beim Kaffee saßen, kam ein Soldat, der für Quartier sorgte. Wir kamen ins Gespräch. Als wir ihn fragten, ob es nicht eine Mitfahrmöglichkeit bis Frankfurt gäbe, sagte er, er wolle mal sehen, was sich machen ließe. Er würde uns Bescheid sagen. Vor uns zeigte sich ein Hoffnungsschimmer. Aber wir wagten nicht, daran zu glauben. Nach einiger Zeit kam er wieder und brachte einen Soldaten mit, der uns mit seinem Gespann bis Frankfurt mitnehmen sollte. Wir waren überglücklich. In der Zwischenzeit waren Panzer und Sturrmgeschütze auf der Straße nach vorn gefahren. Wir hatten die Hoffnung, daß diese die an stürmenden Russen aufhalten würden.Nachdem der Soldat seine Pferde gefüttert hatte, ging es los nach Frankfurt/Oder. Es fuhren drei Wagen: auf dem ersten saß ich, auf dem zweiten Mutter und Tante Ella. Wir mußten hintenherum fahren, weil die Hauptstraße für Pferdewagen gesperrt war. Am Stadtrand von Frankfurt waren Soldaten dabei, ihre Geschütze in Stellung zu bringen. Ein unheimlicher Verkehr herrschte in der Stadt. Die Soldaten brachten uns sogar bis zum Bahnhof. Dort war ein Betrieb wie auf den Berliner Fernbahnhöfen zur Ferienzeit. In den Wartesälen saßen nur Frauen und Kinder. Von Sckerls keine Spur. Es war inzwischen auch schon 11 Uhr durch. Wir setzten Tante Ella mit dem Gepäck in den Wartesaal. Mutter und ich stellten uns nach Fahrkarten an.

Als wir etwa eine halbe Stunde gewartet hatten, erschien auf einmal Traute. Sie suchte uns schon. Die „Regenwürmer“ standen alle auf dem Bahnhofsplatz. Für diese wurde ein gemeinsamer Fahrbefehl nach Berlin ausgestellt. Durch die Vermittlung von Tante Grete wurden wir drei noch mit dazu geschrieben. Wir bekamen sogar noch Marschverpflegung. Gegen 14 Uhr sollte ein Zug nach Berlin gehen.
Um 16 Uhr standen wir noch auf dem Bahnsteig. Gegen 17 Uhr erschien ein Zug, der uns nach Berlin bringen sollte. Wir haben zum Glück noch Platz bekommen. Es sind nicht alle mitgekommen. Es fuhren schon zu wenige Züge nach Berlin. In unserem Abteil konnte sich niemand rühren, so voll war es. Gegen 23 Uhr waren wir in Berlin. Auf dem Bahnhof wurden die Flüchtlinge von Frauen der NSV in Empfang genommen. Auffanglager war im „Plaza“ (Varieté) in der Nähe des Schlesischen Bahnhofs.

Dort gab es Verpflegung. Frauen und Kinder konnten im nächsten Bunker schlafen gehen, die anderen Erwachsenen in einer benachbarten Schule. Bis wir uns wieder einigermaßen aufgefrischt hatten und unsere RücksaÅNcke und Koffer in der Gepäckabgabe verstaut hatten, verging einige Zeit.
Wir mußten unsere Personalien in der Anmeldung angeben, damit wir in der Anwesenheitsliste erscheinen. Wir gaben noch Vermißtenmeldungen für Vati, Onkel Bernhard, Onkel Otto und Oma auf.

