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Herybert Schulz Mein Leben im Zeitraffer
Text: Herybert Schulz; Fotos: Schulz, Archiv HGr, wikipedia.org
Am 22. März 1931 wurde ich in Oberwalde geboren.
Meine Eltern, Olga und Friedrich Schulz,
wohnten in Politzig. Wir wohnten im Haus der
Oma, nachdem der Opa 1927 ein neues Haus in
Politzig gebaut hatte. Der Opa hatte im Jahr 1903 ein Tiefbauunternehmen gegründet und hatte zur Zeit meiner Geburt zirka 100 Arbeitskräfte. Die Auftragslage war nach dem Ersten Weltkrieg günstig. Zur Zeit meiner Geburt war mein Vater im Tiefbauunternehmen Haase, Küstrin tätig. Hier sollte er noch Praktiken im Wasser- und Eisenbahnbau erwerben.
Im Laufe der Jahre vergrößerte sich unsere Familie um einen Bruder und eine Schwester. Die Schrecken und Wehen des Ersten Weltkrieges bauten sich schrittweise ab und der normale Betrieb lief entsprechend gut.
So lebten wir gesund und munter
in den Tag. Natürlich drehte sich alles um den
Betrieb, Urlaub und besondere Freizeit gab es
nicht. Familienfeiern wurden natürlich in Anspruch
genommen, die Geschwister meiner Eltern heirateten
in der Zeit, also im Zeitraum 1930 1938,
ich war dann auch bereits Schüler der Volksschule
Politzig. Zwei Lehrer bemühten sich, aus uns
brauchbare Menschen zu machen.
Der Ort Politzig war verkehrstechnisch an der Eisenbahn Frankfurt oder Posen angeschlossen. Nach dem Ersten Weltkrieg fuhren die Züge dann nur noch zwischen Reppen und Birnbaum. Die Stadt Birnbaum lag bereits in Polen, der Grenzübergang war am Bahnhof Wierzebaum. Täglich verkehrten die Züge dreimal in beide Richtungen also früh - mittags und zum Abend.
Unser Ort lag 7 Kilometer von der Kreisstadt
Meseritz entfernt. Im Dorf Politzig war eine der
evangelischen Kirchen mit den Anschlussgemeinden
Bobelwitz, Solben, Kulkau, Marienhof,
Janau und Reinzig. Der letzte Pfarrer nach Pastor
Weise war Pastor Schlegel. Herr Schlegel war
im Krieg auf der Schreibstube, Kaserne Meseritz
und hat uns 1942 - 1944 Konfirmandenunterricht
erteilt.
Zum Ort Politzig ist folgendes zu erwähnen:
Einwohner zirka 130 - 150. Das Rittergut Rodatz
bewirtschaftete circa 700 Hektar Acker-Grünland
und Forsten. Der Ort war zur Hälfte eingeschlossen
von der Obra. Die Obra entspringt oberhalb
von Neutomischel, erreicht bei Nasslettel den
Kreis Meseritz, durchfließt Tirschtiegel, Politzig,
Solben, Obrawalde, Meseritz, Obergörzig, Blesen
und mündet unterhalb von Schwerin in die Warthe.
In Blesen, Kreis Schwerin ist Anfang der 30er
Jahre eine Wasserkraftanlage errichtet worden.
In Politzig war ein Postamt, das die Orte Politzig,
Janau, Marienhof und Kalzig betreute. Der Ort
hatte einen Gasthof mit Saalbetrieb, eine Fleischerei
und Gärtnerei. Am Bahnhof war ein großer
Holzplatz, wo das Holz der anliegenden Wälder
zu Grubenholz verarbeitet wurde. Fast täglich gingen
Holztransporte zu den Kohlengruben des
Landes. Unsere Firma hatte am Bahnhof einen Lagerplatz,
wo Betonrohre und auch Brunnenringe aller
Größen produziert und vertrieben wurden.
In Politzig waren drei Obrabrücken: Einmal die Eisenbahnbrücke, die Strassenbrücke Meseritz - Betsche-Posen sowie die Schwemmbrücke auf dem Weg Kulkau-Marienhof. In trockenen Zeiten konnten die oberhalbliegenden Flächen mit Stauwasser versorgt werden.
