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Das Dorf Politzig und seine Bewohner
von Herybert Schulz (Dipl. Ing. Wasserbau)
Herybert Schulz erzählt hier einen geschichtlichen Abriss über sein Heimatdorf, Infrastruktur und Leben in der Region, seine Kindheit und über die Flucht 1945 aus Politzig. (Fotos: Herybert Schulz - Archiv HGr)
Geschichtliche Entwicklung
Bereits im Heimatbuch „ Stadt und Kreis Meseritz“ Teil 2, Herausgabe 1974, hat der ehemalige Pfarrer Karl Weise ausführlich die Geschichte des Straßendorfes Politzig dargelegt. An Hand der vorliegenden Kirchenbücher hat der Autor entnehmen können, daß die Bevölkerung des Ortes sehr bodenständig war.
Die Gegend an der Obra mit den Dörfern Solben, Kulkau, Bobelwitz, Janau und Politzig muß schon länger bevölkert gewesen sein. Bewiesen wird diese Behauptung durch eine Vielzahl von Bodenfunden, wie Urnen und Ornamenten. Erste schriftliche Nachweise liegen aus dem Jahre 1278 vor, aus der Zeit wo eben deutsche Einwanderer das Gebiet besiedelten und kultivierten.
Von 1275 - 29.01.1945 waren nachweislich 18 Besitzer des Rittergutes in Politzig präsent. Im Zeitraum 1475 1560 war die Familie P o l i c k i Besitzer des Gutes. Es kann angenommen werden, daß diese Familie für den Ortsnamen Politzig verantwortlich zeichnet. Die Polickis waren Anhänger von Martin Luther und setzten sich dafür ein, daß der Protestantismus in ihren Besitzungen übernommen wurde. Bis 1945 war Die erste evangelische Kirche ist um die Jahrhundertwende vom 15. zum 16. Jh. gebaut worden. In dem vorgenannten Heimatbuch ist ebenfalls ein Nachweis aller Pfarrer von 1633 1938 ersichtlich. Die jeweiligen Gutsbesitzer waren immer Kirchenpatronaten.
Um 1700 war hier auch die Familie v. Kalckreuth Besitzer der Ländereien. Unter deren Regie wurde 1720 die abgebrannte alte Kirche wieder aufgebaut. Allerdings mußte hierbei getrickst werden. Die Rekonstruktion des Bauvorhabens lief unter der Maßnahme „Bau eines Getreidespeichers“. Der Kirchturm wurde erst viel später errichtet. Noch unter Pfarrer Weise fand 1920 eine 200-Jahrfeier des Gotteshauses statt. Während dieser Zeit zählten zum Kirchspiel Politzig etwa 900 Seelen. Damit eingenommen waren die umliegenden Dörfer wie Solben, Bobelwitz, Kulkau, Reinzig, Janau und Stalun. Besondere Sorgen bereiteten den Kirchenvorständen immer wieder unternommene Versuche der katholischen Kirche, gesteuert von Betsche, die Kirche Politzig in ihren Besitz zu überführen.
Endgültige Ruhe trat erst ein als 1767 die Glaubensverfolgungen der Evangelischen durch den Warschauer Reichstag ein Ende fanden. Dennoch gab es immer wieder Reibereien zwischen beiden Glaubensrichtungen. Später jedoch lebten die Menschen beider Kirchen friedlich nebeneinander.
1904 erhielt die Politziger Kirche eine Orgel der Firma Sauer aus Frankfurt/ Oder. Kostenpunkt 2.100 Mark. Den Löwenanteil spendete die Patronatsfamilie Rodatz, den Rest die Kirchengemeinde. Eine feierliche Einweihung der Orgel fand am Reformationstag 1904 statt (Weitere Einzelheiten finden wir im oben erwähnten Heimatbuch Teil II auf den Seiten 107 121).
Geografische Lage des Ortes
Das Dorf Politzig, heute Policko, liegt östlich der Kreisstadt Meseritz /Miedzyrecz in einer Entfernung von 7 km, an der Straße nach Betsche. Der Ort befindet sich direkt an der Obra und wird zur Hälfte vom Flußlauf eingeschlossen. Praktisch gesehen liegt der Ort auf einer Halbinsel.
