Die Flucht der Fischer von Mollards
von Albrecht Fischer v. Mollard

Teil 3: Nach der Flucht – Neubeginn westlich der Oder


Am 27. 09.1945 beging meine Mutter ihren 41. Geburtstag. Sie berichtet 3 Tage später ihren Eltern darüber und beginnt dabei mit einer Verlustmeldung:

Von unserem Pech mit Eurem Einschreibepäckchen schrieb ich ja schon. Wie gut hätte ich den Filz gebrauchen können, aber man soll sich fügen lernen und nicht hadern, also muß ich stille halten. Auch für die 20 RM, die vielleicht morgen kommen werden, danke ich recht sehr, aber ich bitte herzlich, macht jetzt keine Geschenke, wo Ihr doch selbst kaum noch Geld bekommt; man muß sich das Schenken abgewöhnen, es geht auch so. Eduard brachte mir eine Schachtel Sturmstreichhölzer, früher hätte man vielleicht die Nase gerümpft, jetzt ist es ein hochwillkommenes, kostbares Geschenk.
Meinen Geburtstag habe ich doch recht nett verlebt, trotzdem ich mich sehr vor dem Tage gegrault hatte. Auf Tante Oberins Kabinenkoffer war alles aufgebaut. Viel, viel Blumen bekam ich. Die Kinder, Tante Oberin und Anni sangen mir das Lied „Jesu, geh voran“.
An Geschenken bekam ich von Gerd eine hübsche Bastschale, es soll italienische Handarbeit sein, dann 2 Schachteln Hansaplast, eine Rolle Leukoplast, 100 g Zellstoff, 1 Mullbinde, 2 Dtz. Hosenknöpfe, ein Büchlein von August Winnig, 12 Postkarten und ein beklebtes Kästchen, in das ich meine Nähseide getan habe.
Mummi und Edeltraut hatten mir Gedichte aufgeschrieben, und auch auf die Postkarten, die mir die Kleinen schenkten, hatten sie Gedichte geschrieben. Adelhart schenkte mir ein Bild von Tirschtiegel, das auf Holz mit Bleistift gezeichnet war. Er wollte es mir eigentlich brennen und wollte es dazu aufgezeichnet haben; nun hat der Betreffende es aber so schön in Bleistift gezeichnet, daß man es nicht mehr brennen konnte.
Ekki hatte mir aus einem Stück Blech ein Schildchen mit „F v M“ gehämmert, das wir in den Kuchen stecken wollen, wenn der zum Bäcker muß; und dann hatte er gerade am Tage vorher einen Apfel und eine kleine Weintraube von Tante Nanny geschenkt bekommen, dies schenkte er mir auch noch.
Gegen 9 Uhr kam Schwesti (Cousine meines Vaters) mit vielen Päckchen an. Sie hatte alles sehr nett eingepackt und mit Blumen geschmückt. Von ihr bekam ich als Leihgabe einen Büchsenöffner, dann schenkte sie mir eine Tüte mit Haferflocken, sie schmecken schon etwas säuerlich, auch sind schon kleine Käfer darin, aber vielleicht können wir sie noch gebrauchen. Dann bekam ich noch einen Bleistift, ein Notizbuch, Reißstifte, Schampon und ein Vorhängeschloß.

Informationen aus der Heimat waren nach Ende des Krieges ebenso begehrt wie rar; ihr Inhalt war in der Regel traurig, oft grausam und wurde mündlich und/oder schriftlich an Verwandte und Bekannte weitergegeben, wobei ihr Wahrheitsgehalt nicht zu überprüfen war, sich jedoch in den meisten Fällen im Laufe der Zeit bestätigte. In den Briefen meiner Eltern sind mehrere Beispiele zu finden:
[09.09.1945] – Eben bekomme ich einen Brief von Frau Gilbrich, die eine Karte von ihrem Vater bekommen hat, der schreibt, „ ... am 27.6. mußten wir Deutsche die Heimat plötzlich verlassen, geführt wurden wir über Schierzig, Meseritz, Zilenzig, Drossen zur Oder ...“.
Also müssen alle Deutschen aus dem Gebiet heraus, ich hatte doch noch so gehofft, wir dürften mal wieder in die Heimat zurück ...

[06.10.] – ... Fritz hat einen Brief von Lydia Pöhlchen bekommen, sie erkundigte sich nach Inge
(Schwester meiner Mutter in Goslar) und läßt sie grüssen. Sie schreibt, daß Schloß, Rathaus, Goffrier und Prachs abgebrannt sind. Es bewegt mich trotzdem doch sehr. Sonst schreibt sie noch von Morden usw., das werde ich Euch im Brief schreiben ...

[07.10.] – ... Nun will ich nur noch schnell aus Lydia Pöhlchens Brief Einzelheiten schreiben. Es wird sicherlich schon 1/2 11 sein, alle sind schon zu Bett gegangen, es ist auch schon recht frisch in der Küche.
Sie schreibt: Am 29.I. mußten sie aus Meseritz raus; in ungeheizten Viehwagen sind sie bis Kyritz gekommen, dort sollten sie in der Umgegend verteilt werden; sie und ihre Schwester sind dann aber weiter nach Schleswig zu den Schwiegereltern ihrer Schwester gefahren. Die Nachrichten von Tirschtiegel stammen vom Kohlenhändler Titel, der von Sachsen kommend seine Verwandten in Berlin besucht hat und dann dies alles gehört hat.
Am 1.9. ist er in Schleswig angekommen.
Seifert (Polizei), Hans Tepper, Ernst Gürtel, Erich Meißner (Hirtenstr.), Kreisbauernführer Gödt sind gefallen. Böttcher König ist, als er seine Tochter vor den Russen schützen wollte, erwürgt worden. Frau Hirschfelder (Gasanstalt) hat sich aufgehängt, ebenso Frau Behrend (Postchauffeur), sie wollte, daß sich ihre Tochter die Pulsadern aufschneidet, was das Kind aber nicht tat. Frl. Bloch von der Molkerei ist ermordet worden.
Die Tochter von Thonke, Elli, (bildhübsch), ist von den Russen mitgenommen worden. Rathaus, Schloß, Goffriers Haus, Preuß abgebrannt. Goffrier ist gelähmt. Der alte Hämmerling und Rudolf sind gestorben.
Gastwirt Max Enderlein soll sich an Wodka totgetrunken haben. Erfreulich sind diese Nachrichten nicht. Christa Tetzlaff (Freundin meiner Mutter) schrieb mir, daß Bernd Sbrodzki (?) geschrieben hat, wohl im Frühjahr erst. Der hat abends seine junge Frau in einen Teppich gewickelt und unter sein Bett gelegt.
Auch Gerda Sauer hat ihre älteste Tochter nachts immer versteckt, einmal auf dem Heuboden, einmal im Kartoffelkeller, dem Kind ist nichts passiert ...