In Politzig fand eigentlich stets ein geselliges Leben statt, Sport und Spiel gehörten zum Ablauf des Tages. Nach dem Ersten Weltkrieg bildete sich in Politzig ein Schützenverein. Es wurde ein Schießstand im ortsnahen Birkenwäldchen gebaut. Alle Jahre fand ein Schützenfest statt. Es waren 2 x 25 m und 2x 50 m Stände vorhanden. Wir Jungen haben in den Kugelfängen immer Blei für die Angeln gesucht. Auch Kinderfeste fanden hier statt.
In Politzig war immer etwas los. 1933 übernahmen
die Nazi-Strategen das kulturelle Leben des
Ortes. An dieser Stelle möchte ich hinweisen, dass
die Leute des Gutes Rodatz eigentlich sehr ortsfest
waren. Auf den Gütern war es allgemein üblich,
schnell den Brötchengeber zu wechseln. Dieses
Prinzip war hier nicht vorhanden. So ging das
Leben rastlos weiter.
Im Raum Hochwalde Kurzig - Kainscht
Starpel wurde eine Bunkerlinie gebaut, ein klotziger
Auftrag für die Firma Schulz, Politzig. Mit einem
Aufgebot an Feldbahnmaterial waren für etliche
Jahre Aufträge gesichert. Instandhaltungen
an der Obra, speziell Krautungen, wurden weiterhin
durchgeführt.
In der Zeit waren auch immer noch 60 - 70
Kollegen mit dem Aufbau eines Bahnhofes Neu
Bentschen beschäftigt. Es lief alles, wie es sein
muss. Leider wachsen die Bäume nicht in den
Himmel. Im September 1939 wurde der Krieg erklärt.
Der Nachbar Polen wurde zuerst überrollt,
immer weiter breitete sich der Wahnsinn aus. Nach
gut 2 Jahren war fast die ganze Welt gegen uns
und es ging uns an den Kragen.
Im Mai 1945 mussten wir uns ergeben. Ein Kapitel
Geschichte war besiegelt. Wie es uns während
des Krieges und danach erging, will ich hier
in kurzen Abrissen aufzeigen. Der Opa Paul
Schulz hat im Jahre 1941 das Tiefbauunternehmen
an seine Söhne Friedrich und Georg
übergeben. Opa hat sich nur noch mit seinem
Wald beschäftigt, den er sich zuvor vom Gut
Marienhof gekauft hatte. Die landwirtschaftlichen
Flächen wurden Landwirten in der Umgebung
verkauft.
Unser Vater war zeitweise Soldat und wurde
auch mehrmals wieder freigestellt. Onkel Georg,
Jahrgang 1906, war infolge seiner Invalidität vom
Wehrdienst freigestellt. 4 - 5 erfahrene Schachtmeister
im reiferen Alter und Onkel Georg waren
dann die Führungskräfte.
In unserer Familie Friedrich Schulz hatten wir
ein schweres Los zu ertragen: unsere kleine
Schwester Anneliese musste nach einer Ziegenpeter
Erkrankung ins Krankenhaus Meseritz und
starb nach einer Woche. Anneliese war 7 Jahre
alt. Sie war eben eingeschult und nun dieses
Schicksal. Im gleichen Jahr 1942 starben dann
noch die Eltern meiner Mutter im Bauchwitz. Das
Leben musste weitergehen. Zu allem Unglück war
auch noch Krieg mit Russland. Alle Leute waren
der Auffassung, den Krieg verlieren wir. Aus dem
Kreis der Bekannten ja auch aus der eigenen
Familie wurden Verletzte und auch Tote gemeldet.
Das Leben ging immer weiter. Seit 1942 besuchte
ich die Hauptschule in Meseritz. Ein neuer
Anfang im Leben. Im großen Rahmen waren wir
ja hier im Ostbrandenburg immer noch gut gefahren,
aber es war schon eine gewisse Unruhe in
der Bevölkerung. Hin und wieder flogen Bombenverbände
von West nach Ost und auch umgekehrt.
Im Juni 1942 wurde schon ein amerikanischer
Bomber am ersten Pfingsttag über Politzig abgeschossen.
Alle 9 Besatzer wurden gefangen genommen.
Den Flugzeugführer fand man später
tot im Kornfeld, bei der Mahd! Wir Konfirmanden
mussten fast jede Woche einen gefallenen Soldatenunseres Kirchenkreises überläuten. Die
Lage wurde immer ernster. Im Oktober 1944 holte
der Opa Paul Schulz die Schwiegertochter und
3 Enkelkinder von Tilsit, Ostpreußen nach Politzig.
Die ersten Treck Fuhrwerke aus Ostpreußen
machten sich auf den Weg in das Innere von
Deutschland. Der Krieg rückte immer näher, unsere
Schule wurde in der Zeit zum Lazarett umfunktioniert.
