Am 9. März 2022 starb in Berlin die deutschisraelische Journalistin und Autorin Inge Deutschkron im Alter von fast 100 Jahren. In diesem Jahrhundert hat sie viel Schreckliches erleiden müssen, aber nicht dafür würdigte sie die Welt, daß sie Opfer und Zeitzeugin des Holocaust, dem Völkermord an den Juden war, sondern, daß sie bis zuletzt gegen die Wurzel des Übels, gegen Rassismus, Ausgrenzung und Antisemitismus kämpfte und anschrieb.
Im Holocaust hat sie viele Familienangehörige
verloren. Sie konnte nicht fliehen, aber sie überlebte
die ungeheuerlichen Gewaltakte und Verbrechen
der Nationalsozialisten und den Krieg.
Erst 1946 konnte sie mit ihrer Mutter Deutschland
verlassen und sie gingen zu ihrem Vater, der
seit Anfang 1939 in England lebte. Es war ihm
nicht mehr gelungen, seine Familie nachzuholen.
Nach einer großen Reise durch Südasien (nach
Indien, Birma, Nepal und Indonesien) im Jahr
1954 kehrte sie 1955 nach Deutschland zurück
und arbeitete als freie Journalistin in Bonn. Seit
1958 war sie Korrespondentin für die israelische
Tageszeitung Maariw. 1966 erhielt sie die israelische
Staatsbürgerschaft, aber sie blieb in West-
Deutschland.
Ihr Arbeitsfeld war damals die internationale Politik und die des Nahen Ostens. Bis 1988 arbeitete sie als Redakteurin für Maariw. Aus Verärgerung über den wieder aufflammenden Antisemitismus in der deutschen Politik, wie sie es sah, und die aus ihrer Sicht antiisraelische Haltung der 68er-Bewegung zog sie 1972 nach Tel Aviv. Sie blieb publizistisch tätig und schrieb ihre Autobiographie mit dem Titel „Ich trug den gelben Stern“, die sie nach der Veröffentlichung im Jahr 1978 berühmt machte.
Als Adaption ihrer Autobiographie schrieb sie
das Theaterstück „Ab heute heißt du Sara“. Um
diese umzusetzen kehrte sie im Dezember 1988
nach Deutschland, nach Berlin, zurück. Ab 1992
lebte sie als freie Schriftstellerin in Tel Aviv und
Berlin, seit 2001 ganz in Berlin.
Sie setzte sich sehr für die sog. „Stillen Helden“
(Menschen, die Juden gerettet haben) ein
und trachtete danach ihnen eine Würdigung durch
den deutschen Staat zu verschaffen. Auf ihre Initiative
wurde der Förderverein Blindes Vertrauen
gegründet, dessen Vorsitzende sie war.
Am 6. Oktober 2006 gründete Inge Deutschkron die Inge Deutschkron-Stiftung, die die Erinnerung an die Frauen und Männer wachhalten soll, die im Widerstand gegen den Nationalsozialismus standen, die die Auseinandersetzung der Deutschen mit diesem Teil der Geschichte fördern und ein Aufkeimen und Wiederaufleben rechtsradikaler Tendenzen verhindern.
Inge Deutschkron erfuhr zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, u. a. 2018 die Ehrenbürgerwürde der Stadt Berlin. Am 30. Januar 2013 hielt sie im Deutschen Bundestag die Rede anläßlich der Gedenkstunde zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus.
Wurzeln in Betsche
Auch im Heimatgruß wurde bereits über sie berichtet: Im Herbst 2015 besuchte Inge Deutschkron das heute polnische Pszczew (Betsche) mit Vertretern ihrer Stiftung. Im Betscher Kulturhaus wurde ihr Theaterstück aufgeführt. Wanda Strozczynska berichtete anschließend im Heimatgruß über diesen Besuch.
Ihr Besuch hatte aber noch weitergehende Bedeutung
für sie, denn Inge Deutschkron befand
sich quasi auf den Spuren ihrer Ahnen. So mancher
wird es schon beim Lesen ihres Namens
geahnt haben, daß ihre Familie aus dem Osten
stammt. Viele Juden benannten sich nach den
Orten, aus denen sie zum Zeitpunkt der Namensbildung
stammten. Hier war des Deutsch Krone
(WaB´cz) in Westpreußen, das bis zum 18. Jahrhundert
zu Wielkopolska (Großpolen, das Posener
Land) gehörte.