Am 11.11.1945 hat meine Mutter neue Kunde aus der Heimat: ... Gestern bekamen wir einen Brief von Frau Pastor Schmidtke, sie hatten Besuch gehabt von Frau Dr. Mathwigs Schwester, Inge kennt sie vielleicht, sie fiel etwas auf. Die war bis kurz vor der Ausweisung in Tirschtiegel gewesen und erzählte, daß Lehrer Wagner (Pg!) in Tirschtiegel polnischer Kommissar sei, die Schlafzimmer- und Wohnzimmermöbel sowie die Bibliothek (des Schlosses) in seinen Besitz übergegangen seien.
Die Bänke aus der Kirche wären rausgerissen worden und stehen im Kirchgarten. Die Kirche und der Gemeindesaal vom frommen Schulz sind vollgestellt mit geraubten Möbeln. Sehr viele Männer sind ermordet worden, die Frauen vergewaltigt, der Probst soll ganz zerlumpt und barfuß auf dem Wege nach Sibirien getroffen worden sein.
Herr Liebig schrieb, und seine Nachrichten stammen teils von Scheels, die auch dort geblieben sind, und von Jermis, daß das Sägewerk verschlossen ist. Heute beim Mittagessen wurde noch darüber gesprochen, daß Marinjas (Hausmädchen im Schloss) Vater (Mitarbeiter im Sägewerk) die ganzen Schlüssel vom Sägewerk bekommen hätte und ihm gesagt worden sei, daß er dafür verantwortlich wäre. Wir hoffen nun doch sehr, daß die Maschinen noch im Sägewerk sind.
Liebigs Wohnung steht auch, aber ganz ausgeplündert. In Waldvorwerk ist Merder (der war doch am 1.9.39 auch in Waldvorwerk geblieben) Verwalter und ein polnischer Waldarbeiter von Gerd (mit Bleistift ergänzt: Kowalczyk auf Luben) ist Förster. Liebig hat von seinen beiden Schwiegersöhnen auch Nachricht. Sie hoffen alle, daß sie im April wieder nach Tirschtiegel können ...

Am 02.12. schreibt Mutter: ... Ich will Euch noch einen Brief von Frau Gilbrich mit einlegen, damit Ihr auch hört, wie in Tirschtiegel gehaust worden ist. Den Brief bitte ich nur mir wieder zurückzuschicken. Er ist vom 7.11. bis 30.11. unterwegs gewesen.
Fritz bekam von seiner Schwester einen Brief mitgeschickt, der an Trudchen gerichtet und von Frau Gilbrichs Schwägerin Hilde geschrieben war. Sie berichtete das gleiche, nur schrieb sie noch, daß sich die Männer auf’s Mühlendach stellen mußten und daß sie wie die Spatzen runtergeschossen worden sind ...

Mit einem Auszug vom 26.12.1945 soll dieses schmerzhafte Kapitel, zu dem es - das wird gelegentlich leichtfertig vergessen - auch eine unheilvolle Vorgeschichte gibt, beendet werden: ... Schnell will ich Euch noch über Frau v. Gersdorff’s Tod berichten. Frl. Wandel weiß es von ihren Bauchwitzer Verwandten, die bis zu ihrer Ausweisung in Bauchwitz waren. Sie, Fr.v.G., hat die Kinder herausgebracht und war dann in Bauchwitz, vielleicht wollte sie auch noch fort, aber die Russen kamen. Das Haus war besetzt und Frau v. Gersdorff wohnte in der Kutscherwohnung. Da schickt der Kommandant rüber und läßt der Frau Majorin sagen, sie sollte in 1/4 Stunde drüben sein.
Da sagt Frau v. Gersdorff „Ich liebe nur meinen Mann“ und nimmt Gift.
Dem Kommandanten dauert es zu lange, er geht selbst rüber und nimmt die Mütze vor der Leiche ab und sagt „Das wollte ich nicht!“. Ist das nicht erschütternd?
Förster Kruschel hat seine Familie und sich erschossen; Sägewerk Kruschel ist auch tot, und wie viele aus Meseritz. 2/3 der Stadt ist abgebrannt.
In Meseritz sollen 50 Deutsche und nur 700 Polen sein. Herr Liebig hat an Gerd geschrieben. In Waldvorwerk ist Burschinski Förster, er soll die Deutschen anständig behandelt haben. Solange noch Deutsche in Tirschtiegel waren, hat Schlei die Fischerei gehabt, und nun hat es der Bruder von dem verstorbenen Schuster Woschny ...

Über die unzureichende bzw. mangelhafte Versorgung der Bevölkerung mit den täglichen Dingen des Lebens, insbesondere auf dem Lande, berichtet meine Mutter in zahlreichen Briefen. Sie schreibt am 20.07.1945: ... Die Kleiderfrage ist ja
schwierig, besonders für Gerd. Vor dem Beschuß konnte ich noch auf die alten Kinderkleiderkarten 5 1/2 mtr. blauen Monteurstoff bekommen, da hat Anni erst für die 3 Jungen Hosen genäht, und jetzt für Gerd noch eine kurze. Oberkörper frei und bar fuß, so arbeitet er. Von der nächsten Woche an geht er auf Arbeit. Bis einschließlich Ekki (knapp 11 Jahre) gehen die Kinder aufs Feld. Sie bekommen dann Brot, Fleisch, Fett, Milch zusätzlich. Hoffentlich habt Ihr keine Nahrungssorgen ...
Am 7. August ergänzt sie: ... Gerd hat ja auch nur ein Paar hohe Militärstiefel und seine Uniform; Paech hat ihm ein Paar ausgeschnittene Schaftstiefel geschenkt; ich nahm für ihn ja nur einen Wintersportanzug mit, das sind Gerds ganze Sachen, er hat auch nichts weiter, ein dunkles Arbeitshemd, 2 Paar Socken. Auch das geht. Ich gehe jetzt barfuß, um mein einzigstes Paar Schuhe für den Winter zu schonen. Adelhart hat mir und Anni jetzt Holzsohlen gearbeitet, die verfeinert nun Fritz noch. Wir dürfen nicht zurück sehen, sondern den Blick nach oben richten, uns wird schon irgendwie geholfen. Gerd verdient 90 RM im Monat, Mummi so um 70 RM ...