2. Februar 1945
Gegen 2 Uhr waren wir soweit, daß wir auch schlafen gehen konnten. In der Schule waren in den Klassenzimmern Holzbetten aufgestellt, je 2 übereinander, mit Strohsäcken und je einer Decke. In diesen Räumen schlief alles bunt durcheinander.
In unserem Raum schliefen noch etwa 15 Volksdeutsche aus dem Osten, alles Männer. Deutsch sprechen konnten sie nicht. Wir waren kaum eingeschlafen, da gab es gegen 4 Uhr Fliegeralarm. Also, alles fertig machen und in den Keller. Wir schliefen im 4. Stock. Als Luftschutz-Raum war für Flüchtlinge ein Kellergang vorgesehen, durch den sämtliche Leitungsrohre führten. Sitzgelegenheiten waren nicht vorhanden. Ein „idealer LSRaum“! Die eigentlichen LS-Räume waren von kleinen Kindern belegt, die dort schliefen.
Der Alarm dauerte nicht lange. Nach einer halben bis dreiviertel Stunde gingen wir wieder nach oben und legten uns nochmal hin. Um 8 Uhr gingen wir wieder zum Plaza zurück.
Nach dem Kaffeetrinken machten wir uns auf den Weg zu Reichelts. Unser aller Hoffnung war, daß Onkel Bernhard dort eingetroffen war. Und richtig, er war von Wandern mit der Bahn nach Berlin gefahren. Er hatte sich um uns sehr viele Sorgen gemacht, er glaubte nicht, daß er uns noch einmal wiedersehen würden.
Bei Reichelts wurden wir sehr herzlich aufgenommen. Dort frischten wir uns erst einmal auf. Nach dem Essen legten wir uns hin, um unsere müden Glieder auszuruhen.
Am Nachmittag gingen wir zur Post und gaben Telegramme an Muschi, Onkel Alfred und Friedel auf. Am Abend waren wir gerade mit dem Essen fertig, als es wieder Fliegeralarm gab. Das hatte uns noch gefehlt.
Wir nahmen unsere restliche Habe und gingen in einen LS-Raum, der gegenüber lag. Der LS-Raum gehörte zum Statistischen Reichsamt und war sehr gut ausgebaut. Ein 150% Nationalsozialist kam uns sehr pampig, weil er glaubte, wir wollten ihm seinen Platz wegnehmen. Der Alarm dauerte Gottseidank nicht lange und wir konnten nach einer dreiviertel Stunde wieder in die Wohnung von Reichelts zurück.

Mit dem Schlafen war es nicht so einfach, weil Reichelts nur noch ein Zimmer und die Küche hatten. Wir waren zusammen 10 Personen. Wir 6 Flüchtlinge schliefen im Zimmer, immer je 2 in einem Bett.
Margot, die Tochter von Reichelts mit ihrer Tochter schlief in der Küche im Bett und Reichelts schlugen sich in der Küche auf dem Boden ein Nachtlager auf.
Für diese eine Nacht ging es ja und am anderen Tag wollten wir weiter, wohin war uns noch nicht ganz klar. Wir schliefen also ganz gut und wurden nicht vom Alarm geweckt.

3. Februar 1945
Den nächsten Tag haben wir wie durch ein Wunder überlebt. Gegen 10 Uhr morgens gab es wieder Alarm. Diesmal gingen wir in den Keller, der zum Haus gehörte. Ein kleiner Keller, wohl ganz unter Erdgleiche, aber nicht abgestützt.
Die anschließenden Kellerräume waren vollgepackt mit Waren und Sachen, die die Bewohner des Hauses dort untergebracht hatten. Der Alarm dauerte etwa 2 Stunden. Was sich in diesen 2 Stunden abgespielt hat, läßt sich kaum beschreiben. Wir waren gerade unten angelangt, als der „Tanz“ losging. Kampfverband über Kampfverband alliierter Bomber kamen geflogen, wir konnten es deutlich hören. Dazwischen das Orgeln und Brausen der herabsausenden Bomben.

Gleich beim ersten Schlag setzte das Licht aus. Es war ein furchtbarer Schlag, der Keller bebte und ein Luftzug warf die Tür zu. Wir machten die Notbeleuchtung – die Kerzen – an. Der Luftzug ließ die Kerzenflammen nicht zur Ruhe kommen. Es folgten weitere schwere Schläge. Die Luft im Keller war schlecht, weil sich durch die schweren Erschütterungen der Staub von den Wänden gelöst hatte. In einer kleinen Angriffspause gingen Männer nach draußen, um zu sehen , was los war. Sie wurden aber durch erneut anfliegende Verbände wieder in den Keller zurückgejagt.
Unser Haus stand noch. Das Nachbarhaus hatte einen Volltreffer erhalten.
Gegenüber im großen Eckhaus brannte es von unten bis oben. Dort war ein Magazin der Wehrmacht in dem unteren Stockwerk untergebracht, im anderen ein Warenlager.
Alles brannte aus. Die Angriffe nahmen fast kein Ende. Immer neue Verbände flogen an. Die Erde bebte. Wir glaubten, das Haus stürze über unserem Keller zusammen. Gegen 12 Uhr wurde es ruhiger. Als Entwarnung gegeben wurde, gingen erst die Männer nach oben, um zu sehen, was passiert war. Die ganze Kellertreppe lag voll Schutt und Glassplitter. In den Fenstern zum Hof waren fast überall die Scheiben raus. Sonst stand unser Haus noch. Bei Reichelts in der Wohnung sah es schlimm aus.
In den Küchenfenstern waren keine Scheiben mehr und die Fenster zur Straße waren mit den Rahmen herausgerissen. Die Wand zwischen Küche und Wohnzimmer war zum Teil eingefallen. Unser Mittagessen, es sollte Hühnerbrühe geben, stand aber noch auf dem Herd. Die Suppe war sogar noch warm. Wenn man aus den Fenstern schaute, sah man glutrote Brände lodern. Der vorher so klare blaue Himmel bezog sich mit dicken schwarzen Rauchwolken und ein mächtiger Sturm kam auf.
Oben in der Wohnung zog es mächtig. Wir rafften alles, was uns gehörte, zusammen und gingen in die Wohnung im Vorderhaus, die den Leuten gehörte, bei denen Onkel Richard beschäftigt war. Dort waren zwar zur Straße hin auch keine Scheiben mehr in den Fenstern, aber es war doch nicht ganz so zugig.