Wir mussten zur Oberschule. Nach
einem Monat war auch hier Schluss. Für uns war
die Schule vorbei. Im Dezember 1944 war die
Schule Politzig mit ihren 2 Klassenräumen
Flüchtlingsstützpunkt. In der Brennerei des Gutes
wurde ein Stützpunkt für Reinigung und Versorgung
eingerichtet. Alle Schüler ab 12 Jahre
waren hier rund um die Uhr eingesetzt, um die
immer ankommenden Flüchtlinge zu versorgen.
Erstaunlicherweise lief alles ruhig und gelassen
ab. Wir befanden uns in der Adventszeit, aber
keiner hat wohl daran gedacht. Wir hatten die
Flüchtlinge zu versorgen und sie weiter in das
Ungewisse zu schicken, das alles bei Temperaturen
von -10 bis -20 Grad. Was wird wohl noch alles
passieren? Glücklicherweise lief alles seinen
Gang.
Nach dem Weihnachtsfest befassten auch wir
uns mit der Flucht. Unser Vater war nicht zuhause,
wir hatten eine Sonderbaustelle auf der Strecke
Breslau Küstrin. Hier wurde das zweite Gleis
gebaut. Die ganze Firma war dort im Einsatz.
Notgedrungen musste das Vorhaben dann aber
stillgelegt werden. Die Männer mussten zum
Volkssturm. Erstaunlicherweise verlief alles in ruhigem
Rahmen ab. In dieser Zeit gab es keine
Leute, die Stimmung machten. Schon etliche Tage war die Straße nach Meseritz voll mit Fuhrwerken
mit Flüchtlingen.
Am 29.1.1945, einem Montag, bekamen wir
den Bescheid zur Flucht. Um 13 Uhr wurde ein
Zug von Meseritz nach Politzig rückwaÅNrts eingeschoben.
Vorher musste ich noch mit einem
Freund den Räumungsbefehl nach Solben (4,5
Kilometer) schaffen. Um 6 Uhr in der Früh sind
wir bei -25 Grad und 50 Zentimeter Schnee Höhe
los. Es hat alles geklappt. In Solben trafen wir den
Volkssturm. Mein Vater war nicht schlecht erstaunt,
uns hier zu treffen. Wir mussten uns sofort zurück
nach Politzig begeben. Auf dem Rückweg wurde
es dann auch hell. Es war eine aufregende Lage!
Die Mütter waren froh, uns wohlbehalten wiederzusehen.
Mit uns verließen noch zirka 100 Personen
aus Betsche ihre Heimat. Auf der Straße
eine unendliche Fuhrwerk- Kolonne. 3 Flak Geschütze
wurden noch am Reinziger Weg in Stellung
gebracht. Weitere Soldaten waren nicht zu
sehen.
Bis auf etwa 12 Männer im Alter zwischen 65
und 75 Jahren befanden sich alle Politziger im Zug.
Der Zug bestand aus der Lokomotive und ca. 20 -
25 Personenwagen, alte Zugwagen mit Einzelabteilen,
die von außen begehbar waren. Bei ca. 50
- 60 Zentimeter Schneehöhe sind wir auf freier
Strecke, also ohne Bahnsteig, eingestiegen. Um
ca. 14 Uhr waren alle Leute im Zug und die Fahrt
begann.
Erster Halt auf dem Bahnhof Bobelwitz, wo
etwa 20 - 30 Personen zustiegen. Es ging dann
auch gleich weiter, bis Meseritz. Auch hier stiegen
etliche Flüchtlinge zu. Viele kamen und nahmen
Abschied. Mit Anbruch der Dämmerung setze
sich der Zug in Bewegung. Die Strecke nach
Reppen war schon von russischen Panzern belegt.
Unser Zug, musste über Landsberg/Warthe
geschleust werden. Es war dann auch schon dunkel
geworden. Rechts in der Ferne von uns war
der Himmel ganz rot. Ein Großfeuer, meinte Herr
Binder, der in unserem Abteil mit seiner Frau war.
Nach einigen Kilometern waren die Fenster
dicht zugefroren, es war nichts mehr zu sehen.
Wir befanden uns in einem „gläsernen Sarg“. Es
gab viele Haltepunkte, die Fenster waren ein Eispanzer.