Die ganze Misere der Mangelwirtschaft stellt mein Vater in einem Brief am 26.10.1945 anschaulich dar: ... Ich habe nun endlich als entlassener Soldat einen Teil der im Juli beantragten Bezugsscheine bekommen. Es ist der reine Hohn, wie man mit denen durch die Gegend zieht.
Der Schneider meint, ein neuer Straßen- Anzug sei ausgeschlossen, so etwas gäbe es nicht. Fertig von der Stange schon überhaupt nicht, und Maßarbeit?: Wenn ich ihm den Stoff brächte – er hat natürlich keinen – dann müsste ich ihm auch sämtliche Zutaten: Garn, Futter, Wattierung, mitliefern, denn er habe nichts mehr, sei, wie alle Geschäfte in Schwarzenbek, ausgeplündert und bekomme auch nichts mehr herein, woher auch??
Den Anzug von Onkel Paul (der verstorbene Vater von unserem „Quartiergeber“ Dietrich Fischer), den Tante Nanny mir schenkte, werde er gern passend machen. Er sei zwar für eine „Bauchfigur“ gearbeitet, und ich sei schlank, an der Hosenlänge fehlten nicht weniger als 10 cm, aber schlimmstenfalls müsse er eben die Weste mit verarbeiten.
Er sei zwar bis März – April mit Arbeit besetzt, jedoch behandle er der Dringlichkeit halber entlassene Soldaten bevorzugt und ich solle daher „schon“ im Januar mal nachfragen. – Dann der Mann mit dem Hutgeschäft, der mir auf den Bezugsschein einen neuen Hut liefern soll:
„Sehen Sie diese Wandregale: die eine Seite sind „umzupressende“ Hüte, die andere Seite fertige Hüte der Kundschaft, auf neu aufgearbeitet. Alle haben es genau so eilig gehabt wie Sie, und doch warten die meisten der Hüte bereits mindestens 14 Tage auf ihre Abholung. Einen neuen Hut? Unsere Fabriken waren in Forst, Guben & Cottbus, also mit neuen Hüten ist Schluß“.
Darauf zeigte ich meinen Hut von der Schützengilde, den mir ein gutherziger Gülzower geschenkt hat. Den wolle er mir – Größe 60 – ganz schnellstens auf Größe 56 umarbeiten, wahrscheinlich in 6 – 8 Wochen, vielleicht „schon“ in 4 Wochen mal nachfragen! – Der neue Hut wird wohl also eine Papierstoffmütze werden, die ich hier im Dorf „hoffentlich“ mit der erwarteten Sendung in der passenden Größe erhalte.
1 Arbeitshemd bekam ich auch hier im Dorf durch die Freundlichkeit des örtlichen Kaufmanns, ebenso 2 Taschentücher. In größeren oder kleineren Städten ist auf Bezugsschein meist nichts zu kriegen, denn niemand kennt einen da, und kann man mit Speck schmeißen? – Warum werden denn dann überhaupt noch Bezugsscheine ausgestellt? Die in Frage kommenden Fachgeschäfte sind regelrecht verärgert darüber, was man ja durchaus verstehen kann!

In Goslar war die die Versorgungslage vermutlich ein wenig besser als auf dem Lande, denn die Großeltern schickten ab und zu Päckchen mit allerlei Nützlichem. Am 10. 10. 1945 schreibt unsere Mutter: ... und große Freude herrschte auch über die Schuhbänder und das Sieb. Als Schuhbänder nehmen die Kinder jetzt den Draht aus den Leitungen, die die Engländer gelegt haben. Sie halten kurze Zeit, dann muß wieder neuer Draht aus der Gummiumhüllung gezogen werden. Aber jetzt gehen die Kinder ja noch viel in Holzpantoffeln, ich bin auch noch bis Dienstag barfuß in den Holzsohlen gegangen. Es ist schon recht kühl, aber ich denke, abhärten ist ganz gut ...

Im Sommer 1946 hatte sich die Situation hinsichtlich des Schuhwerks deutlich entspannt. Mein Vater teilt am 29.07. mit: ... Ich bin so froh, daß ich jetzt für jeden Familienangehörigen, einschließlich Tante Oberin und Tante Anni, je 2 Paar Holzschuhe, also Holzpantoffel, im Absatz auf Schuh zugeschnitten, mit einem oberhalb des Absatzes nach vorn laufenden Halteriemen, besorgen konnte bei 2 verschiedenen Pantoffelmachern. Dadurch werden Lederschuhe jetzt im Sommer überhaupt nicht getragen, sondern dies wertvolle Schuhzeug ganz und gar für die nasse Jahreszeit aufgespart. Meine Mutter konnte jeder noch so schwierigen Situation stets noch etwas Gutes abgewinnen:
[15.03.1946] ... Väterchen, könntest Du bei Deinem Freunde Knopp nicht mal nach einem Kamm und einer Haarbürste fragen, wenn Mummi nun (zur Ausbildung) fortgeht, muß sie ja eine Bürste mitnehmen. Sie fängt jetzt zwar an, den Schweinen die Borsten rauszureißen (wenn das der Tierschutzverein wüsste!) und will sich daraus eine Bürste machen, vielleicht gelingt es ihr. Es ist diese Notzeit für die Erziehung der Kinder bestimmt nur zum Guten. Sie versuchen jedes auf seine Art mitzuhelfen ...
Und daß Not erfinderisch macht, bestätigt sie am 09. 06.1946 ihrem Vater: ... Die Stahlspiralen als Gummiersatz gehen sehr gut, nur die eine kurze ist für die Beine zu weit ...
Offenbar war Gummiband auch in der Stadt am Harz Mangelware. Als Alternative hatte der Großvater irgendwo lange Spiralfedern aufgetrieben, die am Ende den festen Sitz der selbst genähten Unterhosen am Körper seiner Enkelkinder (oder seiner Tochter??) genauso sicherstellten wie die nicht aufzutreibende Gummilitze.