Weiterhin befindet sich das Dorf an der Bahnstrecke Reppen Birnbaum. Gebaut ist diese Eisenbahnlinie um 1885 als direkte Verbindung Berlin
Posen. Der Bahnhof Politzig liegt fast direkt im Mittelpunkt, so daß hier in Politzig sich die täglich verkehrenden drei Eilzugpaare kreuzten. Also hatte unser Bahnhof schon eine gewisse Bedeutung.
Politzig hatte 1920 381 Einwohner. Die Gemarkungsgröße beträgt 1.162 ha. Der überwiegende Teil der Bevölkerung lebt von der Landwirtschaft. Neben dem Rittergut der Familie Rodatz bewirtschafteten noch 10 Einzelbauern die restlichen Flächen der Gemarkung.
Für die ackerbaulichen Bedingungen waren die Bodenverhältnisse nicht sehr nutzbringend. Während der Bereich am Weg nach Kulkau, vom Bahnhof aus, noch einigermaßen brauchbar war, lagen alle weiteren Flächen in einer niedrigen Bodenwertzahl. Die besten Flächen waren natürlich beim Gut. Das Acker-/ Grünland-Verhältnis lag, trotz der Flußaue, bei etwa 95 % Ackerland und 5 % Grünland, das befand sich an der Obra und am Hauptgraben. Die Nutzflächen der Bauern waren in der gesamten Gemarkung verteilt und meist auf leichten Böden. Für die Landwirte ein schweres Arbeiten. Große Erfolge waren hier nicht zu erreichen. Die Menschen lebten bescheiden und waren eigentlich immer mit allem zufrieden. Durch die direkte Lage zur Straße und Eisenbahn verfügte der Ort über eine gute Verkehrsanbindung. In 2 km Entfernung von Politzig lag der Ort Janau. Die Ortsverbindung war unbefestigt, jedoch von einer stattlichen Kastanienallee eingefaßt. In Janau zählte man damals 66 Einwohner, natürlich mit eigenem Bürgermeister. Das Gut Politzig bewirtschaftete dort ein Vorwerk als Schäferei. Fünf bäuerliche Betriebe bewirtschaften rund 75 ha Acker- und Grünland. Die Kinder kamen nach Politzig zur Schule. Eigentlich waren beide Dörfer eine Einheit.
Die Infrastruktur des Ortes Politzig
Nachstehende Betriebe und Einrichtungen bestimmten den täglichen Ablauf und auch das öffentliche Leben des Dorfes. Etwa 50% aller Einwohner waren auf dem Rittergut beschäftigt. Ein weiterer Personenkreis lebte von der einzelbäuerlichen Landwirtschaft. Neben der Landwirtschaft waren im Ort ansässig:
Das Tiefbauunternehmen Friedrich und Georg Schulz, die Fleischerei Knothe, der Kolonialwarenladen Fechner, die Gast- und Landwirtschaft, früher noch mit Bäckerei Hoffmann, der Bahnhof, das Postamt Politzig für die Orte Politzig, Kulkau, Reinzig und Janau. Die Stellmacherei Schubert und der Schmiedemeister Flöter, das Rittergut betrieb eine Gärtnerei mit Lehrausbildung.
Das ev. Pfarramt war zuständig für die Gemeinden Politzig, Janau, Solben, Kulkau, Bobelwitz, Marienhof und Reinzig.
Ein weiterer zentraler Punkt am Bahnhof Politzig war der Lager- und Bearbeitungsplatz für Grubenholz. Hier waren ganzjährig 4-5 Arbeitskräfte beschäftigt, um das anfallende Holz der reichlich in der Umgebung von Politzig liegenden Waldflächen zu bearbeiten.
Das Holz wurde täglich von Fuhrbetrieben angefahren, auf Länge geschnitten und zum Trocknen aufgestapelt. Nach einer entsprechenden Lagerzeit wurde das Holz per Eisenbahn an die jeweiligen Kohlengruben verfrachtet.