Wir müssen ab Landsberg nicht die Fernbahnstrecke
benutzt haben, sondern die Nebenstrecke
über Sonnenburg. Es gab viele Haltepunkte
vor Berlin standen wir auch längere Zeit, um
nicht in den Trubel der Bombenangriffe zu geraten.
In Berlin Pankow haben wir dann die Lok mit
Wasser und Kohlen versorgt und wurden dann
durch das brennende Berlin geschleust. Es war
eine Fahrt mit Hindernissen. In unserem Abteil
waren Kaufmann Fechner und Frau, Herr Binder
und Frau, meine Mutter, Bruder Dieter und ich.
Es wurde wenig gesprochen, jeder hat sich wohl
seine Gedanken gemacht. Gegen Mittag gab es
einen längeren Aufenthalt im Bahnhof Nauen.
Über Lautsprecher wurde bekannt gemacht, daß
keiner den Zug verlassen durfte. Die klirrende
Kälte war hier nicht mehr vorhanden, es waren
etwa noch -10 Grad.
Nach einer Verpflegung ging die Fahrt weiter
ins Ungewisse. Eine längere Pause wurde dann
in Neustadt Dosse eingelegt. Auch hier gab es
wieder Versorgung aller Art. Das Rote Kreuz war
überall zur Stelle. Mit Einbruch der Dunkelheit ging
es weiter über Kyritz, Blumenthal, Bölzke. Auf jedem
Bahnhof gab es Zugkreuzungen. Noch war
es immer eine Fahrt ins Ungewisse für uns alle.
Aber es gab keine Panik, und das war gut. Es war
nun schon wieder dunkle Nacht und natürlich
waren alle voller Spannung. Wo werden wir wohl
ausgeladen?
Auf einen Schlag im freien Feld, eine lange
Kurve der Zug steht. Es ist kurz vor 21:30 Uhr.
Alles ist still um uns. Ein Loch in das vereiste Fenster
gehaucht. Wir stehen auf einem Feld, hier stehen
wir 3 Stunden. Es ist ständig ein Brummen in
der Luft. Später stellte sich heraus, dass wir unter
der Flugschneise nach Berlin standen. Um 1 Uhr
ein langer Pfeifton aus der Lok und es ging weiter.
Fast im Schritttempo fuhren wir ein in den
Bahnhof Pritzwalk.
Nach 36 Stunden Bahnfahrt von Politzig bis
Pritzwalk haben wir unser Ziel erreicht. Pritzwalk
war damals eine ländliche Kleinstadt mit rund
10.000 Einwohnern. Die Stadt hatte eine Tuchfabrik.
Mit fast 2000 Angestellten in Pritzwalk wurden
Uniformtuche aller Waffengattungen hergestellt.
Hier in Pritzwalk war leichtes Tauwetter eingetreten. 80 Mädchen und Jungen schafften auf
Schlitten unser Gepäck zu einem großen Saal.
Hier wurden wir erst einmal untergebracht und
natürlich auch gut beköstigt. Wir alle waren ja total
abgespannt. Erst einmal das Ungewisse vor
der Flucht, Treck oder Zug? Wann und wie? Das
war schon fast 3 Wochen lang unser Problem. Nun
waren wir erst einmal weg von der anrollenden
Front. Bis etwa 3 Uhr hat der Umzug vom Bahnhof
zum Saal im Gasthaus gedauert.
Wie wird es wohl weitergehen? Die Anspannung
nahm kein Ende. Es war aber alles gut organisiert.
Die Mütter mit den kleinen Kindern und
auch die älteren Leute wurden zuerst betreut. Natürlich
war an Schlaf nicht zu denken. Die strenge
Kälte mit -25 Grad war vorbei, es setzte Tauwetter
ein. Ab etwa 7 Uhr wurden dann schon die
ersten Personen aufgerufen oder angesprochen,
die Quartiere aufzusuchen. Bis auf die Schwerbehinderten
ging es dann wieder zum Bahnhof,
zu Fuß.
Mit einem Triebwagen der Reichsbahn
wurden dann die Flüchtlinge in Etappen in den
Raum Putlitz - Suckow verteilt. Zirka 80% der
Flüchtlinge aus dem Raum Betsche haben sich
nie wieder gesehen. Gegen 16 Uhr war der Saal
dann fast leer. Ja, es kamen schon wieder neue
Transporte an.
