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TEIL 2 Als Großpolen „Warthegau“ hieß Leonhard v. Kalckreuth In Anknüpfung an meine Erinnerungen „Eine Kindheit in Polen“ berichte ich, welch dramatischen Veränderungen sich in unserem Leben ab dem September 1939 ergaben. Aus Sicherheitsgründen, d.h. um nicht wie viele andere Volksdeutsche in das Innere Polens verschleppt zu werden, hatte unsere ganze Familie nach einer Warnung durch einen Vetter meiner Mutter, der deutscher Stabsoffizier war, Muchocin am 19. August per Pferdekutsche an einer unbewachten Stelle über die „grüne Grenze“ verlassen und harrte in Obergörzig der Dinge, die da kommen sollten. Mein 1931 geborener Bruder und ich besuchten die Obergörziger einklassige Volksschule, die von Kantor Heinze geleitet wurde. Unser Vater wurde dem Stab der 3. Infanterie-Division als Dolmetscher zugeteilt und war nach Kriegsausbruch in Westpreußen tätig. Unser Verschwinden war in Birnbaum nicht unbemerkt geblieben; „Kalckreuth ist fort“, flüsterten die Birnbaumer Polen sich voller Schrecken zu und folgerten daraus, daß es ernst würde. In Muchocin hatte sich in den Tagen um den 1.9.1939 nicht viel Aufregendes ereignet. Polnische Stellen hatten in aller Eile unser sämtliches Vieh beschlagnahmt, das in Richtung Osten fortgetrieben wurde. Wegen der zum Teil gesprengten Warthebrücken wurde Muchocin am 3. September von einer deutschen Pioniereinheit besetzt. Meine Mutter kehrte schon wenige Tage später per Fahrrad nach Hause zurück. Eine Grenze gab es nicht mehr, nur eine militärische Kontrolle. In den folgenden Wochen versuchte meine Mutter, unser Vieh wenigstens teilweise wiederzufinden und zurückzuholen. Zu diesem Zweck fuhr sie, begleitet von unserem Brennereimeister Wittchen und dem „Schweizer“ Paluszak in unserem 1939 gekauften „Adler Trumpf Junior“ kreuz und quer in den Nachbarkreisen herum. Bei Samter wurden sie fündig. Da weideten auf verlassenem Feld unsere Kühe wenigstens behauptete Paluszak, sie wiederzuerkennen. Unweit davon entdeckte man auf einem Stoppelschlag unseren alten Schäfer Halaszkiewicz inmitten unserer Schafherde immer noch gelassen auf seinen Schäferstab gestützt, indes sein flinker schwarzer Hund wie eh und je die Tiere zusammenhielt. Unvergeßlich das Bild, wie er nach einigen Tagen an der Spitze seiner wolligen Zöglinge in den heimatlichen Bezirk einzog, seine Töchter ihm entgegeneilten und dem Vater ehrfurchtsvoll die Hand küßten…….. Schließlich fanden sich auch unsere Ackerpferde nach und nach wieder ein. So befreit und stolz man war, nun nach zwanzig Jahren unter fremder, schwieriger Obrigkeit wieder dem Deutschen Reich anzugehören, so stießen uns doch bald die Methoden ab, mit denen die neuen Machthaber nicht das Militär, aber das Heer der ihm nachfolgenden „Goldfasanen“ von der NSDAP gegen die Polen vorgingen. Gerade die alteingesessenen Deutschen, die sich auf den Umgang mit den Polen verstanden, waren entsetzt, zum mindesten schockiert. Von ahnungslosen Kreis- und Ortsgruppenleitern aus Heilbronn oder Hildesheim, aus Emden oder Erfurt, die in ihrer Heimat zu großen Teilen beruflich versagt hatten, wurde in Versammlungen auf Plätzen und Märkten brüllend