Übrigens war der Holzplatz für uns Jungen ein willkommener Spielplatz. Es gab natürlich oft Verweise von den Arbeitern, aber an den Wochenenden hatten wir freies Spiel. Es ist auch nie etwas vorgefallen. Wir sind auch nicht auf die bis zu drei Meter hohen Stapel geklettert.Soweit mir bekannt ist, gehörte die Obra zum Grundbesitz des Rittergutes, denn bis etwa 1937 hatten wir in Politzig auch einen Fischer, Alfons Schmidt, der beim Gut in Lohn und Brot stand. Später im Krieg hatte Fischmeister Guschmann aus Meseritz die Fischerei gepachtet.
Die Obra hatte einen sehr guten Fischbesatz. Der größte Wels, der in Politzig gefangen wurde, wies die stattliche Länge von 215 cm auf. Der „Bursche“ hatte etliche Gänseküken verschlungen ehe er dem Fischer ins Netz ging.
Die Obra war für Politzig ein Heiligtum, und wurde daher auch dementsprechend behandelt. In vielen Haushalten gehörte das Obrawasser zum täglichen Gebrauch. Zum Tränken der Rinder war extra eine Tränke angelegt worden. In den Sommermonaten kamen die Pferde des Gutes zur Schwemme. Neben unserer Badestelle hatten wir extra für die Pferde das Flußbett vertieft, damit die Tiere auch bei jedem Wasserstand schwimmen konnten.
An dieser Pferdeschwemme stand unser Sprungbrett. Der Sohn vom Stellmacher Schubert hatte die Pflege der Anlage übernommen. Im heimatlichen Sprachgebrauch hieß die Obra „ der Ober“. Zum Beispiel: Im Ober an der Kramarke liegt eine Rüster. Die Kramarke ist eine Flurbezeichnung der Gemarkung Politzig.
In östlicher Richtung lag Politzig an einem großen Waldgebiet. Vom Forsthaus Waldecke, bei Politzig, führte die Straße ca. 5 km nur durch Waldungen. Hier wuchs alles was der Wald nur bieten kann. Alle Wildbeeren und auch eine Menge Pilze. Die Waldungen gehörten zur Besitzung des Grafen Dohna in Betsche. Der Graf war in Politzig ein gern gesehener Gast.
In Politzig lebten fröhliche, arbeitsame Menschen. Schon immer wurde hier ein kulturelles Leben geführt. Etliche Vereine wie Gesangsverein, Feuerwehr, Sportverein usw. förderten das gesellige Zusammenleben.
Das dörfliche Leben im 20. Jahrhundert
Das Gut Politzig und die Gemeinde waren eigentlich als eine Einheit zu betrachten. Der letzte Bürgermeister war Herr Karl Keckert, Landwirt aus Politzig.
Im Gegensatz zu anderen Dörfern wo die Arbeitskräfte oft den Arbeitgeber wechselten war dies in Politzig nicht der Fall. Die Menschen waren bodenständig, wie man so sagt. Es war oft so, daß ein ehemaliger Gespannführer mit Beginn seines Rentenalters seinem Sohn die Leine in die Hand gab. Natürlich konnten nicht alle Kinder auf dem Gut bleiben und mußten den Ort verlassen. Jeder Auswanderer hielt jedoch den ständigen Kontakt mit seinem Heimatdorf aufrecht. Auch die Bauern und Gewerbetreibenden waren eine Einheit und hielten dem Ort die Treue. Wer kräftig arbeitet und ein ordentliches Leben führt, kann natürlich auch kräftig feiern. Die einzelnen Organisationen die ich vorher bereits genannt habe brachten dann die Politziger bei ihren jährlichen Vergnügen zusammen.Von meinen Eltern und auch von Onkel und Tanten weiß ich zu berichten wie es damals zugegangen ist.
Bei den meisten Sommervergnügen war die Bomster Blasmusik von der Partie. Fünf Musiker waren bestellt, mit acht Mann, davon drei Schüler kam die Truppe dann an. Alles wurde akzeptiert und die Stimmung war bombig. Im Gleichschritt ging es zum Festplatz zum Birkenwäldchen. Für ein gutes Essen sorgte Herr Rodatz und für die Getränke mein Opa Paul Schulz. Die Männer vertrieben sich die Zeit am Schießstand, wo auf drei Bahnen geschossen werden konnte: 2 x 50 m und 1 x 25 m. Die Frauen beschäftigten sich mit den Kindern bei Tanz und Spiel. Einige solcher Feiern habe ich ja noch erleben können.