Aus unserer Familie waren soweit alle untergebracht,
nur unsere Mutter, mein Bruder 11 Jahre
und ich waren noch nicht untergebracht. Wir waren
für eine Familie vorgesehen, die keine Leute
in der Wohnung haben wollten. Der Amtsleiter
musste hier Ordnung schaffen. Um 23 Uhr waren
wir dann auch an Ort und Stelle. Unsere Mutter
hat sich sehr aufgeregt. Alles wird gut, sagt man
oft, und so kam hier auch alles in Ordnung. Eine
Stunde später konnten wir bereits ein Bad nehmen,
während die Oma ein deftiges Abendbrot
zubereitete. Wir hatten ein neues Zuhause, wir
brauchten nicht zur Schule. Pritzwalk war total überbelegt mit Flüchtlingen. Ich hatte bald einen Freund, dessen Eltern das Kino hatten. Alle Wochen zweimal neue Filme. Für die Nachmittagsvorstellung war ich Platzwart, so gut ist es mir noch nie ergangen. Am Vormittag sind wir mit Oma zum Hainholz Wäldchen gegangen und haben trockenes Holz gesammelt. Wir hatten uns gut eingelebt, meine neuen Freunde wollten mich immer von den Pimpfen überzeugen, daraus ist nichts geworden. Für mich war der ganze Parteikram Geschichte. Der Krieg war verloren und wir Ostdeutschen heimatlos in Pritzwalk. Direkt waren etwa 20 Personen aus Politzig eingebürgert. Wir hatten gute Kontakte untereinander.
Meine Wirtin war eine strenge Kirchgängerin, natürlich wurde ich zum Konfirmandenunterricht angemeldet. Ende März war die Konfirmation. 130 Flüchtlinge wurden konfirmiert, davon zirka 30 aus Trecks, die zu der Zeit in Pritzwalk standen. Meine Mutter hatte 4 große Gläser Gänsefleisch mitgenommen. Oma und Opa, er kam extra aus Berlin, waren auch da. Oma fuhr dann mit Opa nach Berlin. Er wollte näher an der Heimat sein.
Die Großeltern sind dann auch gleich nach dem
Krieg zu Fuß die rund 180 Kilometer Strecke mit
Tante Trudchen und 2 Kindern nach Hause gelaufen.
Ihr Haus in Politzig war ausgebrannt. Sie
wohnten dann 3 Wochen in unserem Haus und
mussten am 26.6.1945 wieder ihre Heimat verlassen.
Die Oma ist danach auch bald verstorben.
Oma Auguste war eine Super-Oma. In meiner
Freizeit war ich früher viel bei ihr. Die jüngste
Tochter, Tante Trudchen, wohnte in Berlin.
Mehrmals war ich mit Oma bei Hartmanns in
Berlin, Großbeerenstraße 20, in Berlin Kreuzberg.
Nun war der Opa allein. Er war bei der ältesten
Tochter Anna in See bei Niesky. Er kam noch
zweimal zu seinen Söhnen. Nach Neu Krüssow
und Bölzke. Opa starb 1948 und fand auch in
Niesky seine letzte Ruhestätte.
Nun wieder zurück in die Vergangenheit. Die
Konfirmation im geborgten Anzug war gut verlaufen,
es gab natürlich auch Tränen. Wo werden wohl
die Männer sein? Noch waren schwere Kämpfe
im Raum Seelow, Berlin. Amerikaner und Engländer
waren bereits an bereits an der Elbe. Immer
wieder neue Trecks auf dem Horst-Wessel-Platz.
Wo sollen nur die vielen Menschen hin?
Heute haben wir den 15.4. 1945. Am frühen
Nachmittag kommt ein Zug mit Tieflader-Waggons
und hält auf dem Güterbahnhof am Flakturm. Wir
sind mit Heinz Böttcher am Kino und wollen das
Theater öffnen. Heute haben wir den Film, „Es
fängt so harmlos an“. Es kommen die Kinogänger
und auch die Kassiererin. Wir gehen zum Kino,
es sind zurzeit viele Leute in Pritzwalk und die 2
Vorstellungen sind gut besucht. Nach der Vorstellung
schauen wir zum Bahnhof und stellen fest,
der lange Zug mit den abgedeckten Planen steht
noch im Bahnhof. Es wird schon alles seine Ordnung
haben.
