Die Flucht der Fischer von Mollards
von Albrecht Fischer v. Mollard

Teil 2: Nach der Flucht – Neubeginn westlich der Oder

Die mediale Berichterstattung über Flüchtlinge (2016), die aus Kriegsgebieten nach Deutschland kommen und hier Aufnahme suchen, mag bei so manchem Heimatfreund Erinnerungen an die Flucht der eigenen Familie wecken.
Dabei ist die heutige Situation mit der vor sieben Jahrzehnten nur sehr bedingt oder gar nicht vergleichbar, denn heute gehört Deutschland zu den reichsten Ländern der Erde, während damals Millionen Menschen aus dem Osten in ein vom Krieg zerstörtes, ausgelaugtes Mittel- und Westdeutschland fluteten, wo sie zwar keineswegs immer mit offenen Armen empfangen wurden, sich aber zur Verständigung wenigstens ihrer Muttersprache bedienen konnten.

Die früher häufig als „schwere Zeit“ bezeichneten Nachkriegsjahre sind längst überstanden, vergessen, bisweilen vielleicht auch verdrängt. Nahezu alle Erwachsenen, die damals - oftmals traumatisiert von den Erlebnissen der Flucht – entwurzelt und fern der geliebten Heimat in einer durchaus nicht immer solidarischen Gesellschaft um und für das Überleben ihrer Familien kämpfen mußten, sind inzwischen verstorben und stehen als Zeitzeugen nicht mehr zur Verfügung. Es ist wohl hauptsächlich dem preußischen Ordnungssinn meiner Großeltern in Goslar zu verdanken, daß ein großer Teil der Briefe, die meine Eltern und auch meine älteren Geschwister in jener Zeit an sie geschrieben hatten, lückenlos erhalten geblieben sind. Nach dem Öffnen wurden sie zunächst sorgfältig mit einem Eingangsstempel versehen, später mit dem Datum ihrer Beantwortung ergänzt und schließlich abgelegt, aufgehoben und an sicherem Ort verwahrt. Nach dem Tod der Großeltern nahm meine Mutter die Briefe an sich und seit ihrem Ableben im Jahre 2002 befinden sich diese Zeitdokumente in meinem Besitz.

Da meine Eltern ihre Briefe ausnahmslos in Sütterlinschrift abgefaßt hatten, die von jüngeren Generationen heute kaum noch zu entziffern ist, habe ich vor einigen Jahren sämtliche Schriftstücke abgeschrieben, d.h. auf einem Rechner erfaßt und so ein Werk von mehr als 300 A4-Seiten Umfang erzeugt. Dadurch stehen interessierten Familienmitgliedern heute leicht lesbare tagebuchartige Aufzeichnungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit zur Verfügung, die den Vorteil haben, nicht erst Jahrzehnte später aus der Erinnerung niedergeschrieben worden zu sein. Sie ermöglichen realistische Einblicke in die persönlichen Lebensbedingungen und Erfahrungen einer Flüchtlingsfamilie mit 7 Kindern im Alter von 3 bis 15 Jahre in der Zeit nach dem sog. Zusammenbruch.
Während mein Vater deutlich seltener, dann aber stilistisch perfekt und ausgefeilt, an seine Schwiegereltern geschrieben hatte, war meine Mutter eine unglaublich fleißige, disziplinierte Briefschreiberin, die, sich selbst gegenüber unerbittlich, häufig zu Lasten des notwendigen Schlafes zu nächtlicher Stunde, wenn endlich Ruhe in ihren turbulenten Tagesablauf eingekehrt war, mindestens einmal wöchentlich einen mehr oder weniger langen, ausführlichen Bericht über das Geschehen innerhalb und außerhalb der Familie an ihre Eltern nach Goslar absetze.

In folgendem Beitrag sollen anhand von Auszügen (in Kursivschrift) aus den Briefen meiner Eltern die damaligen Lebensumstände punktuell nachgezeichnet bzw. in Erinnerung gerufen werden, die so oder so ähnlich auch Millionen Landsleute erfahren haben. Dabei hatte unsere Familie vergleichsweise in mehrfacher Hinsicht großes Glück:


Wir hatten die Flucht aus Tirschtiegel (siehe HGr 204) unversehrt an Leib und Leben und ohne direkte „Feindeinwirkung“ überstanden. Ein Vetter meines Vaters („Onkel Dietrich“) hatte in Gülzow, im Südosten Schleswig Holsteins ein Gut, auf dem wir eine Bleibe fanden. UndDie Flucht der Fischer von Mollards schließlich kam mein Vater bereits nach zweimonatiger britischer Kriegsgefangenschaft im Juli 1945 gesund zu seiner Familie zurück. Wir hatten im Januar 1945 Schloß Tirschtiegel und das seit nahezu 100 Jahren in Familienbesitz befindliche Gut mit seiner rd. 3.400 ha überwiegend aus Wald bestehenden Wirtschaftsfläche verlassen müssen, und der Neubeginn westlich der Oder - Gott sei Dank in der britischen Besatzungszone - war nicht eben einfach. Unser Haushalt bestand damals aus 11 Personen, nämlich unsere Eltern (Gerd und Erika) mit ihren 7 Kindern (von denen ich, 1941 geboren, das jüngste bin) sowie unserer Anni, die seit 1933 für uns Kinder in der Familie war, und „Tante Oberin“, auf Schloß Tirschtiegel für die Hauswirtschaft zuständig.

Die Flucht der Fischer von Mollards

Wir waren Ende März 1945 in Gülzow in der sog. „Rentei“ untergekommen, in der noch andere Familien wohnten, und erlebten das Kriegsende (ohne unseren Vater) so:

[2. Juli 1945] – Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß hier im Dorf der Krieg sich noch so abspielen würde. Wir sind aber alle so gnädig behütet geblieben, daß wir uns aus tiefem Herzen bedanken müssen. In letzter Zeit waren hier die Tieffliegerangriffe recht unangenehm, es gab auch manches Todesopfer.
Am Montag, dem 23. April, abends 8 Uhr war ein direkter Tieffliegerangriff aufs Herrenhaus. Ich glaube, 16 Bomben lagen nachher hier verstreut herum. Kaputte Fensterscheiben und einen großen Schreck hatten wir bekommen, aber sonst war nichts passiert. Als dann in der Woche mal ein Artilleriebeschuß auf das Dorf von einer Stunde war, war ich noch so harmlos, im Zimmer zu bleiben, da ich annahm, es wäre die Flak, die auf die Flieger schösse.
Unser Haus hatte öfters gewackelt, aber das tat es auch, wenn die Bomben fielen. Eduards und Ernst
(die Familien der Brüder meines Vaters waren vom Gut Góra bei Posen ebenfalls nach Gülzow geflohen) waren ja schon am 23. abends mit Sack und Pack zur Ziegelei gefahren, weil ihnen geraten worden war, bei Beschuß nicht in der Ortschaft zu bleiben.
Ich kam mir zu dämlich vor, jetzt schon fortzugehen, auch hätte ich meine Wohnung ja ganz ausräumen müssen. Also blieb ich hier, und als dann am 29. 4. um 005 Uhr der Ari-Beschuß einsetzte, wäre es unmöglich gewesen, in den Wald zu gehen. Unsere Koffer hatten wir ja schon im Laufe der Woche in den Kartoffelkeller gebracht, einige Sachen waren auch vergraben worden.
Ich hatte mich die letzte Zeit sowieso nicht mehr ausgezogen und die Kinder lagen auch halb angezogen im Bett, da ging es ganz schnell rüber in den Kartoffelkeller. Und da erlebten wir dann einen Artilleriebeschuß von 5 Stunden ohne Pause.
Väterchen weiß ja, was das heißt
(er war nämlich Berufsoffizier bis 1919). Die Kinder waren aber fabelhaft. Ganz still saßen sie. Eine kleine Stalllaterne vom Treck brannte, und sonst saßen wir wohl alle mit gefalteten Händen an den Wänden und warteten, was kommen würde. Um 5 Uhr ließ das ununterbrochene Schießen nach, aber doch wurde noch bis nachmittags um 6 Uhr geschossen, aber dann waren Pausen.

Ja, und wie sah es dann hier aus? Das Herrenhaus hatte 2 Volltreffer bekommen, unser Dach
(der Rentei) war zerschlagen worden. Unser Teppich war mit Glassplittern übersät. Auf dem Büffet stand die Geburtstagstorte von Heidemarie (meine Schwester, Jahrgang 1939), auch die war mit Glas bestreut. Wir holten uns noch unsere Matratzen und Betten in den Kartoffelkeller, weil wir Angst hatten, daß uns die Sachen gestohlen würden. Nachmittags rollten dann die ersten Panzer in Gülzow ein. Da gab es noch einmal eine wilde Schießerei, weil Arbeitsdienstmänner dachten, sie müssten sich verteidigen.