Mit Musik ging es am Abend zurück zum Dorf. Die Kinder mußten zu Bett und die Erwachsenen vergnügten sich bei Musik und Tanz im Saal von Hoffmanns.
Eine kleine Rauferei gehörte zu jedem Tanzvergnügen. Allerdings waren dabei immer auswärtige Gäste die Schuldigen. In den folgenden Wochen wurde dann wieder kräftig geschafft, um für das nächste Vergnügen gewappnet zu sein. Wie mir bekannt ist waren bei jedem Vergnügen immer die Bürger aus Janau mit dabei.
Von 1923 bis 1939 bestand in Politzig auch ein Fußballverein. Der Sportplatz lag am Weg nach Janau und ist im Krieg auch noch von uns genutzt worden. Noch heute ist der Platz vorhanden.
Zwei furchtbare Kriege brachten auch für Politzig sehr viel Leid und Elend. Fast jede Familie hatte einen Trauerfall zu beklagen. Das sonst so frohe Leben war stark getrübt. Die meisten Männer war Soldaten, die Hauptlast der Wirtschaft lag auf den Schultern der Frauen und älteren Männer. Auch wir Kinder mußten dann schon kräftig mit zupacken. Wir alle zusammen haben unser Möglichstes getan um die schwere Zeit zu überwinden.
Der eiskalte Winter 1941/42 war furchtbar. Viele Obstgehölze sind erfroren. Das Obst, eine wichtige Nahrungsquelle, fehlte. Hier hatten wir Glück. Der nahe Betscher Wald mit seinem Reichtum an Wildfrüchten war der Ersatz. Viele Meseritzer kamen mit dem Fahrrad in den Blaubeerwald. Jeder hat etwas ernten können. Einige Meseritzer kamen mit dem Zug bis Politzig und gingen dann zu Fuß in den Wald.
Auch noch im Krieg, ja bis Januar 1945 fuhren noch täglich drei Zugpaare Meseritz Birnbaum und natürlich immer pünktlich. Viele Menschen richteten sich zu der Zeit nach dem Zug.
Der Nachmittagszug fuhr um
14.30 Uhr, der am Abend um 18 Uhr, also für die Vesper undFeierabendzeit brauchte man keine Uhr. Desweiteren war Politzig auch mit dem Postauto um 7 Uhr ab Meseritz zu erreichen. In den letzten Kriegsjahren stand das Postauto jedoch für den Personenverkehr nicht mehr zur Verfügung. Alles was postalisch von Politzig abging wurde mit dem Abendzug abgewickelt.
Unser Fleischermeister Knothe war in Friedenszeiten immer auf dem Wochenmarkt in Meseritz vertreten. Nach Einführung der Lebensmittelkarte konnte der Markt nicht mehr bedient werden. Während der Zeit des Krieges kamen Stammkunden aus Meseritz regelmäßig zu Knothes zum Einkauf. Meister Knothe hatte so seine Spezialitäten aufzuweisen.
Auch für unsere Gaststätte Hoffmann möchte ich noch einige Zeilen verwenden. Durch den Grubenholzlagerplatz kamen täglich Fuhrleute, hauptsächlich aus Betsche, durch den Ort. Da bei Hoffmanns Lieschen immer ein guter Tropfen zu haben war und man sich auch etwas aufwärmen mußte, wurde eine Verschnaufpause eingelegt. Oft hatten die Pferde schon richtige Löcher in den Platz gescharrt. Auf dem Weg zu meinen Großeltern mußte ich dort vorbei, daher ist mir noch alles so in der Erinnerung. Ja, in Politzig war früher immer etwas los. .
Aus unserer Kindheit
Zu meiner Zeit waren wir im Dorf etwa 35 bis 40 Kinder und hatten von jeher zwei Spielplätze. Einmal auf der Gutsseite die Lehmkuhle und im Unterdorf die Trebe.