Die Flucht der Fischer von MollardsNatürlich machten sich unsere Eltern ständig Gedanken über die Zukunft, über die eigene und insbesondere über die ihrer Kinder. Schon 5 Wochen nach Entlassung unseres Vaters aus der Kriegsgefangenschaft berichtet Mutter am 20.08.1945:
... Gerd will am Dienstag über Geesthacht, Hamburg nach Soltau und von dort nach Hermannsburg zum Missionsfest. Die Wanderungen will er mit Frau Pastor Lemke unternehmen. Hoffentlich bekommen sie ab und zu Fahrgelegenheit. Auf dem Missionsfest will er mit Missionsdirektor Elfers sprechen und sich nach Möglichkeiten für ein evtl. Fortkommen erkundigen.
Hoffentlich geht es nicht gleich nach Afrika, der Gedanke würde mir sehr schwer werden, Euch so ganz zu verlassen. Aber ich habe Gerd auch zugeredet, daß er doch ruhig zum Missionsfest gehen soll, denn es kommen so viele Menschen dort hin, daß sich evtl. irgendeine andere Existenzmöglichkeit bietet.
Von Hermannsburg will Gerd dann noch, wenn er ein Rad für die letzte Flasche Cognac eingetauscht bekommt, nach Lüneburg und Uelzen radeln, um Ernst Tepper (Mitarbeiter aus Tirschtiegel/Waldvorwerk) zu suchen ...
Über das Ergebnis berichtet Vater am 25.08.: ... Heute bin ich von meiner „Missionsreise“ glücklich heimgekehrt – ohne Fahrrad, aber mit sehr netten neuen Pastorenbekanntschaften im Hannoverschen, in der Heide. Die Aussichten, als Angestellter Plantagenbewirtschafter (also innerhalb des Rahmens der Hermannsburger Äußeren Mission) – anders würde ich es nie machen – vielleicht in weiterer Zukunft eine gute Anstellung zu finden in Südafrika, scheinen nach Besprechung der leitenden Direktoren nicht aussichtslos zu sein.
Nur ist jetzt alles noch zu früh, man muß erst die Dinge sowie nähere Nachrichten von drüben abwarten. Ich würde das aber erst tun, wenn hiesige Möglichkeiten so unverändert schlecht bleiben wie gegenwärtig, was ich mir nicht denken kann, besonders, wenn der Russe tatsächlich nach Osten zurückgehen sollte, wovon soviel gemunkelt wird.
Es ist eben alles noch zu früh. Den Winter bleiben wir bestimmt noch in Gülzow. Nirgends besser als von hier kann man für die Zukunft Umschau halten. Die Arbeit bekommt mir ausgezeichnet, wenn ich so im Sonnenschein mit Adelhart grüne Pflück-Erbsen nach Hause fahre, bin ich sehr glücklich, doch befriedigt das auf längere Dauer natürlich nicht ...

Am 09.09. gewährt meine Mutter einen Blick in ihre innere Verfassung:
... Wir schweben ja auch so in der Luft und wissen nicht, was man beginnen soll. Zeitung gibt es nicht, Radio haben wir nicht, so sind wir nur auf die Gerüchte angewiesen, und die sind so verschieden lautend, daß man sich auch kein Bild machen kann. Ich kann nur sagen, daß wir alle heim-wehkrank sind, aber das hilft ja nichts, jetzt heißt es, die Zähne zusammen beißen und auf Gottes Hilfe hoffen. Seine Wege sind so wunderbar, und Er wird auch uns irgendwie helfen. Wir müssen nur Geduld haben ...

Am 16.10 schreibt sie an meinen Großvater: ... Du hast schon recht, wir sind aus dem Paradies vertrieben, aber weißt Du, Väterchen, wir sind von Euch einfach erzogen worden, ich bin trotz des Reichtums in Tirschtiegel bescheiden geblieben, ich finde mich zurecht. Es gibt bittere Stunden, wo so die ganze Trostlosigkeit der Zeit auf mir lastet; besonders bedrückt mich die Zukunft der Kinder, wo so gar keine Schulmöglichkeit in Aussicht steht, aber vielleicht ändert sich auch dies. Und wenn man so ganz aus der Bahn gerissen ist, man sieht das Leben mit anderen Augen an, und das hat soviel Gutes. Natürlich sehne ich mich nach einem Stückchen Heimat, denn ich kann mir etwas Hübscheres denken als diesen Boden mit einer Dachluke und einer kaputten Fensterscheibe als Lichtspender, es ist doch schon empfindlich kalt.
Aber wir haben es immer noch besser und ich frage mich oft, womit hast Du diese Bevorzugung verdient? Gerd ist bei uns, Ihr seid im englischen Gebiet, wir können Briefe austauschen, Anni und Tante Oberin sind bei mir und helfen mit ...

Die Hoffnungen meines Vaters lesen sich am 11. 11.1945 so: ... Die Zukunft ist ja absolut ungeklärt. Wir geben die Hoffnung auf eine Rückkehr in die Heimat nicht auf, daß mir meine augenblickliche Tätigkeit (Gespannführer auf dem Gut seines Vetters) nicht genügend ist, liegt auf der Hand. Sollte es mit Tirschtiegel nichts werden – allein der Altreichteil wäre ja schon ein Paradies, wenn auch wahrscheinlich unter wesentlich anderen Verhältnissen – dann hoffe ich doch im Großen gesehen, immer auf eine Siedlungs- oder Pachtungsmöglichkeit oder Waldbeamtensache im Osten, falls der Osten wieder frei wird, d.h. unter englischen Schutz kommt.
Aus sachlicher Quelle von der Steuerbuchführerin von Ernst und Eduard
(seinen Brüdern aus Góra) hörten wir, daß sie selbst gesehen hat Entlassungsscheine deutscher Kriegsgefangener aus englischem Lager, auf denen stand: „Entlassen in das englische Interessengebiet, augenblicklich von Russland besetzt“, das besagt doch ziemlich viel. Im Grunde genommen kann es ja auch so nicht bleiben, wie es augenblicklich ist. Es wird nur sehr schwierig sein, denn es ist weder Mensch noch Vieh, weder Ernährung noch Saat noch Gerät im Osten vorhanden, falls es zum Frühjahr frei werden sollte, darüber muß man sich klar sein!

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Unsere Mutter formuliert am 02.12.1945 ähnlich:
...Wir haben ja aber doch die Hoffnung, daß wir zum Frühjahr wieder nach Tirschtiegel ziehen. Haltet Ihr das für sehr vermessen? Ihr könnt es ruhig schreiben, wie Ihr darüber denkt, denn Ihr könnt es genau so wenig wissen wie wir, aber man macht sich doch seine Gedanken und hört auch gerne die Meinung von den andern.
Aber wie werden wir dann in Tirschtiegel anfangen? Man kann sich kein Bild machen. Es wird sehr schwer sein, aber wir wollen doch wieder in die Heimat. Die Leute hier sind so ein anderer Schlag. Sie leben ihr Leben für sich, sie haben ihre Heimat, ihr Essen und Trinken, was brauchen sie mehr?

Zur Kirche gehen nur die Flüchtlinge, die Einheimischen brauchen keinen Gott. Heute abend werden wir in unserem Wohnzimmer eine kleine Advents-Bibelstunde mit Herrn Pastor Lemcke halten, der gestern nach Gülzow kam. Wir haben es noch einigen Frauen gesagt, die zur Bibelstunde kommen, wir freuen uns sehr auf diese Feierstunde...

