ZUM GEDENKEN
Abschied von Inge Deutschkron, Zeitzeugin und Nachkommin von Betscher Juden –
geboren am 23. August 1922 - verstorben am 9. März 2022

Inge DeutschkronEs ist ein seit langem geäußertes Faktum: Die Erlebnis- und Zeitzeugen der Weltkriegsgeneration treten ab. Die beiden Weltkriege zerstörten viele Lebenswelten und damit auch jahrhundertealte Lebensgemeinschaften und die Erinnerungen daran.

Am 9. März 2022 starb in Berlin die deutsch–israelische Journalistin und Autorin Inge Deutschkron im Alter von fast 100 Jahren. In diesem Jahrhundert hat sie viel Schreckliches erleiden müssen, aber nicht dafür würdigte sie die Welt, daß sie Opfer und Zeitzeugin des Holocaust, dem Völkermord an den Juden war, sondern, daß sie bis zuletzt gegen die Wurzel des Übels, gegen Rassismus, Ausgrenzung und Antisemitismus kämpfte und anschrieb.
Im Holocaust hat sie viele Familienangehörige verloren. Sie konnte nicht fliehen, aber sie überlebte die ungeheuerlichen Gewaltakte und Verbrechen der Nationalsozialisten und den Krieg. Erst 1946 konnte sie mit ihrer Mutter Deutschland verlassen und sie gingen zu ihrem Vater, der seit Anfang 1939 in England lebte. Es war ihm nicht mehr gelungen, seine Familie nachzuholen.

Nach einer großen Reise durch Südasien (nach Indien, Birma, Nepal und Indonesien) im Jahr 1954 kehrte sie 1955 nach Deutschland zurück und arbeitete als freie Journalistin in Bonn. Seit 1958 war sie Korrespondentin für die israelische Tageszeitung Maariw. 1966 erhielt sie die israelische Staatsbürgerschaft, aber sie blieb in West- Deutschland.
Ihr Arbeitsfeld war damals die internationale Politik und die des Nahen Ostens. Bis 1988 arbeitete sie als Redakteurin für Maariw. Aus Verärgerung über den wieder aufflammenden Antisemitismus in der deutschen Politik, wie sie es sah, und die aus ihrer Sicht antiisraelische Haltung der 68er-Bewegung zog sie 1972 nach Tel Aviv. Sie blieb publizistisch tätig und schrieb ihre Autobiographie mit dem Titel „Ich trug den gelben Stern“, die sie nach der Veröffentlichung im Jahr 1978 berühmt machte.

Als Adaption ihrer Autobiographie schrieb sie das Theaterstück „Ab heute heißt du Sara“. Um diese umzusetzen kehrte sie im Dezember 1988 nach Deutschland, nach Berlin, zurück. Ab 1992 lebte sie als freie Schriftstellerin in Tel Aviv und Berlin, seit 2001 ganz in Berlin.
Sie setzte sich sehr für die sog. „Stillen Helden“ (Menschen, die Juden gerettet haben) ein und trachtete danach ihnen eine Würdigung durch den deutschen Staat zu verschaffen. Auf ihre Initiative wurde der Förderverein Blindes Vertrauen gegründet, dessen Vorsitzende sie war.
Am 6. Oktober 2006 gründete Inge Deutschkron die Inge Deutschkron-Stiftung, die die Erinnerung an die Frauen und Männer wachhalten soll, die im Widerstand gegen den Nationalsozialismus standen, die die Auseinandersetzung der Deutschen mit diesem Teil der Geschichte fördern und ein Aufkeimen und Wiederaufleben rechtsradikaler Tendenzen verhindern.
Inge Deutschkron erfuhr zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, u. a. 2018 die Ehrenbürgerwürde der Stadt Berlin. Am 30. Januar 2013 hielt sie im Deutschen Bundestag die Rede anläßlich der Gedenkstunde zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus.