Zur Sommerzeit, außer der Badezeit an der Obra, hielt sich jede Gruppe auf ihrem Spielplatz auf. Ich kann mich nicht erinnern, daß wir mal in der Lehmkuhle gespielt haben oder die Kinder von dort zu uns gekommen sind. So streng waren die Sitten!
Anders ging es im Sommer an der Badestelle oder im Winter bei Eis und Schnee zu. Beim Baden im Sommer waren wir immer kameradschaftlich zusammen. Auch haben wir die letzten Jahre gemeinsame Kahnfahrten mit den Arbeitskähnen unserer Firma unternommen.
Da wir Kinder an der Obra alle Wasserratten waren, konnte auch fast jeder schon mit 7 Jahren schwimmen. Unsere Eltern brauchten keine Angst haben, daß wir etwa ertrinken. Im Winter zur Rodelzeit waren wir auch immer im Birkenwäldchen auf dem Rodelberg oder im Pastorgarten auf dem Eis. Hier war die Wiese überflutet und somit hatten wir eine tolle Eisfläche. Oft mußten die Eisflächen von Schnee geräumt werden. Leider hatten nicht alle Kinder in den letzten Kriegsjahren eigene Schlittschuhe.
Im Januar 1945 konnten wir nicht mehr auf das Eis. Die Eisdecke war mit einer fast 50 cm dicken Schneeschicht bedeckt. Wir hatten auch keine Zeit mehr für derartige Vergnügen.
Die umfangreichen Waldgebiete in unmittelbarer Dorfnähe waren im Frühjahr und Herbst auch ein willkommener Spielplatz. Zwei Kilometer vom Dorf entfernt, am Weg nach Scharzig, befand sich ein großes Sägewerk. Der letzte Betriebsleiter Herr Simon hatte einen Sohn in meinem Alter. Wenn die Luft rein war, haben wir dort mit den Rollwagen (Flachloren) gespielt. Das Fahren mit den Dingern auf dem weit verzweigten Gleisnetz war eine tolle Sache, aber natürlich auch sehr gefährlich!
Eines Sonntags gab es dann einen Unfall. Mein Bruder Dieter hatte sich das Bein gequetscht. Er war tapfer und hat die Zähne zusammen gebissen. Der Spielplatz war für uns vorläufig tabu. Das Sägewerk ist etwa 1942/43 demontiert worden. Trotz des Krieges hatten wir eigentlich eine gute Kindheit. Die Schrecken des Krieges kannten wir bisher nur aus der Zeitung oder dem Radio.
Noch eine besondere Angelegenheit aus unseren Kindheitstagen:
Bis etwa 1942 kam jährlich die Familie Schuster aus Meseritz mit einem Karussell und einer Schieß-und Würfelbude nach Politzig. Auf dem Schulhof am Reinziger Weg wurde alles aufgebaut. Die großen Jungen halfen bereits beim Aufbau. Das Karussell wurde von einem Mittelpony gezogen. Zum Anschieben und Bremsen des Karussells waren vier bis fünf Jungen nötig. Frau Schuster hatte das Kommando über den gesamten Betrieb. Natürlich gab es beim Aufstellen der Hilfskräfte oft Rangeleien, jeder wollte einmal Schieber und Bremser sein. Dabei ging es ja gar nicht um die Arbeit, nein, das ständige Fahren war hier ausschlaggebend. Es war immer sehr spannend. Nach etwa einer Woche Betrieb, wenn das Kleingeld auch verbraucht war, zogen die Schusters weiter.
In den Kriegsjahren wurden die Arbeitskräfte knapp, wir Kinder mußten mit Erreichen des 10. Lebensjahres schon kräftig mit anpacken. Besonders die Kinder der Bauern waren hier gefragt. Zur Hackfruchternte wurde jede verfügbare Kraft benötigt.Wir sammelten Eicheln und Kastanien für das Wild. Für den Zentner Eicheln gab es 7 Mark, für Kastanien 3 Mark.
Für uns Jungen waren die Treibjagden um die Weihnachtszeit auch immer ein Erlebnis. Auf einer Hasenjagd auf den Feldern wurden damals noch bis zu hundert Hasen geschossen. Diese Beute war ja eine zusätzliche Fleischversorgung.