Das Eckhaus gegenüber brannte immer noch. Im Stehen verzehrten wir unser Mittag, jeder hatte eine Tasse Brühe und ein Stück kaltes Huhn. Draußen wurde es immer dunkler. Von der Innenstadt wälzten sich dichte Rauchwolken heran. Unten im Keller machten wir uns wieder reisefertig. Uns beseelte nur ein Gedanke raus aus Berlin! Es wurde noch das Gepäck von Sckerl umgepackt, weil Tante Grete nicht alles tragen konnte. Traute war am frühen Morgen mit dem Hund nach Rathenow gefahren, um ihn dort bei Dorle abzugeben. Sie hatte von diesem Angriff also nichts abbekommen.
Tanten Anna und Margot konnten auch nicht in der Wohnung bleiben. Und noch einen Angriff in dieser Mausefalle von Keller mitzumachen, war für uns unmöglich. Gegen 4 Uhr waren wir endlich so weit, daß wir abrücken konnten. Onkel Richard blieb im Haus zurück.

Auf einigen Umwegen kamen wir bis zum U-Bahnhof Alexanderplatz. Am liebsten wären wir hier alle sofort nach Potsdam gefahren, aber das U-Bahnnetz war zum größten Teil gesperrt. Ein Herauskommen mit der Bahn war also nicht möglich. Nach einigem Hin und Her beschlossen wir, im untersten Stock des U-Bahnhofs zu bleiben. Wir waren dort nicht die einzigen.
Gegen Abend füllte sich der Bahnhof immer mehr mit Ausgebombten, die kein Zuhause mehr hatten, oder mit solchen Menschen, die einen weiteren Angriff nicht in ihrem Keller erleben wollten. Es war dort unten mächtig kalt und zugig. Gegen 7 Uhr abends kam Margot auf den Gedanken, im benachbarten LS-Bunker (Luftschutzraum) nachzusehen, ob dieser geöffnet war. Und tatsächlich, dieser war offen und eine ganze Anzahl von Personen hatte dort ein Unterkommen gefunden. Wir waren dort gerade zur rechten Zeit angekommen und jeder erhielt noch einen Sitzplatz.
Der Bunker war unterirdisch und sehr gut gebaut. Wir alle hatten das Gefühl einer absoluten Sicherheit. Ein endloser langer Gang verband die einzelnen Räume miteinander. Es dauerte gar nicht lange, da füllte sich der Bunker. Es waren feindliche Verbände vom Westen her gemeldet worden. Ein furchtbarer Andrang setzte ein. In den einzelnen Räumen wurde es so voll, daß sich kein Mensch mehr rühren konnte. Ein Glück, daß es keinen Alarm gab.
Nach einiger Zeit hieß es, daß die Verbände wieder abgeflogen seien. Im Bunker durften nur noch Ausgebombte und Flüchtlinge verbleiben, alle übrigen mußten nach Hause. Allmählich wurde es wieder etwas leerer, aber die einzelnen Räume waren immer noch voll. Aus den herumschwirrenden Reden konnte man sich ein kleines Bild über die entstandenen Schäden machen. Hauptsächlich war die Innenstadt getroffen. Es gab Bezirke, in die kein Mensch hinein konnte, weil da Flächenbrände und Feuerstürme herrschten. Es war furchtbar. So verbrachten wir die Nacht. An Schlafen war nicht viel zu denken.

4. Februar 1945
Am anderen Morgen machten sich Mutter und Onkel Bernhard auf, um zu versuchen bis zum Schlesischen Bahnhof und von dort zur Plaza zu kommen. Es gab tatsächlich einen Weg dorthin.
Das Gebäude stand noch, nur wickelte sich der Betrieb im Dunkeln ab, weil es ja kein Licht gab. Eine genaue Auskunft über Züge für Flüchtlinge konnte von dort nicht gegeben werden. Wir mußten also auf eigene Faust versuchen, aus Berlin herauszukommen.