verkündet, daß nunmehr die Deutschen die Herren seien und die Polen die Knechte. Man handelte auch danach. Eine nach der anderen wurden die katholischen Schulen und Kirchen geschlossen, die Meßgeräte eingeschmolzen. Die gesamte polnische Intelligenz wurde, soweit sie nicht (wie der katholische Klerus) in KZs kam, nach Osten in das Generalgouvernement abgeschoben, wo sie bitterer Not ausgesetzt war. Wo, wie in den Städten wie Birnbaum, ein Bürgersteig vorhanden war, mußte dieser von Polen geräumt werden, wenn Deutsche entgegenkamen. In der Posener Straßenbahn wurde eine Art Apartheid eingeführt, die Polen wurden nur in für sie bestimmten Wagen befördert. Sehr bald nach dem Ende des Polenfeldzugs führten die Behörden auch im Warthegau eine Maßnahme durch, die ab Mitte der 30er Jahre schon im „Altreich“ flächendeckend durchgeführt worden war: das Umbenennen auch nur entfernt an slawischen Ursprung erinnernder Ortsnamen in „rein deutsche“. Waren diesem Kulturfrevel im Kreis Meseritz so schöne Ortsnamen wie Rybojadel, Stalun und Zielomischel zum Opfer gefallen, so vergriffen die Nazis sich auch im Kreis Birnbaum an Ortsnamen, die schon in grauer Vorzeit auf Karten zu finden gewesen waren wie Zattum (Fährdorf), Kwiltsch (Lärchensee), Gorzyn (Willichsee) usw.. Muchocin wurde umbenannt in Kalckreuth. Es versteht sich von selbst, daß es in unserer Familie tabu war, Muchocin je anders als „Muchocin“ zu nennen. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, daß gewisse Heimatvertriebene bis heute an diesen kurzlebigen Nazi-Ortsnamen festhalten; offensichtlich haben sie nicht erkannt, daß die Änderung der Ortsnamen den endgültigen Verlust ihrer Heimat eingeläutet hat. Eine Besonderheit im Hinblick auf die Klassifizierung der Bevölkerung im „Warthegau“ bildete das Einführen der „Deutschen Volksliste 1-4“, wobei die Behörden sich vorbehielten, Menschen, deren Deutschtum nicht 100%ig offensichtlich war, in die Kategorien 2-4 zu stecken. Nun gab es im Kreis Birnbaum eine „Schwimmschicht“ von Menschen, die ähnlich wie die Oberschlesier sehr schwer in ein solches Raster einzupassen waren, weil sie Wurzeln in beiden Ethnien hatten. Diese Tatsache führte zu grotesken Bemühungen Einzelner, sich auf jede nur denkbare Weise als „würdig“ darzustellen, einer besseren Volksliste anzugehören. Zu solchen Versuchen gehörte z.B., meinen Vater um ein bei der NSDAP vorzuzeigendes Leumundszeugnis zu bitten, das etwa den Zugang zum Öffentlichen Dienst usw. möglich machte. Ein Schlawiner, der sich nach genauer Kenntnis meines Vaters während der polnischen Zeit als glühender polnischer Patriot dargestellt hatte, strebte den Posten eines Briefträgers an, wofür er, seinerzeit in Liste 4 eingereiht, mindestens der Liste 3 hätte angehören müssen. Um eine entsprechende Empfehlung gebeten, lehnte mein Vater in dem sicheren Bewußtsein ab, daß der Krieg verloren gehen würde und der gute Mann dann entweder massive Schwierigkeiten mit den Birnbaumer Polen haben würde oder mit den Deutschen zu fliehen gezwungen gewesen wäre. Diese Überlegungen konnten dem Mann 1940 natürlich nicht vermittelt werden; 1945 mag ihm ein Licht aufgegangen und er meinem Vater dankbar gewesen sein……..