Wurzeln in Betsche
Auch im Heimatgruß wurde bereits über sie berichtet: Im Herbst 2015 besuchte Inge Deutschkron das heute polnische Pszczew (Betsche) mit Vertretern ihrer Stiftung. Im Betscher Kulturhaus wurde ihr Theaterstück aufgeführt. Wanda Strozczynska berichtete anschließend im Heimatgruß über diesen Besuch.
Ihr Besuch hatte aber noch weitergehende Bedeutung für sie, denn Inge Deutschkron befand sich quasi auf den Spuren ihrer Ahnen. So mancher wird es schon beim Lesen ihres Namens geahnt haben, daß ihre Familie aus dem Osten stammt. Viele Juden benannten sich nach den Orten, aus denen sie zum Zeitpunkt der Namensbildung stammten. Hier war des Deutsch Krone (WaB´cz) in Westpreußen, das bis zum 18. Jahrhundert zu Wielkopolska (Großpolen, das Posener Land) gehörte.

Inge Deutschkron wurde am 23. August 1922 als Tochter von Ella und Dr. Martin Deutschkron in Finsterwalde geboren, wohin sein Vater aus beruflichen Gründen gezogen war. Er war Doktor der Soziologie und ein bekannter Aktivist der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Er hatte den Beruf des Gymnasiallehrers ergriffen und war Oberstudienrat für Latein, Griechisch und Französisch. Er stammte jedoch aus Betsche, wo sein Vater Simon Deutschkron ein anerkannter Kaufmann war.
Im Jahr 1927 zog die Familie nach Berlin. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Dr. Deutschkron im April 1933 als SPD-Mitglied wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aus dem Schuldienst entlassen. Erst damals erfuhr Tochter Inge, daß sie Jüdin war.
Martin Deutschkron unterrichtete danach an der zionistischen Theodor-Herzl-Schule Berlin. Als absehbar wurde, daß es für die Existenz der Familie in Deutschland zu gefährlich wurde, gelang es ihm mit Hilfe einer Kusine und einer hohen Kaution ein Visum für Großbritannien zu bekommen, aber wie schon gesagt schaffte er es nicht mehr, seine Familie nachzuholen.
Frau und Tochter mußten in Berlin bleiben und, seit Januar 1943 illegal in Berlin lebend, konnten sie nur dank der Hilfe von nichtjüdischen Freunden überleben und sogar noch für die linkssozialistische Widerstandsgruppe Roter Stoßtrupp tätig werden.

Die Familie Deutschkron läßt sich bis zu einem Simon Juda Deutschkron (1737-1817), Sohn eines Juda, mit zahlreichen Zweigen von Nachkommen zurückverfolgen. Bis zur zweiten Teilung Polen-Litauens befand sich die Stadt Betsche im Besitz des Posener Bischofs, der die Anwesenheit von Juden und Evangelischen in seiner Stadt verbot. Dennoch ist aus dem Standardwerk von Heppner und Herzberg zum Posener Judentum davon auszugehen, daß bereits damals Juden seit Mitte des 18. Jahrhunderts in der Stadt lebten, auch die preußische Volkszählung (Indaganda – ein Fragebogen mit 82 Fragen zu religiösen, demographischen, vermögensrechtlichen Verhältnissen usw.) von 1793 keine Juden in Betsche erwähnt.
Im Jahre 1808 waren bereits zehn Prozent der Einwohner in Betsche Juden (98 E.). Die Gemeinde entwickelte sich gut und wuchs um eine Synagoge, einen Friedhof und eine Schule. Berüchtigt wurden die Betscher Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Sitz einer weitverzweigten Diebes-, Betrüger- und Hehlerbande. An diesen Vorgängen waren aber alle Stände und Klassen von Betsche beteiligt und profitierten davon. Die Polizei ließ 1832 den Diebes- und Hehlerring hochgehen.
Über diese Aktion schrieb der Berliner Polizist A. F. Thiele in seinem Buch „Die jüdischen Gauner in Deutschland“ nieder und deckte das kriminelle Leben der Juden aus dem westlichen Großpolen auf. Diese Vorgänge wurden in der antisemitischen Propaganda der 1930er Jahre wieder verwandt.
Diese Vergangenheit wurde den Juden überall angelastet, obwohl die meisten anständige, hart arbeitende preußische Bürger waren. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert wanderten viele Juden u. a. Bürger aus Betsche aus, um in den Industriestädten im Westen ihre Existenz zu finden oder gar weiter nach Amerika auszuwandern. Bekannte jüdische Betscher Familien waren neben den Deutschkron die Familien Bernstein, Fleischer, Gumpert, Heydenmann, Hillel-Lewitz, Koschke, Mellhaus, Pinkus, Pinner, Posner, Rychwalski, Schlesinger und Treitel.

Dr. Martin Sprungala