Wie schnell andererseits Hoffnungen auch zerplatzen können, beschreibt Mutter am 30.09.: ... Gerd hatte sich am Mittwoch mit 39° Fieber ins Bett gelegt. Abends nach 9 Uhr schickte Dietrich noch rüber, Gerd solle zu ihm kommen, er müsste morgen (27.) nach Hamburg fahren. Ich ging also „zum Chef“ und fragte, was los sei. Da war Dietrich in Hamburg gewesen und hatte gehört, daß fliegende Sägewerke mit kanadischen Maschinen errichtet werden sollten, und da hatte Dietrich Gerd als Sägewerksleiter vorgeschlagen.
Wie freute ich mich, als ich das hörte, und lief gleich nach Hause. Gerd mußte eine Gelonida schlucken, um zu schwitzen und gesund zu sein. Dietrich schickte auch noch Schwester Martha zu Gerd.
Am nächsten Tage fühlte sich Gerd ja sehr schlapp, aber er hatte kein Fieber. Dietrich stellte ihm sein Auto zur Verfügung, weil er sonst schlecht hätte fahren können. Um 1/2 6 kam Gerd zurück, aber leider ohne Erfolg. Diese „Sägewerke“ bestanden aus einer Kreissäge mit 8 Mann Bedienung und der 9. wäre Gerd als Leiter, der für Benzin zu sorgen hätte, für einen Wohnwagen
als Unterkunft der Leute und auch für Verpflegung. Nach viel Überlegung mit Fritz hat Gerd aber doch abgeschrieben. Dietrich war ehrlich betrübt, daß dies nichts wurde, er hatte aber auch angenommen, daß das größere Sägewerke wären. Nun heißt es also wieder weiter warten und suchen. Am 28. ist Gerd dann zum Arzt gegangen, der Gelbsucht feststellte ...
Die Bereitschaft zur Aufnahme und Unterstützung von Flüchtlingen wird heute als „Willkommenskultur“ bezeichnet. Zwar existiert diese Wortschöpfung in der Nachkriegszeit noch nicht, meine Mutter beschreibt sie dennoch schon am 23.10.1945 kurz und knapp:
... An die verschlossenen Herzen der Menschen kann man sich in diesen Notzeiten schlecht gewöhnen, aber der Schlag ist hier so. Man staunt und sagt nur, die Leute haben noch nichts durchgemacht. Aber Ihr könnt fragen, wen Ihr wollt, hier findet Ihr nur verschlossene Türen, der Pastor (der evangelische Pfarrer Schmidtke aus Tirschtiegel) klagt in Wittmund auch sehr darüber, auch die Kirchen sind nur durch die Flüchtlinge voll, die Einheimischen haben es nicht nötig, sie sind auch faul. Es wächst ihnen ja alles zu. Na, genug von den Menschen, manche sagen: Na, denen hier wünschen wir wirklich mal den Russen, damit sie sich auch mal etwas umstellen. Ich bin aber so egoistisch, daß ich ihnen den Russen nicht wünsche, denn dann haben wir ihn ja auch hier ...

Der Lebensunterhalt der Familie wurde nicht nur von meinem Vater durch Arbeit auf dem Gut meines Onkels sichergestellt, sondern auch die beiden ältesten Geschwister (15 und 14 Jahre alt) beteiligten sich damals am Broterwerb. Es wäre naheliegend anzunehmen, daß das Verwandtschaftsverhältnis mit dem „Arbeitgeber“ die Art der zu verrichtenden Tätigkeiten günstig beeinflusst hätte. Wenn überhaupt, so war dieser Einfluß jedoch relativ begrenzt, wie aus den Briefen zu erfahren ist:
[20.08.]
... Vorbildlich in seiner Haltung ist Gerd. Er hat von Adelhart ein Paar Tarnhosen bekommen, die sich der Junge für die Feldarbeit organisiert hat, die trägt Gerd nun als Knickerbocker, dazu ein graues Militärhemd und die abgeschnittenen Schaftstiefel, die Paech ihm überlassen hat, ohne Strümpfe, und wenn es regnet noch eine Ölhaut von den Engländern. Gerd muß in diesem merkwürdigen Aufzug auffallen, denn ich habe noch niemanden mit diesen gefleckten Tarnhosen gesehen. Und so fährt Gerd nach Schwarzenbek und verladet Heu oder was er sonst für Aufträge bekommt. Adelhart begleitet ihn, denn oft muß Gerd auch GemüsesaÅNcke vom Felde holen, und da braucht er immer Jungen zum Packen. Gerd hat auf dem Hof auch schon das Klo saubergemacht, was Eduard sich gleich zu Nutze machte und Dietrich sagte „Ja, so sind wir Brüder, wir scheuen uns vor keiner Arbeit!“ Gerd klagt nicht einmal oder murrt, er tut nur seine Pflicht ...
[26.10] ... Mummi brachte ich auch im Ackerstall unter, aber nicht als Gespannführer, sondern gemeinsam mit Adelhart als Helfer für Futtermeister Otto Paech, der ohne solche Hilfe allein es nicht mehr schafft. Ist schon der Stall von morgens bis abends dreckig, vermistet, unaufgeräumt, ungefegt, so kann er es mit dem Häckselschneiden schon bestimmt nicht schaffen für den Ackerstall (ca. 30 Pferde) und den Kuhstall (180 Kühe).
Ich selbst habe gebeten, im Winter nicht draußen auf dem Felde beschäftigt zu werden, denn mein Schuhzeug unterliegt leider diesem Lehmboden bei Regen und der ewig scharfe Wind, der von der See her über dieses Hügelgelände geht, ist bei niedriger Temperatur und nicht ganz vorhandener Winterbekleidung doch recht spürbar. Also fahre ich ein Gespann, was nur Innendienst macht innerhalb des Hofes: Stroh ranholen, ebenso Kuhfutter, Speicherfahrten vom Dreschen etc. Es begann heute damit, daß ich mit einer Hilfe Ziegelsteine der abgebrannten (Krieg) Gebäude mit Lehm zum Ofensetzen in Insthäusern fahren mußte. Eine bei sanftem Regen & Wind etwas reichlich trostlose, wenn nicht schwierige Arbeit, bei welcher der Trauring schon froh ist, in der Nachttischschublade ruhen zu dürfen & sich schonen zu können. Morgen wird’s schon anders sein!
Die Flucht der Fischer von Mollards[Sonntag, d. 28. 10.] Ja, es war auch anders: Tepper liegt an Gelbsucht, ich übernahm am Sonnabend seine Pferde, die ich früher auch immer gefahren hatte, und durfte mich am Mistfahren beteiligen, bei Wind und mehr oder weniger ausgiebigen Regenschauern, bei dem Lehmboden alles ein klebriger Dreck. Schön war anders, aber es ging trotzdem, ohne daß ich verzweifelte oder schimpfte. Nun soll ich aber in der neuen Woche die Hoffahrten machen ...
[11.11.] ... Ich fahre nun leichte Pferde (von meinem Bruder Ernst) in kleinen Hoffahrten, da ich für Regen bei der Lehmschmiererei auf den hiesigen Feldern hinsichtlich Bekleidung und besonders Schuhwerk doch nicht hinreichend versehen bin. Brunfride und Adelhart sind wieder bei Paech im Ackerstall und verdienen mit ...
[18.11.] ... Adelhart muß 3 Tage die Arbeit aussetzen, da er schlimme Hände hat, der Arzt meinte Frost und Rheuma, das vom Herzen käme. Nun ist Mummi für ihn eingesprungen, sie hat jetzt aber so erfrorene Füsse und eine Druckstelle an der Ferse, daß sie nicht die Schuhe anziehen kann, nun soll Ekki (damals 11 Jahre!) morgen zu Paech, um seine Geschwister zu vertreten ...
[11.12.] ... In der Arbeit habe ich es augenblicklich sehr gut. Ich habe 13 Fohlen zu versorgen, vom Absatzfohlen bis zum 2-Jährigen, alles Kaltblüter, also dicke Pummels, eigentlich kleine Elefanten, nur ein Warmblüter darunter. Es macht mir große Freude, die Tiere zusammen mit Mummi vollkommen allein zu versorgen: Tränken, Füttern, Ausmisten, Pflegen, Streu und Futter ranholen! – Da hat man den ganzen Tag sich eifrig zu tummeln, um fertig zu werden, denn sie stehen in Schweineboxen, immer zu zweien, und werden täglich gänzlich ausgemistet. Aber man hat sein eigenes Reich, in dem man sich den Dienst innerhalb der Arbeitszeit nach eigenem Ermessen einteilen kann und man braucht nicht immer zu der Arbeitseinteilung zum Appell zu erscheinen und braucht nicht mit Anderen zusammenarbeiten, ist außerdem meist im geschützten Stall, was bei dem vielen Regen sehr angenehm ist ...