Inge Deutschkron wurde am 23. August 1922
als Tochter von Ella und Dr. Martin Deutschkron
in Finsterwalde geboren, wohin sein Vater aus beruflichen
Gründen gezogen war. Er war Doktor der
Soziologie und ein bekannter Aktivist der Sozialdemokratischen
Partei Deutschlands (SPD). Er
hatte den Beruf des Gymnasiallehrers ergriffen
und war Oberstudienrat für Latein, Griechisch und
Französisch. Er stammte jedoch aus Betsche, wo
sein Vater Simon Deutschkron ein anerkannter
Kaufmann war.
Im Jahr 1927 zog die Familie nach Berlin. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Dr. Deutschkron im April 1933 als SPD-Mitglied wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aus dem Schuldienst entlassen. Erst damals erfuhr Tochter Inge, daß sie Jüdin war.
Martin Deutschkron unterrichtete danach an
der zionistischen Theodor-Herzl-Schule Berlin. Als
absehbar wurde, daß es für die Existenz der Familie
in Deutschland zu gefährlich wurde, gelang
es ihm mit Hilfe einer Kusine und einer hohen
Kaution ein Visum für Großbritannien zu bekommen,
aber wie schon gesagt schaffte er es nicht
mehr, seine Familie nachzuholen.
Frau und Tochter mußten in Berlin bleiben und,
seit Januar 1943 illegal in Berlin lebend, konnten
sie nur dank der Hilfe von nichtjüdischen Freunden
überleben und sogar noch für die linkssozialistische
Widerstandsgruppe Roter Stoßtrupp
tätig werden.
Die Familie Deutschkron läßt sich bis zu einem Simon Juda Deutschkron (1737-1817), Sohn eines Juda, mit zahlreichen Zweigen von Nachkommen zurückverfolgen. Bis zur zweiten Teilung Polen-Litauens befand sich die Stadt Betsche im Besitz des Posener Bischofs, der die Anwesenheit von Juden und Evangelischen in seiner Stadt verbot. Dennoch ist aus dem Standardwerk von Heppner und Herzberg zum Posener Judentum davon auszugehen, daß bereits damals Juden seit Mitte des 18. Jahrhunderts in der Stadt lebten, auch die preußische Volkszählung (Indaganda ein Fragebogen mit 82 Fragen zu religiösen, demographischen, vermögensrechtlichen Verhältnissen usw.) von 1793 keine Juden in Betsche erwähnt.
Im Jahre 1808 waren bereits zehn Prozent der Einwohner in Betsche Juden (98 E.). Die Gemeinde entwickelte sich gut und wuchs um eine Synagoge, einen Friedhof und eine Schule. Berüchtigt wurden die Betscher Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Sitz einer weitverzweigten Diebes-, Betrüger- und Hehlerbande. An diesen Vorgängen waren aber alle Stände und Klassen von Betsche beteiligt und profitierten davon. Die Polizei ließ 1832 den Diebes- und Hehlerring hochgehen.
Über diese Aktion schrieb der Berliner Polizist
A. F. Thiele in seinem Buch „Die jüdischen Gauner
in Deutschland“ nieder und deckte das kriminelle
Leben der Juden aus dem westlichen Großpolen
auf. Diese Vorgänge wurden in der antisemitischen
Propaganda der 1930er Jahre wieder
verwandt.
Diese Vergangenheit wurde den Juden überall
angelastet, obwohl die meisten anständige, hart
arbeitende preußische Bürger waren.
Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
bis ins 20. Jahrhundert wanderten viele Juden u.
a. Bürger aus Betsche aus, um in den Industriestädten
im Westen ihre Existenz zu finden oder
gar weiter nach Amerika auszuwandern.
Bekannte jüdische Betscher Familien waren neben
den Deutschkron die Familien Bernstein, Fleischer,
Gumpert, Heydenmann, Hillel-Lewitz,
Koschke, Mellhaus, Pinkus, Pinner, Posner,
Rychwalski, Schlesinger und Treitel.
Dr. Martin Sprungala
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