Wir gehen also unseren Weg nach Hause. Es
gibt dann auch bald Abendbrot, oft ist um diese
Zeit Stromsperre, heute ist noch alles klar. Wir werden
noch die Nachrichten hören und dann ist Bettruhe
angesagt. Um 21 Uhr etwa kommt Frau
Hedwig Vogelsang und sagt: „Auf dem Bahnhof ist alles hell!“ Komische Lage.
Wir werden uns anziehen während des
Anziehens eine sehr starke Detonation, alle Scheiben
mit Rollos fliegen aus der Wand! Es ist taghell,
der ganze Bahnhof. Wir müssen in den Keller.
Alles ist versperrt. Ich habe eine Kopfverletzung,
die stark blutet. Ich habe eine lange
Kopfwunde und die Hände voller Glassplitter. Mein
Bruder Dieter macht den Weg frei zum Keller. Im
Keller steht 25 Zentimeter Wasser. Der Zulauf lässt
nach, wir sind alle im Keller, auch die Nachbarn.
Meine Kopfwunde ist verbunden. Herr Vogelsang
gibt mir einen Schnaps, es geht mir etwas besser,
noch ein Weinbrand. Alles ist gut draußen.
Die zweite Detonation und dann in kurzen Abständen
weitere. Was ist nur da draußen los?
Später kommen Soldaten in den Keller und wir
erfahren die Ursachen dieser ungeheuren Lage.
Aus dem Zug mit V 2 Raketen sind nach Beschuss durch Tiefflieger die Raketen reihenweise explodiert, um etwa 2 Uhr hat sich alles beruhigt. Wir waren alle schockiert von den gewaltigen Explosionen. Etwa 8 - 10 Detonationen erschütterten die abendliche Stille. Nun war die Feuerwehr im Einsatz. Eine ältere Frau aus der Nachbarschaft ist tödlich verletzt worden, sonst waren keine weiteren Verletzungen zu beklagen. Mein Kopf wurde behandelt, die Blutungen hörten auf. Noch am Vormittag wurde ich von einem Stabsarzt der Wehrmacht behandelt. Verbandszeug war knapp. Mutters Schal wurde als Außenverband genutzt. Bis Pfingsten soll der Verband so erhalten bleiben. Wir haben auch dieser Anweisungen Folge geleistet.
Es wurde erklärt, daß wir noch während des
Tages auf einem Dorf im Umfeld von Pritzwalk eine
neue Bleibe erhalten. Unsere neue Bleibe erhielten
wir in Neu Krüssow bei Frau Helene Reibe,
eine ganz nette ältere Bäuerin.
Das Haus war schon voller Leute 4 Personen aus Köln am Rhein und 5 Ostarbeiter und wir Familie Kietopf aus Betsche 4 Personen und 3 Personen Familie Schulz aus Politzig. An Bekleidung hatten wir nur, was wir auf dem Leib hatten. Unsere Habseligkeiten lagen unter Trümmern in Pritzwalk. Frau Reibe war so nett und besorgte uns notwendige Sachen aus dem Dorf. Mit uns nach Neu Krüssow kamen Frau Bauer Fechner mit Tochter und Frau Herter aus Janau mit Sohn.
Der 16. April 1945 war für uns ein besonderer
Tag im Leben. Ich habe meine Mutter
immer wieder getröstet. Wir waren auf dem Land,
werden hier arbeiten und auf unseren Vater warten.
Tante Ida mit den Kindern wurde in Bölzke
einquartiert. Tante Anna konnte mit den 3 Kindern
bei Tischler Schaade bleiben. Die Witterung war
in diesem Jahr ausgesprochen gut. Wir lebten uns
bald im Dorf ein. Noch war der Krieg im Gange.
Täglich Tieffliegerangriffe auf die Bevölkerung.
Es war eine angespannte Zeit. Am dritten Tag nach
unserer Ankunft in Neu Krüssow bin ich mit Ursel
Fechner, 17 Jahren, nach Pritzwalk gelaufen. Es
waren 7 Kilometer. Noch stiegen aus vielen Brandherden
Rauchschwaden auf. Es roch erbärmlich.
Unsere Wirtsleute wohnten jetzt bei Verwandten
am Markt. Sie trugen sich aber mit der Absicht,
die Heimat zu verlassen und in Richtung
Lübeck zu Verwandten unterzukommen. Keiner
wollte etwas mit den Russen zu tun haben.