Während Mutter ihren Geburtstag im September hatte, beging unser Vater seinen 47. im November 1945. Am 11.11. bedankt er sich für die Glückwünsche aus Goslar und geht dabei auf den Luxus des Schenkens in Zeiten der Not ein:
... Laßt Euch für Euer liebes Gedenken zu meinem Geburtstage mit den vielen, so herzlichen Wünschen, aufrichtigen Dank sagen. Der Brief kam genau am 10.XI. an. Du, liebe Ingo, hast mir noch „Das tägliche Wort“ schenken können. Nimm besonderen Dank dafür, denn es ist mir sehr viel wert. In einer Zeit, in welcher es nichts zu kaufen gibt, in der alles umgewertet wurde und man völlig anders denken, empfinden und werten lernte, liegt das Freudemachen ja doch aber, liebe Eltern, nicht im Materiellen.
Dies war auch in unserer Familie, selbst in besten Zeiten, stets nur eine, wenn auch zugestandenermaßen recht angenehme und den Möglichkeiten entsprechend reichlich betonte, immerhin aber eben doch nur eine Begleiterscheinung.
Das Geistige, Seelische, Charakterliche mit all seinen Werten, die Formung des inneren Menschen, sowohl hinsichtlich Arbeit an sich selbst wie in Sachen der Erziehung der Kinder bildeten, auch in Zeiten des Überflußes und der Üppigkeit, immer den ernsten Hintergrund des Lebens in unserer Familie, das wißt Ihr und habt es selber erlebt im lieben Tirschtiegeler Nest.
Und wenn nun ganz andere Zeiten gekommen sind, so hilft uns gerade die eben angeführte Einstellung sehr mit, die neue Umstellung und Einstellung zu vollziehen. Und durch die Härte der Zeit werden alle jene geistigen Werte doppelt unterstrichen und treten schärfer hervor als Richtlinien fürs tägliche Leben. Was denn haben wir hier nicht?

Haben wir nicht alles, was man sich in so schwerer Zeit überhaupt nur wünschen kann??
Ich kam gesund aus dem Schlamassel raus, kam frühzeitig zu den Meinen zurück, die ganze liebe Familie und ihre engsten lieben Mitarbeiter dürfen ungestört zusammen leben, wirken und sein. Ich habe Arbeit, die ich reichlich bezahlt bekomme, - wie viele Menschen im russisch besetzten Teil arbeiten nur für die unzulänglichen Lebensmittel! – wir haben satt zu essen und reichlich in Anbetracht der schwierigen Ernährungslage des Volkes, wir haben ein Dach über dem Kopf, ja, können seit einer Woche sogar wieder in der geliebten Rentei wohnen, wo die Kinder fröhlich rumspringen, wo dichte Fenster sind und wo es Öfen gibt, und schließlich haben wir die Verbindung mit Euch – ist das nicht Gutes und Liebe im Überfluß? So mußt Du, lieber Vater, Dir keinerlei Gedanken machen wegen Geschenken. Da ist jeder Buchstabe drüber zu schade und falsch am Platze. – Wir sind so dankbar, daß wir den Geburtstag in Gesundheit der gesamten Familie gemeinsam begehen können.

Nehmt zugleich, liebe Eltern, herzlichen Dank für die in Deinen Zeilen, liebes Väterchen, unserem Adelhart zu seinem Geburtstag zugedachten 10 RM. Bitte verstehe es recht, lieber Vater, aber ich meine, daß die Gegenwart in geldlicher Hinsicht nach jeder Richtung viel zu unsicher ist, als daß man so hohe Geschenke heute noch tun dürfte. Heutzutage muß man wieder mit jedem Pfennig, erst recht mit jeder Mark, rechnen, und so furchtbar hoch ist Deine Pension zur Zeit ja doch leider auch nicht.
Daß wir in guten Zeiten aus liebenden und verehrenden Kinderherzen Euch, wie Du sagst „überschüttet“ haben mit allem, was wir konnten, war uns Bedürfnis und nie Opfer. Solche Geschenke wie Deines mit 10,- an Adelhart sind unter den obwaltenden Verhältnissen aber bereits Opfer, und deshalb sollte man sich das sehr überlegen. Bitte verzeihe die freie Meinungsäußerung, aber ich stehe auf dem Standpunkt, daß man nur die allernotwendigsten Ausgaben sich heute erlauben darf.
In heutiger Zeit ist jedes Geschenk Luxus. Das darf Dich bitte nicht verletzen, liebes Väterchen, denn ich schenke Euch auch nichts. Und was in guten Zeiten einstens war, bleibt im Herzen und lebt weiter und hat unser Verhältnis zu einander so gefestigt, daß es, auch ohne materielle Geschenke, selbst für so harte Zeiten hinreichen muß – und wird.
Ich bitte Dich herzlich, liebes Väterchen, mich nicht falsch zu verstehen! Es darf keinesfalls als Kritik aufgefasst werden. Aber die Vergangenheit ist vorbei und die Gegenwart ist maßgebend, und da sei Dir bitte nichts peinlich! – Ihr seid rührend mit Euren Besorgungen und Bemühungen, uns Notwendiges zu beschaffen. Wieviel Liebe liegt allein darin und wieviel Opfer an Gängen, Zeit, Kraft und Nerven! ...