Am Montagmorgen wimmelte dann das Dorf von Engländern, unsere Wohnung war von Polizei besetzt. Das Herrenhaus war vollständig besetzt, die Bewohner durften sich nur im Keller aufhalten, Licht und Wasser gab es nicht. Licht gibt es auch jetzt noch nicht im Dorfe, es wird nur vom Gut selbst Strom erzeugt, so daß wir bis halb acht Licht und Wasser haben.

Der Montag (30.4.) war nicht schön, wir hockten in unserem Kartoffelkeller, und dauernd kamen Engländer und stellten sich vor den Keller und sahen uns an. Die Nächte waren insofern unheimlich, weil der Keller zugemacht wurde und wir oben auf den Kartoffeln schliefen. Wir bekamen am Montag noch eine 5-köpfige Familie, die obdachlos war, denn am Sonntag brannte das Pastorat, das Witwenhaus vom Pastorat, eine ganz große Scheune von Dietrich (Vetter meines Vaters und unser „Quartiergeber“) und noch ein oder 2 Häuser im Dorf ab. Es war schrecklich, dazu kreisten die Tiefflieger. Durch diesen Brand kam Familie Gems zu uns, und dann waren noch Schwester Martha und Frl. Tietze
(zusammen mit unserer Familie aus Tirschtiegel geflohen) bei uns, so daß wir also 17 Menschen waren.

Am Sonnabend (5.5.) rückten sie
(die britischen Kampfverbände) dann aus Gülzow ab, wir durften wieder in unsere Wohnung. Gemsens mußten wir dann auch noch mitnehmen, da sie ja keine Bleibe hatten. Sie sind dann auch bis vorigen Dienstag, also 8 Wochen, bei uns gewesen.
Mittag und Abendbrot haben wir für sie mitgekocht; dann hatten wir wohl noch 4 Wochen lang 4 Soldaten, die entlassen waren und nicht über die Elbe konnten, es waren sehr nette Menschen, die bei uns im Stall schliefen; für die kochten wir auch, und dann kamen noch zu Gemsens 2 Bekannte, so daß wir zeitweilig für 21 Menschen gekocht haben. Wir sind aber alle satt geworden und haben doch auch ein bißchen helfen können, und wie dankbar sind die Menschen gewesen.

Zur Heimkehr meines Vaters aus britischer Gefangenschaft ist zu erfahren:
[10. Juli 1945] – Seit dem 9.7. bin ich glücklich entlassen und an diesem Tage auch gesund und froh zu den Meinen nach hier glücklich heimgekehrt. Ich habe mich an das Leben der Freiheit noch nicht ganz gewöhnen können. Wie dankbar bin ich, alle hier gesund angetroffen zu haben. Es geht allen gut ... Wie dankbar muß ich sein, wenn es auch augenblicklich nicht ganz einfach ist mit der Einstellung für die Zukunft, aber alle Meinen um mich zu haben, ist ein augenblicklich überwältigendes Geschenk ... In der Zeit der Gefangenschaft hatte ich immer wertvolle Menschen um mich.

Über die Zuverlässigkeit der Post gab es damals wenig Positives zu berichten. In einem Brief vom 2. 07. 1945, der nach Goslar mehr als 2 Monate unterwegs war, schreibt Mutter:
Das war heute abend eine ganz unerwartete Freude, als Dietrich mir Väterchens Brief brachte. Hab’ tausend Dank dafür! Es trifft sich gut, daß übermorgen der Pastor über die Elbe geht, er ist auch Flüchtling und wahrscheinlich wird er auch nach Lüneburg fahren, und dann kann er dort vielleicht irgendwie den Brief abgeben, und mal bekommt Ihr ihn dann auch hoffentlich. Es ist ja komisch, daß Ihr nur die Karte vom Treck bekommen habt; ich habe dann noch 2 Briefe an Euch geschrieben ...