Wir hatten zwei Förstereien zu bedienen. Einmal das Revier Waldecke, Graf Dohna, und weiterhin das Revier Politzig unter dem Kommando des Försters Kadelka in Janau. Es blieb uns aber immer noch etwas Zeit für Sport und Spiel. Leider hatten wir in den letzten Kriegsjahren keinen Fußball mehr, weil Bruno Mania die Ballblase nicht mehr dicht bekam und die Lederhülle total hinüber war. So etwas ist heute nicht mehr vorstellbar.
Aus der Konfirmandenzeit
Für alle älteren Jahrgänge kamen dann wöchentlich zwei Stunden Konfirmandenunterricht dazu. Persönlich hatte ich in dem Alter auch schon etliche Aufgaben in der elterlichen Firma zu erledigen: monatlich einmal Lohntüten füllen und Botenfahrten zu den in der Nähe gelegenen Baustellen. In der Konfirmandenzeit war ich auch noch für das Läuten und Windmachen an der Orgel verantwortlich. Zwei Beerdigungen im Monat waren die Regel. Wir waren 5 6 Jungen, die sich der Sache annahmen. Für jeden Einsatz waren aber immer zwei von uns nötig. Jeder Todesfall im Kirchspiel wurde überläutet. In den Kriegsjahren war das sehr oft der Fall.
Auf eine Besonderheit möchte ich hier noch eingehen. Bei Beerdigungen in Politzig wurde besonderer Wert darauf gelegt, daß die Zeitabstände des Läutens exakt eingehalten wurden. Das heißt, der Weg von der Kirche bis zum Friedhof wurde überläutet, desweiteren wurde beim Absenken des Sarges ins Grab geläutet.
Es gab zu der Zeit noch kein Handy. So wurden Späher aufgestellt, die den Läutejungen im Glockenturm dann ein Zeichen gaben. Um alles den Ritualen entsprechend ablaufen zu lassen, benötigten wir 3-4 Späher. Wenn alles gut klappte, waren wir sehr stolz.
Geläutet wurde am Samstag im Sommer um 18 Uhr, im Winter um 16 Uhr. An Sonn- und Feiertagen um 8 Uhr, 9 und 10 Uhr. Vom Pfarrer holten wir einen Zettel mit den Liedern für den Gottesdienst. Nachdem die Lieder in der Kirche an zwei Tafeln angesteckt waren, bekam der Kantor den Liederzettel. Alles hatte seine Ordnung, die bereits über Jahrzehnte praktiziert wurde.
Während des Gottesdienstes mußte dann der Blasebalg der Orgel getreten werden. Bis hin zum letzten Gottesdienst in unserer Kirche haben wir unsere Aufgabe erfüllt. Wenn wir alle genügend Taschengeld hatten, fuhren wir bestimmt einmal im Monat zum Kino nach Meseritz. Die Fahrräder stellten wir bei Hornigs unter. Wir waren dann 10-15 Jungen. Wer kein Fahrrad hatte wurde auf dem Gepäckträger mitgenommen. Allerdings mußte man rechtzeitig am Kino sein, denn es waren immer viele Kinder vor dem Kino. Die Besitzerin sorgte mit einem Ausklopfer für Ordnung.
Unsere Obra
Im Zusammenhang mit den Gegebenheiten der Einwohner von Politzig möchte ich noch einige Zeilen über den Wasserlauf der Obra erwähnen.War doch die Obra eine Lebensader für das Dorf. Seit Bestehen unserer Firma übernahm der Betrieb die laufende Instandhaltung des Gewässers. Das Kulturbauamt des Kreises Meseritz war der ständige Auftraggeber. Zur Gewährleistung des schadlosen Abflusses wurde in den Sommermonaten eine Entkrautung vorgenommen.
Nach dem 1.Weltkrieg sind an bestimmten Schwerpunkten Ausbauarbeiten vorgenommen worden. Die Wasserqualität war immer bestens.Viele Haushalte haben die Wäsche in der Obra gespült. Es konnte ständig Brauchwasser für den Haushalt entnommen werden. Es ist mir nicht bekannt, daß jemals ein Fischsterben aufgetreten ist.