In der Zwischenzeit waren wir auch einmal im Hochbunker, der am Schlesischen Bahnhof steht. Dort war es nicht so gut, wie in den anderen Bunkeranlagen, Licht und Luft waren sehr schlecht und die Menschen furchtbar nervös. Aber die Bomberverbände flogen wieder ab.
Nun gab es für uns kein Halten mehr. An der Plaza fanden wir einen Lkw, der uns bis zum Lehrter Bahnhof brachte. Die Fahrt führte im großen Bogen um die Innenstadt Berlin, weil dort noch alles brannte und der Stadtteil gesperrt war. Auf dem Lehrter Bahnhof war Hochbetrieb. Wir erkundigten uns beim Fahrdienstleiter, ob irgend ein Zug für Flüchtlinge fährt. Er gab uns die erlösende Antwort, daß gerade auf dem Güterbahnhof ein Zug zusammengestellt würde. Also auf zum Güterbahnhof. Der Weg dorthin war ziemlich weit und wir konnten kaum noch unser bißchen Gepäck schleppen.
Da kam als rettender Engel eine Angestellte der Reichsbahm mit einem Gepäckwagen. Sie sah, daß wir nicht mehr konnten, drehte um und half uns. Der Zug war schon fast besetzt, aber wir fanden noch jeder einen Sitzplatz. Gegen 14 Uhr sollte der Zug abfahren. Das Reiseziel stand nocht nicht fest, das war uns gleich, bloß raus aus Berlin.

Gegen 16 Uhr setzte sich der Zug in Bewegung. Sämtliche Wagen waren bis auf den letzten Platz gefüllt. Viele Fenster hatten keine Scheiben, unser Wagen hatte glücklicherweise Scheiben. Kurz vor Abfahrt des Zuges wurde das Reiseziel bekanntgegeben: zuerst Rotenburg an der Wümme, dann Bremervörde, auch das schien nicht sicher — doch so weit wollten wir gar nicht, wir wollten doch wieder nach Meseritz zurück. Unsere Fahrt ging pausenlos vonstatten. Wir fuhren über Stendal, Uelzen, Rotenburg. Dort stiegen schon die ersten Flüchtlinge aus, um mit anderen Zügen weiterzufahren. Wir fuhren weiter ins Ungewisse hinein.

5. Februar 1945
Wir landeten gegen 2 Uhr nachts in der Norddeutschen Tiefebene zwischen Hamburg und Bremen in Zeven. Dort hieß es, alles aussteigen. Schweres Gepäck sollte im Zug bleiben. Wir gingen also zu Fuß in die Stadt, dort sollte es eine warme Mahlzeit geben und in der Schule konnten wir bis zu Weiterfahrt des Zuges schlafen.
In einem sehr netten Lokal „Klosterschänke“ waren im Saal die Tische weiß gedeckt. Für die Kinder gab es Griessuppe und für die Erwachsenen einen Gemüseeintopf. Es schmeckte herrlich.
Die NS-Frauenschaft war dort auf der Höhe, dabei hatten sie erst ein paar Stunden vorher erfahren, daß ein Transport ankommt.
Nach dem Essen gingen wir alle zur Schule, wo wir auf frischem Stroh ein paar Stunden schlafen konnten. Um 8 Uhr gab es in der „Klosterschänke“ Kaffee. Dann gingen wir alle zum Nordbahnhof, wo wir unseren Zug erwarteten. Auf der nächsten Station in Heeslingen mußten wir alle raus. Dort standen schon Fuhrwerke bereit, die uns auf die nächsten Dörfer verteilen sollten.

So kamen wir nach 8 Tagen in unserem Bestimmungsort Steddorf an. Auf einem Bauernhof stiegen wir alle ab und es ging an die Quartierverteilung. Leider konnten wir nicht alle zusammenbleiben. Da Tante Grete mit den Nerven am Ende war, konnten wir sie nicht allein in ein Quartier geben. So kamen Mutti und Tante Grete zu Bauer M., Tante Ella und Onkel Bernhard zogen in die Gastwirtschaft.
Ich wurde von Oma T. aufgenommen und hatte gleich von Anfang an das beste Quartier, eine Stube mit besonderem Eingang, mit Sofa und Tisch und Stühlen. Ich wurde gleich von der Familie aufgenommen, alle waren sehr nett zu mir. Auch in den anderen Quartieren war es gut. Wir sind die ersten Flüchtlinge im Dorf. Hoffentlich können wir bald in die Heimat zurück!



Mit Briefen und Bildern wollen wir im Jahr 2015 an die Zeit vor 70 Jahren erinnern, eine Zeit, in der wir noch Kinder waren. Sie dürfen nach so langer Zeit mit Zustimmung ihrer Schreiber und Empfänger, mit gebührender Achtung und im Interesse unserer Geschichte veröffentlicht werden. Durch ihre Nähe zu den Ereignissen sind sie für uns unübertroffene Zeitzeugen. Wir danken unseren Heimatfreunden dafür, daß sie uns ihre wertvollen Zeitzeugnisse zur Verfügung stellen.