Meine Mutter war dafür nicht zu begeistern,
unser Vater ist hier, und wir bleiben auch hier. Es
war auch richtig so. Am 31. März um etwa 18 Uhr
waren dann die ersten 3 Panzer in Neu Krüssow.
Kämpfe gab es hier nicht mehr. Wir waren mitFamilie Fechner im sicheren Keller bei Bauer Giese. Die Tür wurde eingeschlagen und der
Raubzug begann. Nicht mehr daran denken. Alle
4 Pferde aus dem Stall geklaut, 2 Kühe geschlachtet.
Ich musste die Einweckgläser vorkosten usw. Bei uns hier nannte man das Gebaren „Tag der Befreiung“. Der Ort bekam dann auch Einquartierung und damit zog auch etwas Zucht und Ordnung ein. Bis zur Elbe waren es noch rund 50 Kilometer. Am 2.5.1945 war die Prignitz besetzt. Frau Reibe hatte 5 kräftige Ackerpferde, alle 5 waren am nächsten Tag verschwunden.
Zum Ort Neu Krüssow wäre zu sagen: rund 55
Einwohner, 500 Hektar Acker, Wald und Grünland,
guter Boden, wenig Grünland, evangelische Kirche,
Schule, Gasthof und Kolonialwaren, ein
Runddorf! Wir haben uns dort bestens eingelebt.
Später viele Feste gefeiert und bis heute noch
freundschaftliche Verbindung.
Ob es uns in Pritzwalk auch so gefallen hätte,
wie hier das dördörfliche Leben, das ist die Frage.
Ich hatte immer noch den Kopfverband, und
wir waren oft auf dem Feld und haben Unkraut
entfernt. Die kräftigen Butterstullen haben uns
gesund erhalten. Nach etwa 3 Wochen war die
Molkerei in Sadenbeck im Betrieb. 8 Betriebe
waren für den Milchviehtransport nach Sadenbeck
verantwortlich. Frau Helene Reibe, unsere Wirtin,
hatte von 9 Stück Milchvieh nur noch 3 Kühe. Mit
6 Stück Milchkühen sind die Befreier abgehauen.
Tausende Rinder sind auf dem Weg nach Russland
umgekommen.
Wir hatten ausreichend Beschäftigung auf der
großen Wirtschaft. Am Pfingstsamstag wurde
dann mein Kopfverband entfernt, ich wurde richtig
gewaschen und Gerhard Flachmann, ein Lehrling
im zweiten Lehrjahr, hat mich frisiert. Aus einer
Viehherde, die auf dem Weg zur Ostsee war,
musste ein großer Bulle geschlachtet werden. Er
konnte nicht mehr laufen. Frau Reibe hatte 55 Kilo
Fleisch bekommen und wir 14 Personen hatten
einen super Rinderbraten.
Es gab in dieser Zeit gute und auch böse Zeiten.
Im ersten Jahr nach dem Krieg hatten wir
keine Zugtiere. Die Nachbarn haben uns geholfen.
Nach der Ernte wurde jede Nacht auf einem
Hof gedroschen. Der Lanz Bulldog von Bauer Krüger
war Tags auf dem Acker und des Nachts auf
einem Hof zum Dreschen eingesetzt.
Der Winter
1945/46 war sehr kalt, die Futterrüben steinhart
gefroren. Im November 1945 kam plötzlich mein
Vater aus der Gefangenschaft aus Posen, völlig
entkräftet bei uns an. Er hatte die Adresse von
Tante Emma aus Berlin. Ein Weihnachtsgeschenk!
Nach etwa 2 Monaten konnte er dann leichte Arbeiten
verrichten. So normalisierte sich die Lage
schrittweise.
3 Jahre waren wir dann auf dem Hof von
Helene Reibe. Die Eltern meines Vaters sind verstorben
und mein Vater sowie sein Bruder beantragten
eine Gewerbegenehmigung beim Rat des
Kreises Kyritz, Ostprignitz. Frau Reibe hatte für
ihren Betrieb einen Pächter. Erstaunlicherweise
hatten wir nach 2 Monaten den Bescheid in der
Tasche, es gab wieder ein Tiefbauunternehmen
Friedrich und Georg Schulz Neu Krüssow, Kreis
Ost Prignitz. Ein neuer Lebensabschnitt begann.
Seit 2 Jahren wohnen wir nun schon im Deputat
Haus von Frau Reibe. Das Haus ist uralt und
mit Rohr abgedeckt. Ein großer Ofen hält das Haus
warm. Die Brüder Friedrich und Georg haben 1938
von Opa das Tiefbauunternehmen übernommen.
