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Erinnerung an Frl. Nelke, Betsche
Text von Joachim Schober, Bilder Schober/Archiv HGr
Eine Reaktion auf den Beitrag von Bruno Dupski, Erinnerungen an Betsche.
Den veröffentlichten Namensfehler in der
Ausgabe des Heimatgruss Nr. 234 unter der Überschrift:
«Erinnerungen und Gedanken an Betsche», muss ich korrigieren. Der Name unser Lehrerin war Frl. Nelke und nicht Frl. Tulpe. Daß ihr Geburtsname Katharina war, habe ich bei ihrer Beerdigung erfahren, in Betsche war ihr Rufname Käthe. Tulpe war ihr Schimpfname bei Leuten, die sie nicht mochten. Dazu gehörte ich nicht.
Mein Beisein bei ihrer Bestattung hat einen historischen Hintergrund. Frl. Nelke, in der Meseritzer Straße uns schräg gegenüber wohnend, gehörte unserem engsten Freundeskreis an, auf Sie- und nicht auf Du-Basis. Es wurden viele Gemeinsamkeiten unternommen, zum Beispiel bezahlte Kutschenfahrten. Ich war wohl Frl. Nelkes Lieblingskind und wurde zum Geburtstag und zu Weihnachten reich beschenkt. Das größte und teuerste Geschenk war ein Schaukelpferd, umhüllt mit einem echten Pferdefell.
Frl. Nelke hat uns Kinder oft zum Baden an die Katazine gebracht. Wir haben dort unter ihrer Aufsicht Schwimmen und Tauchen gelernt. Nach dem 4. Schuljahr wechselte ich 1941 in die Meseritzer Oberschule, und sie bot mir Hilfe bei den Hausaufgaben an. Das habe ich gern angenommen.
Als Betsche von der Roten Armee erobert war, flohen wir und auch Frl. Nelke zunächst nicht. Mein Großvater, Franz Bogajewicz, war in den KZs Buchenwald, Sachsenhausen und Dachau inhaftiert gewesen und kurz vor Weihnachten 1944 entlassen worden. Er hatte uns wegen seiner perfekten polnischen und etwas russischen Sprachkenntnisse, Schutz und Hilfe versprochen.
Damit Frl. Nelke bei der Vertreibung ihr Gepäck nicht zu tragen brauchte, hatte ich für sie einen kleinen Handwagen mit Kinderwagenrädern gebaut. Wir sind nach der Flucht in Pritzerbe a. d. Havel bei Brandenburg bei Tante Grete, Schwester meiner Mutter, untergekommen. Sie hatte als gelernte Fleischermamsell in die dortige Fleischerei Steinbeck eingeheiratet. Als Frl. Nelke im Westen angekam, wusste sie das und so blieb die Verbindung postalisch erhalten.
In Brandenburg hatte ich 1950 das Abitur gemacht. Weil ich kein Arbeiter- und Bauernkind war, erhielt ich - eingestuft in die „Reaktionäre Intelligenz“ Schicht - kein Stipendium und musste das Studium bezahlen. Frl. Nelke, das wissend, schickte für mich monatlich 30 DM-West zu Verwandten nach Westberlin. Wegen des Umrechnungskurses von 1:6 und 1:7 erhielt ich aus dem reaktionären Westen viel mehr Geld als der fortschrittliche Osten seinen Studierenden gab: 130 DM-Ost.
Ich gab wegen der Fahrtkosten das Studium für das Bauwesen an der TU in Dresden zu Gunsten des Sports an der PH in Potsdam auf. Weil es keine Turnhalle (zerstört) und keine Sportlehrer (gefallen oder in Gefangenschaft) gab, hatte ich 6 Jahre überhaupt keinen Schulsport. Zum Abitur zu einer Sportprüfung angetreten, bestand ich sie mit der Note «Gut» und hatte durch meine sportlichen Fähigkeiten alles sofort nachholen können. Die Zwischenprüfung nach dem dritten Semester bestand ich mit der Note «Gut».
Ich wurde in die „Fortschrittliche Intelligenz“ umgestuft und erhielt ein Leistungsstipendium in Höhe von 250 DM-Ost zu meinen 30 DM-West, war ich ein sehr wohlhabender Sportstudent geworden und erwarb zusätzlich die Lehrberechtigung für Wassersport - Rudern, Kanu, Segeln - und erhielt die Lehrberechtigung für Skilaufen.
Ich kaufte in Westberlin ein nichtrostendes, weinrotes Fahrrad mit Dreigang-Kettenschaltung und erregte großes Aufsehen gegen die schwarzen, rostigen Ostfahrräder.
Nach dem Examen erhielt ich 1953 als Sportlehrer Anstellung an der Zentral- und Einheitsschule Premnitz-Süd. Meine Eltern sind mit meinen beiden Schwestern Sieglind und Dorothée 1954 in den Westen abgehauen (ich verließ Pfingsten 1956 ebenfalls die DDR mit einem erpressten Interzonenpass).