Der unfähige deutsche Inspektor wurde entlassen, seinen Platz nahm ein tüchtiger junger Pole ein. Mein Vater hatte in seiner Stellung beim „Oberbefehlshaber West“ gute Beziehungen zu dem dortigen Ic (Dritter Generalstabsoffizier, zuständig für die Feindlage). Dieser hatte ihm die wahren Kräfteverhältnisse bei den Gegnern Deutschlands, insbesondere den USA, unmißverständlich klargemacht. Mit nüchternem Verstand ausgestattet, schlußfolgerte mein Vater und machte dies auch meiner Mutter klar - , daß unser Dasein im Osten in wenigen Jahren ein für alle Mal zu Ende gehen werde. Eine erste Konsequenz aus dieser Erkenntnis (in die meine Eltern wegen der Gefahr, des Defätismus beschuldigt zu werden, nicht einmal allerengste Verwandte einweihen konnten) war, daß schon im Sommer 1943 ein Berufsfotograf beauftragt wurde, sämtliche für einen Gutsbetrieb wie Muchocin relevanten Motive mit einer Plattenkamera festzuhalten. Dies hat zur Folge, daß ich bis heute an Hand zweier Alben mit vielen großformatigen, gestochen scharfen, Fotos Jedem ein sehr plastisches Bild vom Alltag unseres Muchociner Lebens vor Augen führen kann (s. HGr 196). Selbstverständlich wurden in diesem Zusammenhang auch Überlegungen angestellt, wie wichtige Akten, Bilder und Sachwerte rechtzeitig nach Westen in Sicherheit gebracht werden konnten. So hatten wir etliche Kisten mit Büchern, Wäsche und Porzellan sowie einige in Latten eingeschlagene Betten sehr rechtzeitig per Bahnfracht zu den Eltern meiner Mutter nach Weimar geschickt. In eine alte lederne Handtasche verpacktes Silber brachte unser zuverlässiger Förster Ullrich (s. HGr 196) 1944 nach Thüringen zu einer Cousine meiner Mutter; keine Polizei hatte in Berlin oder Halle den alten Schnauzbart in seiner grünen Uniform angehalten. Um Weihnachten 1944 begannen wir in Muchocin damit, längsseits über die stabilsten Acker- (Kasten)-wagen feste Holzbügel anzubringen, auf die man Teppiche legen konnte, durch die Fahrer und Transportgut vor Regen, Schnee und Kälte geschützt waren. Dies durfte nicht zu offensichtlich geschehen, wachten Gauleiter Greiser und seine Kreisleiter doch großsprecherisch darüber, daß niemand Fluchtmaßnahmen traf. Als die Russen am 12.1.1945 ihre Großoffensive aus dem Weichsel-Brückenkopf Baranow starteten, waren wir in Muchocin wohlvorbereitet, binnen weniger Stunden auf einen Treck zu gehen. Er sollte 4 Wagen mit je 3 Pferden umfassen, von denen einer von meiner Mutter, die anderen drei von loyalen polnischen Gespannführern (mein Bruder und ich waren auf Internaten in Thüringen bzw. Hessen) gefahren werden sollten. Nun bedurfte es nur noch einer offiziellen Erlaubnis, loszufahren. Da, am Abend des 20.1., kam ein Anruf von der Birnbaumer Kreisbauernschaft: „Sie haben zwecks Rückführung der Bevölkerung sofort Ihre bespannten Ackerwagen mit Fahrern nach Birnbaum auf den Markt zu schicken. Ende.“ Dies war das Zeichen zum Handeln, aber nicht so, wie die „Partei“ es sich vorgestellt hatte. Zwar wurden alle nicht für unseren Treck vorgesehenen Gespanne nach Birnbaum geschickt. Sie können aber nicht weit gekommen sein, denn, wie uns später berichtet wurde, fanden sie sich wenige Tage später wieder zu Hause ein. Bei dickem Schneefall und -12˚ setzte der Treck sich nach Mitternacht in Bewegung. Sein Weg führte über Striche und Wierzebaum nach Prittisch, wo Freunde lebten, die nicht schlecht erschraken, als ihnen durch den Anblick unseres Trecks klar wurde, daß bald auch für sie die Stunde eines Abschieds für immer schlagen sollte. Übernachtungsstationen auf dem Weg zur Frankfurter Stadtbrücke waren Königswalde und Frauendorf. Alle Bedenken, es könnte schwierig sein, diese Brücke zu überqueren, waren umsonst. In ihren Erinnerungen schrieb meine Mutter: „Doch o Wunder! Als wir über sie dahinrollten, war die lange, steinerne Brücke von der Dammvorstadt zum gegenüberliegenden Frankfurt so gut wie leer. Nichts deutete darauf hin, daß sich hier in ein oder zwei Tagen die Wagenzüge stauen und stunden-, ja tagelang auf die Brückenpassage würden warten müssen, - daß manche Trecks endgültig zu spät kommen würden. Der weitere Treckverlauf bis in den Kreis Kölleda/Thüringen verlief vollkommen glatt. Nach Kriegsende verließen uns die Muchociner Gespannführer, die von Februar bis Mai auf dem Gut der Cousine meiner Mutter beschäftigt worden waren. Ende Juni mußten 3 Wagen neu angespannt werden, als Kutscher kamen neben meiner Mutter nun mein Bruder und ich zum Einsatz. Am 30.6.45, einen Tag, bevor die Russen ganz Thüringen besetzten, rollte unser Treck bei Duderstadt über die thüringisch-niedersächsische Grenze. So war das seit 1580 andauernde Wirken meiner Familie in Großpolen ein für alle Mal zu Ende gegangen.
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