Nun soll es hier in der Prignitz weitergeführt werden.
Die ersten Arbeitskräfte sind bereits im Geschäft,
wir haben zurzeit Aufträge vom Wiesenbauamt,
Kyritz auf drei Baustellen in Stepenitz,
Brüsenhagen und Barenthin. Eine vierte Baustelle
innerhalb der Stadt Pritzwalk ist im Entstehen.
Werkzeuge konnten wir uns von der bekannten
Firma Rohwedder beschaffen.

Das Geschehen nahm seinen Lauf, nachdem
das Wasserwirtschaftsamt Neuruppin von unserer
Firma Gehör hatte, kamen später 2 Baustellen
hinzu. Uferbefestigung rund 6500 Meter an der
Löcknitz in Lanz und Ausbau des Holzwiesengrabens
bei Bentwisch. Eine Dauerbaustelle mit
12 - 15 Arbeitskräften bildete sich in der Stadt
Pritzwalk. Es war ausreichend Arbeit vorhanden.
Nach der Spargelernte kamen zirka 15 Frauen
zu uns und reinigten die Brandschutzstreifen der
Eisenbahnstrecken.
Im weiteren Verlauf übernahmen wir Drainagearbeiten
speziell auf den Gütern Zernikow, Groß
Langerwisch und Kammermark. Das Auftragsbuch
war gefüllt. Zwischen den Zeiten sind in bestimmten
Gemeinden die Vorflutgräben gereinigt worden.
Es lief soweit alles gut ab. Im Ablauf der Jahre
lernte ich in Uenze meine zukünftige Frau Eva
Jahnke kennen. Am 17.6.1954 war die Hochzeit.
Wir wohnten 6 Jahre bei unseren bei den Schwiegereltern,
die eine Landwirtschaft und Gaststätte
bewirtschafteten. So wurde ich nebenbei noch
Kellner.
1960 konnten wir in Wittenberge eine Neubau
Wohnung beziehen. In der Zwischenzeit ist die
Familie um 3 Buben grösser geworden. Eckart,
der älteste wurde dann auch gleich in Wittenberge
eingeschult. Aufgrund der gesellschaftlichen
Entwicklung ist unser Betrieb im Herbst 1959 mit
noch 2 Betrieben zum VEB Tiefbau, Pritzwalk zusammengeführt
worden. Ich konnte dann auch im
2. Winterhalbjahr die Meisterschule in Blankenburg/
Harz besuchen.
Bis zum Rentenalter meines Vaters war ich
dann noch Bauleiter beim VEB Tiefbau, Pritzwalk.
In der Zeit waren wir mit rund 20 Arbeitskräften in
Buna um 16 Rohrbrückenfundamenten zu errichten.
Des Weiteren lag der Bau mehrerer Raketenstützpunkte
an. Meine Strecke lag im Wasserbau.
So wechselte ich 1962 zur Wasserwirtschaftsdirektion
in Magdeburg, Domplatz 9, als Flussmeister
über. Nach einem Jahr begann das Studium
Wasserbau in Fürstenwalde.
Es kam also keine Langeweile auf. 5 Jahre lang
mussten wir 4 Kollegen freitags und oft auch noch
samstags nach Friedrichsmoor zur Konsultation.
1967 war dann alles geschafft. Nach einer
Strukturveränderung in der Wasserwirtschaft kamen
wir Prignitzer zur WWD (Wasserwirtschaftsdirektion)
Küste Stralsund. Da ich zur Gewässeraufsicht
kam, musste ich noch 2 Jahre Studium
in Magdeburg absolvieren. Mit dem Abschluss fiel
dann auch die DDR in den Abgrund. Auch ich hatte
das Rentenalter erreicht und kann auf eine erfolgreiche
Bilanz zurückblicken. Es war eine strenge
Zeit. Ein Leben lang im Sperrgebiet zu arbeiten,
ist schon ein Hammer.
Es war hart, aber auch lehrreich. Noch oft denke
ich an die Zeiten der Elbe Hochwasser zurück. Die Prignitz war unsere zweite Heimat, es war eine
kameradschaftliche Zusammenarbeit mit allen Institutionen.
Wir haben uns hier eingelebt! Danke!
Heimatfreund Herybert Schulz verstarb am 14. Oktober 2024 im 94. Lebensjahr in Wittenberge.

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