Ich war als Lehrer in Premnitz erfolgreich - nach nur einem Jahr als Sportlehrer wurde ich 1954, mit Mathematik und Erdkunde Klassenlehrer der 8b und unterrichtete wegen meines Schullateins 1955 in der Oberstufe Latein. Ich wollte mich staatlich nicht vereinnahmen lassen und lehnte eine Parteizugehörigkeit ab. Weil mein Sportlehrer-Examen im Westen nicht anerkannt wurde, bat ich im Kultusministerium um eine außerschulische Anstellungsmöglichkeit und wurde an die Sporthochschule Köln verwiesen, wo ich mich immatrikulierten konnte. Alle Zusatzausbildungen und zwei Semester von Potsdam wurden anerkannt und nachdem ich alle Prüfungen bestanden hatte, erhielt ich 1958 das Diplom-Zeugnis und war der TH Hannover, der Uni Marburg und der RWTH Aachen zum Aufbau des Rudersport angestellt worden. Den Ruderern - damals Männersport - fehlte wegen des Krieges das Personal und auch Boote. Rudern aber war Pflichtfach in der Sportlehrer-Ausbildung.
Ich verdanke Frl. Nelke meinen Beruf und die Anstellung an der RWTH Aachen, der größten und bedeutendsten Technischen Hochschule Westeuropas. Aus dem Institut für Leibesübung wurde das Institut für Sportwissenschaft, und ich brachte es in der Philosophischen Fakultät zum Sportdozenten mit dem Lehrfach Biomechanik. Auf der Hochzeitsfeier meiner Schwester Ulrike in Rinkerode bei Münster in Westfalen hatte ich Luise Horstkötter kennengelernt und wir haben uns 1959 verlobt. Bei der Feier war sie Gast und mit meiner Mutter (rechts von ihr) und Luises Mutter (links von ihr) fotografiert worden.
Luise und ich haben Frl. Nelke in Rheine mit
VW AC - Z 184 oft besucht. Wir haben 1960 geheiratet
und sind 1961 in Aachen-Stadt in eine Mietwohnung
eingezogen. Wegen meiner anerkannten
Berechtigug Skifahren zu unterrichten, hatte ich in
Neukirchen am Großvenediger Studierenden Tourenskilaufen
(mit Steigfellen unter den Skiern die
Berge herrauf und um den Leib gewickelt ohne
wieder herrunter) angeboten. Ich hatte das Liftfahren
abgelehnt, weil es das Massenskilaufen ermöglicht
und die Berge verschandelt werden. Das
Tourenskilaufen war gut angenommen worden.
Weil ich dazu auch immer meine Frau und die
beiden ältesten Kinder mitgenommen hatte, hat Frl.
Nelke für Jürgen und Frank Jacken gestrickt.
Die Nachfrage nach Tourenskifahren ließ nach
etwa 10 Jahren nach. Ich fuhr nach Neukirchen
nur noch mit der Familie und auch die Kinder bevorzugten
die Liftpisten.
Den Bericht über meinen Vater Alfons Schober (siehe auch: Erinnerungen an Photo Schober, Betsche) möchte ich ergänzen mit diesem Foto als Klassenlehrer. Er war sehr musikalisch und spielte drei Instrumente: zuhause Flügel und Geige und in der Kirche Orgel. Er hatte es sich selber beigebracht. Als in Betsche der hauptamtliche Organist ausschied, wurde er durch Probst Krug, der von seinem Können wusste, eingesetzt. Mein Vater kam zu seinem zweiten ehrenamtlichen Beruf.
Am 1. Juli 1945 mussten wir Betsche verlassen und er fand Anstellung als Lehrer in Pritzerbe. Das rein evangelische Pritzerbe erhielt durch Flucht und Vertreibung katholische Familien. Für sie fand alle vier Wochen katholischer Gottesdienst in der evangelischen Kirche statt. Mein Vater wurde wieder ehrenamtlicher Organist und ich Ministrant. Mein Vater spielte alle Instrumente nicht auswendig sondern von Noten.
Da er im 1. Weltkrieg das rechte Bein verloren hatte, konnte er Orgeln nur einbeinig spielen. Er brachte sich Harmonielehre autodidaktisch selbst bei und schrieb mit der Hand ein 196seitiges Orgelbuch. Das Original hat meine Schwester Ulrike. Ich habe nur eine schlechte Kopie. Diese beiden Seiten habe ich mit dem iPad abfotografiert, bearbeitet und eingefügt.
Mein Vater war 1952 nach Ferchesar bei Rathenow (ohne Bahn- und Busverbindung) an eine nur zweitklassige Schule strafversetzt worden, hat 1954 die DDR verlassen und ist in den Westen abgehauen. In Rövenich, Krs. Euskirchen, hatte der kriegsblinde Pastor Lessenich die Pfarre übernommen, wünschte sich einen ebenfalls Kriegsversehrten als Organisten. Mein Vater bekam die vakante Lehrerstelle zu seinem Hauptberuf, wurde wieder nebenamtlich Organist und ich Privatdozent. Pastor Lessenich bereitete sich auf das Pfarrexamen vor. Ich übersetzte für ihn die kath. Morallehre aus dem Lateinischen ins Deutsche und diktierte sie ihm in die Blinden-Schreibmaschine. Mein Vater ging 1962 in Pension und starb am 26. Oktober 1980 mit 83 Jahren.
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