[17.07.] – ... Du hast mir jetzt schon mehrere Nachrichten geschickt, ich danke Dir sehr herzlich dafür. Hoffentlich hast Du nun inzwischen auch mal Post bekommen. Ich schrieb Euch bis Mitte April 2 Briefe von hier. Dann habe ich am 3. Juli einen langen Brief nach Lüneburg mitgegeben, am 6. Juli wurde hier erlaubt zu schreiben, da schickte ich Euch gleich eine Postkarte, dann schrieb Gerd Euch in der vorigen Woche eine Karte, er ist am 9. Juli zu uns gekommen. Er ist sehr beschäftigt, unseren Treckwagen in Ordnung zu bringen, ich hoffe aber, daß wir ihn nicht brauchen werden. Die Brüder sind nervös und stecken Gerd an ...
(nämlich in der Befürchtung, die Rote Armee würde auch noch nach Schleswig-Holstein kommen).

Am 20. 07. gibt es eine weitere Information: ... Heute kam Muttis Brief vom 18. Juni an, er hat eine lange Zeit gebraucht, aber er ist doch überhaupt angekommen. Herzlichen Dank für den Brief. Hoffentlich habt Ihr nun auch endlich mal Nachricht von uns. ... Gerd kam am 9. Juli bei uns an. Er hat jetzt unseren ganzen Treckwagen überholt und er steht startbereit da. Aber ich hoffe, wir bleiben hier. Wir 3 Frauen bei uns wollen nicht fort, wie gut haben wir es hier. Gerd wird durch die Brüder sehr beunruhigt, ich meine aber, es ist grundlos ...

Noch im Juli 1945 mußte unsere Familie die Unterkunft in der Rentei verlassen, sie wurde von den Engländern vorübergehend beschlagnahmt. Wir wurden in Räumen der Dorfbäckerei einquartiert. Der entsprechende Informationsfluß wurde am 4. August von meinem Vater begonnen: ... Ich arbeite als Deputant (Gespannführer) mit, es macht mir viel Freude, sind jetzt Selbstversorger, wohnen dicht neben dem Hof, aber im Dorf in 4 Zimmern + alleiniger kleiner Küche, da neue Einquartierung zur vorübergehenden Aufgabe der Rentei zwang. Auch Mummi und Adelhart (meine ältesten Geschwister, Jahrgang 1930 und 1931) arbeiten täglich mit, solange keine Schule. Seit einigen Tagen ist Fritz Reimann (ehemals Chauffeur auf Schloß Tirschtiegel) bei uns. Paech (hat unseren Treckwagen über Herzfelde und Goslar bis nach Gülzow kutschiert) ist auch hier ...

Am 20. August erfahren meine Großeltern nähere Einzelheiten über unseren Quartierwechsel: ... Wir sind nun schon 3 Wochen bei Bäcker S.. Wir haben 4 kleine Zimmer, wo gerade die Betten stehen, in meinem Raum ist ein Kanonenofen. Die Küche haben wir für uns. Seit Fritz bei uns ist, ist die Küche zum Essen zu klein; wir konnten nur dicht gepackt zu 11-en an 2 Tischen sitzen, nun essen wir einfach auf dem Boden, es geht auch so.
Alle 14 Tage haben wir Wäsche, die waschen wir aber in der Rentei und borgen
(ausleihen) uns von allen Hausbewohnern die Waschwannen zusammen; die Leute haben alle so wenig Waschgefäße, und wenn wir mit unserem Schwung von jetzt 12 Personen ankommen, da kommt schon allerhand zusammen. Unsere Nachbarin in der Rentei ist eine herzensgute Frau, zu der man ohne Hemmungen borgen kommen kann, denn wir müssen ja doch oft borgen, und das ist nicht gerade angenehm.
Wir sind ja nun 12 Personen und haben eine (!) Waschschüssel, und wenn wir was kochen wollen, so müssen wir oft erst 3 Gefäße umschütten, um den Kochtopf freizubekommen, aber auch das geht und man gewöhnt sich an alles. Es ist manches mit Schwierigkeiten verbunden und vieles recht primitiv, aber es geht uns ja nicht alleine so und vorläufig geht es ja nicht anders. Wie gut haben wir es immer noch vor Tausenden von anderen Flüchtlingen ...