Am 3. Advent 1945, am 16.12., schreibt mein Vater seinen Weihnachtsbrief nach Goslar, der trotz der schweren Zeit so gehaltvoll ist und von innerer Stärke und Liebe zeugt, dass er m. E. hier nicht fehlen sollte: ... Das Weihnachtsfest steht vor der Türe.
In der Woche ist bei uns an Schreiben schlecht zu denken, da soll der Sonntag die Stunde dazu hergeben.
Aber selbst dann ist es mit zeitlich günstiger Einteilung nur möglich. Für Erika läuft der Haushalt weiter und auch ich habe mein Tun, denn die 13 Fohlen, die ich in meiner Pflege habe, wollen ja auch versorgt sein. Zudem ist man immer besetzt, da man sich ja doch alles allein macht – im Gegensatz zu früher – und das beansprucht so sehr viel Zeit.

Ja, Weihnachten. Es kommt gerade diesmal alles darauf an, wie es in uns aussieht, denn von außen gibt es nichts. Geschenke hat man nicht. Ich bedaure sehr, nicht basteln zu können, man könnte Spielsachen und brauchbare Nutzgegenstände machen. Aber ich kann das nicht, zum mindesten bin ich abends so müde, daß ich leider keinerlei Stimmung dazu aufbringen kann.

Der Rückblick auf das vergangene Weihnachten 44 läßt einen erschauern: So schön es war – wenn man noch einmal das durchmachen müsste, was die nachfolgenden Wochen und Monate brachten: Wie froh und dankbar muß man sein, heute das Fest im Schoß der Familie begehen zu dürfen. Wie herrlich, daß man errettet wurde aus all der Not und Gefahr, so ganz ohne eigenes Dafürkönnen und Dazutun, ganz in Gottes Hand! – Was alles hat man von ihm empfangen dürfen, gerade in den schwersten Übergangszeiten, als alles Irdische verging. Gewiß, wir werden die geliebte Heimat, unser Paradies, nie vergessen können. Diese Wunde des Verlustes wird immer offen bleiben. Ich glaube aber andererseits nicht, daß es unbedingt für immer verloren ist. Es könnte eine Konstellation eintreten, in der man Aussicht hätte, den Altreichteil wiederzubekommen. Dann natürlich ist das Haus oder sein Inhalt weg. Aber Heimat wäre es trotzdem. Sonst – weiß ich nicht, wie sich alles macht.

Scheußlich ist dieser Zustand der wirtschaftlichen Lethargie, in der man das Reich danieder hält mit dem Motto vom „stufenweisen Aufbau“. Unerträglich! So werden wir zunächst wohl mit einem Hierbleiben zu rechnen haben. Dann fragt sich, wie das Frühjahr aussehen wird, und ob es etwas bringt und was.
Zum Weihnachtsfest nehmt auch meine innigsten Segenswünsche. Unsere Herzen werden sich in den Tagen vereint wissen im Glauben an Christus, im selben Glauben, in dem unsere Väter lebten und der über den Zeiten steht, weil er von der Ewigkeit überstrahlt ist, durchleuchtet von allem Guten und der Liebe.

Möchtet Ihr doch recht bald Nachricht erhalten von Matthias
(der vermisste Schwager meiner Mutter), damit diese Belastung von Euch genommen wird. Gebe Gott, daß er bald gesund bei Euch eintrifft. Die Wege, welche wir geführt werden, sind uns verschlossener und vielleicht rätselhafter denn je. Gerade daraus aber wollen wir die Hand des Herrn erkennen und voller Zuversicht uns ihm anvertrauen. Wir wissen, daß es so nicht immer bleiben kann, und ich sehe den augenblicklichen Zustand nur als Übergang an.
Welche Aufgaben dahinter uns gestellt werden, können wir nicht wissen, sicherlich aber gerade nur solche, die wir zu meistern imstande sind – für uns bestimmt! Ich habe momentan die Fohlen zu füttern und zu pflegen und die Stallgasse sauber zu halten. Manchmal ist mir dabei, als müsste ich lachend alles liegen lassen und mir eine Aufgabe suchen, die mir auf die Dauer immer Befriedigung bringt.
Aber noch darf und soll das sicherlich nicht sein, also muß ich dabei verharren und es so gut tun, als ich es mit aller Sorgfalt nur irgend kann, denn tatsächlich ernährt es zur Zeit meine ganze Familie.
So wird das Warten zur täglichen, fast stündlichen Erfüllung einer Pflicht, und der Ernst, mit dem sich dieser Ablauf immer wieder vollzieht, läßt mich fühlen, daß es zur Zeit eben so sein muß. Wie habe ich mir dies gewünscht, als ich hinterm Stacheldraht die Landwirtschaftsarbeit im Mai und Juni beobachten konnte. Heute drängt es einen weiter, doch sind die Zeiten noch nicht danach.

Was Wertvolles aber bedeutet es, wenn man, auch für eine so große Familie Unterkunft, Arbeit, Brot und Entlohnung hat. Welche Bevorzugung vor Millionen anderer, die noch nicht in geregelten Verhältnissen arbeiten dürfen! – In dieser Situation ist der Mittelpunkt mehr denn je die Familie, der gute Kamerad
(Erika) und die geliebte Kinderschar mitsamt den treuen Helfern (Frau Oberin und Anni).
Immer wieder blicke ich dorthin, wo der Anblick der vom Ernst der Gegenwart noch nicht so hart betroffenen Kinder mir klarmacht, welch wertvolles Gut uns anvertraut ist und welche Verantwortung dem täglichen Pflichtenkreis seinen tiefsten Sinn gibt, während die Liebe und restlose Treue und Aufopferung der Mithelfenden dort innerlich einen Halt gibt, wo man an dem Sinn der Tage zweifeln möchte.
Wenn man nun weiter nichts sieht als dieses, so steht in diesem noch immer währenden Niedergang ein Einziges fest: Wir, die Familie, Eltern, Kinder und Helfer müssen gemeinsam durch dieses Tal hindurch, wo es überall nur Sperrmauern zu geben scheint, und wenn es nur dem einen Zweck diente: die Familie zu erhalten, daß sie sich einst voll entfalte, und den Glauben zu tragen. Gott allein weiß, warum er uns in solche Prüfung führte, in ihm nur liegt die Lösung, die wir heute noch nicht sehen können. Wenn man das weiß, kann man durchhalten, so schwer es mitunter fallen mag, wenn man momentan keine Vorwärtsmöglichkeit sieht.

Laßt Euch zum Weihnachtsfest allesamt, Ihr Lieben, fest die Hand drücken. Wir schauen uns in die Augen, in denen die Erinnerung steht als das Schöne, was wir gemeinsam haben und um das wir wissen, wenn wir den Namen „Tirschtiegel“ aussprechen, aber auch die Hoffnung, daß es nicht für immer verloren ist, sondern für uns wiederkommt und der unverrückbare Glaube an die Liebe unseres Herrgotts ....

Mit innigen Weihnachtsgrüssen und allen guten Wünschen
Euer dankbarer Gerd ...
Die Flucht der Fischer von Mollards
Nach dem Studium eines solchen Briefes muß man wohl erst einmal durchatmen. Zwei Jahre später - die Familie hatte inzwischen auf einem 5 km von Gülzow entfernten Vorwerk meines Onkels mit dem schönen Namen Melusinenthal etwas mehr Platz und schließlich so etwas wie eine zweite Heimat gefunden - schreibt unser Vater am 20.12.1947 den Großeltern zu den bevorstehenden Feiertagen:
... Noch nie war ein Weihnachtsfest so arm an Gaben in materieller Hinsicht, aber selten wohl so reich an Gedanken, Wünschen, Hoffnungen und Gebeten wie das diesmalige; es gibt nichts, was man so richtig aus dem Herzen für seine Lieben besorgen könnte.
Wenn man durch die Straßen an den vielversprechenden Schaufenstern wandert und fragt in den Läden, so enttäuscht das Gebotene, die Möglichkeiten sind gering, die Preise irrsinnig. Ein Band „Karl May“ für die Jungens soll 75,- RM kosten, ein guter Roman 80,- und drüber, ein Schachspiel mit Holzbrett und Figuren 300,-, das nächste 1.200,- usw.

Alles das ist nichts für uns – die Menschheit steht auf dem Kopf und mit 10 Pfd. Butter in der Tasche kann man schließlich auch nicht Weihnachtsmann spielen bei 7 Kindern. Zweifellos bedrückt es, wenn man selbst zu ungeschickt ist, mit Basteleien Anderen Freude zu schaffen, und Ihr werdet unter der Aussichtslosigkeit der gegenwärtigen Allgemeinlage ebenso wenig Freude empfinden wie ich. –
Aber dennoch wäre es undankbar, wollte man an dem reichen Glück vorbeigehen, das Gott uns in unserem Familienleben schenkte. Daß alles da ist, wir zusammen leben dürfen, die Kinder wachsen, gedeihen, gesund sind und in der Ausbildung fortschreiten ist seit 2 Jahren nun noch immer der positive Anhaltsgrund, der uns neben dem Gottvertrauen über den Stillstand der wirtschaftlichen Seite hinwegheben muß, in dem wir Eltern nun schon so lange stehen.
Wenn es mitunter trotzdem schwer fällt, wieder und immer wieder, warten, abwarten zu sollen, so muß der Herrgott mir das nicht als Undank auslegen. All das Unrecht, die schlechte Gesinnung der Mitmenschen, Schieberei, Schwarzer Markt, Egoismus, Lieblosigkeit etc. hängen manchmal wie schwere Steine an dem Fuß, der weiter will ins Licht und Helle und gehemmt wird durch den allgemeinen Stillstand.
Doch das alles darf uns nicht unterkriegen und uns flügellahm machen. In den Kindern und Erika, die so musterhaft trägt und so kameradschaftlich alles, alles teilt, zusammen mit Anni auch im täglichen Schaffen, und lebend im Schoße der Familie finde ich den Quell, der immer wieder Kraft gibt, auch solche Zeiten zu überwinden! –
Da habe ich nun einige lächerliche Tabakblätter in Erika’s Weihnachtspaket für Dich, lieber Vater, eingelegt. Poplig, lieb- und interesselos komme ich mir vor, Ihr Lieben, aber ich habe einfach nicht den Schwung, mehr zu machen (als vielleicht noch mal Tabakblätter später), weil mir auch die Möglichkeiten fehlen. Möchte Euch das nicht betrüben. Ich habe auch kaum was für die Familie, und wir müssen uns begnügen mit der Tatsache des Beisammenseins, die an sich ja schon unermesslichen Reichtum bedeutet ...

Nach Weihnachten, in seinem Dankesbrief vom 28.12.1947, läßt sich mein Vater weiter über das damalige Warenangebot aus: ... Es ist ja alles so irrsinnig teuer und meist solch Schund, was Spielsachen etc. anbetrifft, dass es diesmal wirklich schwer war, auch nur das denkbar Einfachste zum Freude bereiten zusammenzutragen. Ich hatte gedacht, in Büchern etwas ausrichten zu können, aber es ist auch da nichts zu machen. Ein kleiner Band „Karl May“ kostet 75,-, Unterhaltungsroman ab 80,-.
Einen „Diercke Schulatlas“, gedruckt 1942 in Braunschweig, habe ich für die jeweiligen Oberschüler der Familie beschaffen können. Für Erika bekam ich eine nette Tischlampe, Metallfuß, Schirm handkoloriert mit Eichenlaub und Eicheln, nett, aber sehr einfach. Im Lettenlager wurden von estnischen Künstlern entzückende Holzteller mit eingelegten Rändern, Mittelteil gebrannt & aufgemalt: Tanzendes Bauernpaar, Gruppe Rotwild am Gebirgsbach mit Alpen im Hintergrund (2-300 RM).
Die Esten haben auch zur Königshaushochzeit
(Elizabeth II und Prinz Philip) nach London geliefert. Eine kleine niedliche Nachtischlampe konnte ich auch noch bekommen. Für Adelhart und Ekkehard je eine ganz einfache Brieftasche aus Seehundsleder, sehr dauerhaft und haltbar. Albrecht bekam einen ganz einfachen Trecker aus Werkstoff mit 4 großen Kullerrädern.


Teil 4: Nach der Flucht – Neubeginn westlich der Oder