Am 30. September greift meine Mutter das Thema wieder auf: ... Wir werden vielleicht auch wieder an die Luft gesetzt werden, denn Herr S. hat seine Bäckerei wieder eröffnet, und nun muß er Gesellen einstellen; außerdem schlafen seine beiden Söhne, die aus dem Kriege gekommen sind, und die erwachsene Tochter zusammen. Sie wollen uns nun loswerden, und die beiden anderen Flüchtlingspaare, die auch noch oben wohnen, sollen 2 Stuben von uns bekommen und die Küche. S. haben uns nichts gesagt, aber die eine Frau sah sich die Räume an, die ihr mit den zerfetzten Tapeten und den kaputten Fenstern aber gar nicht gefielen. Es wird auch sehr schwer sein, für uns eine Wohnung zu finden. Tante Oberin meint, jetzt fallen wir 2 Stufen herunter, Anni hofft auf eine heizbare Wohnung, ich sage (aber das glaube ich nicht), wir kommen ins Nachbardorf in ein Flüchtlingslager. Man stumpft so ab und regt sich nicht mehr auf. ...

Am 31. Oktober wird die Berichterstattung fortgesetzt: ... Wir sind auch noch immer nicht umgezogen, die Wohnungen sind immer noch nicht freigegeben, die Engländer sind fort, die Wohnungen stehen leer. Es sollen!? noch mehr Wohnungen beschlagnahmt werden für die Engländer, es sollen aber auch noch 800 Flüchtlinge kommen, so heißt die andere Lesart, und jeder darf nur 3 1/2 qm Raum beanspruchen. Ach, es wird so viel erzählt. Ich hoffe eben doch, daß wir in die Rentei können.
Wenn nämlich nicht so viele Engländer herkommen, so können wir zurück in die Wohnung. S. wünschen sich auch so sehr, daß wir fortziehen. Gerd hat gestern mit ihm gesprochen, weil es doch überall bei uns durchregnet, ob er das nicht machen lassen will. Aber er ist so maulfaul und brummelt nur, daß er erst Pappe haben müsste, und erst dann könnten die Dachdecker kommen. Pappe bekommt er aber wohl nicht, und da wird es also wohl im Winter reinschneien und reinregnen.
Heute ist mir erzählt worden, daß wir als Strafe für S. in die Zimmer gekommen sind, weil sie sich immer gegen Flüchtlinge gesträubt haben und auch weniger Räume angegeben haben. Merkwürdig sind diese Menschen. Wir haben doch nirgends Gardinen an den Fenstern, und bei den Jungen und Mädeln hängen noch die Tapeten in Fetzen.
Nur in Annis und Tante Oberins Zimmer ist eine zerrissene Tüllgardine drin, weil es das Zimmer von Frl. S. ist. Vor ein paar Tagen kommt Frl. S. zu Anni und sagt, sie möchte die Gardinen abmachen; wie tut sie das? Sie schneidet die Gardinen einfach in halber Höhe ab, und nun hängt ein Fetzen vor den Fenstern. Wozu dies wohl? Wir sagen nichts, sind immer höflich und gehen unsere Wege ...

Ich habe ganz persönliche Erinnerungen an diese Zeit der Ein- bzw. Ausquartierung, denn mir als damals Vierjährigen hatte der Bäcker gesagt, er würde mich (wie bei Wilhelm Busch mit Max und Moritz geschehen) in ein Brot einbacken, wenn ich die Treppe zu unseren Räumen im Obergeschoß nicht leise hinaufgehen würde. Fortan hatte ich stets große Angst, die mir auch meine Eltern nicht ausreden konnten, wenn ich an der meist offen stehenden Tür zur Backstube vorbei gehen mußte. Im November schließlich konnten wir in die Rentei zurück: Am 18. November heißt es ... Wie glücklich sind wir, daß wir wieder in der Rentei sind, wir haben doch eine richtige kleine Wohnung für uns und können zusammen sitzen, was bei S. unmöglich war. ...
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Tage später folgen weitere Details: ... Heute ist es nicht kalt, wie dankbar bin ich, daß wir nicht mehr bei S. wohnen. Wenn es auch nicht übermässig warm ist, so ist das Zimmer doch wenigstens überschlagen und man kann sich auch mal an den Ofen stellen. Mit unseren anderen Öfen ist noch nichts unternommen worden, aber ich glaube, heizen können wir sie sowieso nicht, da ist es ja ganz gleich. Gerd kriecht abends mit Nachthemd, Unterhose, Pullover und Koppel ins Bett, ich habe ihm schon gesagt, wenn es erst richtig kalt ist, wird er wohl den Pelz anziehen. Tirschtiegeler Temperaturen haben wir hier natürlich nicht, aber wir haben doch immer noch die Möglichkeit, daß wir uns heizen können, und wie vielen Menschen fehlt dies ...


Teil 3: Nach der Flucht – Neubeginn westlich der Oder