Bis zum Jahr 1941 wurden jährlich Kontrollfahrten seitens des Kulturbauamtes vorgenommen. Mängel wurden aktenkundig erfaßt und im Laufe des Jahres abgearbeitet. Beanstandet wurden Abflußhindernisse durch Windbruch, Auskolkungen der Ufer oder auch Anlandungen. Am Bahnhof in Politzig befand sich eine Schreibpegelanlage. Hier wurden die Durchflußmengen aufgezeichnet. Die Aufzeichnungen wurden monatlich ausgewertet.
Leider finden in der heutigen Zeit all diese Maßnahmen keine Beachtung mehr. Die Einbeziehung des Gewässers in den Landschaftsschutz wirkt sich hiermit sehr nachteilig aus. Derartige Zustände haben wir leider auch heute hier bei uns zum Teil in der Prignitz zu verzeichnen. Laufende Hochwasserereignisse und eine schlechte Wassergüte sind dabei die Folgeerscheinungen.
Eine tragische Begebenheit im Leben meiner Familie
Nach Abschluß der durchgeführten wasserbaulichen Vorhaben in der Obra zwischen Tirschtiegel und Politzig im Zeitraum 1925 1932 stellte sich eine Verbesserung der Vorflutverhältnisse ein. Die landwirtschaftlich genutzte Flächen konnten nun den Erfordernissen entsprechend entwässert werden. Es wurden Binnengräben und Dränagen angelegt. So hat sich auch der Landwirt Roge aus Schierzig / Ausbau entschieden einen Teil seiner Flächen zu entwässern, um dadurch eine gewisse Ertragssteigerung zu erzielen.
Mit der Ausführung der Arbeiten war die damalige Firma
Paul Schulz beauftragt. Die Baustelle befand sich
etwa 7 km von Politzig entfernt und wurde so nebenbei
abgearbeitet.
Der zum Ausbau vorgesehene Graben war mit
Laubbäumen bewachsen. Um die schweren Rodungsarbeiten
zu umgehen, wurden die Bäume gefällt und
danach die Stubben herausgesprengt. Die Söhne von
meinem Opa, also mein Vater und der Onkel Georg,
hatten ein Sprengmeisterzertifikat. Onkel Georg hatte
den Auftrag, die Stubben in Roges Wiese zu sprengen.
An einem Nachmittag im Frühjahr oder Herbst wollte
Onkel Georg nun die Stubben am genannten Standort
sprengen. Er hatte noch Reste Sprengstoff von einer
anderen Baustelle übrig behalten, damit wären die Stubben
bei Roges beseitigt worden. Von dem Vorhaben
wußte jedoch niemand etwas. Auf der Rückfahrt mit dem
Fahrrad von Tirschtiegel nach Politzig sollte die Sprengung
erfolgen. Bei dem Onkel war der Hofhund „Tasso“,
der gern mit Onkel Georg draußen war. Wie es sich
noch zeigen wird, spielte der Hund hierbei eine besondere
Rolle.
Der Tag neigte sich dem Ende zu, es war bereits
dunkel. Zu Hause wartete die Familie auf den Onkel.
Man wußte ja von der Sprengung des Tages, die unter
Mitwirkung von weiteren Kollegen der Baustelle durchgeführt
wurde, eine Nachricht von dort lag nicht vor.
Die Familie war in großer Unruhe.
Onkel Georg hätte längst zu Hause sein müssen.
Plötzlich ist der „Tasso“ auf dem Hof und macht
durch lautes Bellen auf sich aufmerksam. Die Familie
läuft hinaus zum Hund, der sich immer zur Straße bewegte.
Opa kannte das Tier genau und wußte, daß hier
etwas nicht stimmte. Dem Georg ist etwas passiert. Stiefel
und Joppe an, das Fahrrad aus dem Schuppen und
immer dem Tasso nach. Nach etwa 30 Minuten waren
beide auf der Wiese von Roges. Dort lag Onkel Georg,
blutig am ganzen Körper, ohne Besinnung. Hier mußte
sofort Hilfe geholt werden.
Unser Heimatfreund Franz Roge kann sich noch gut an
den Vorfall erinnern. Er war damals 5-6 Jahre alt.
Was war geschehen?
Beim Laden der Sprenglöcher waren einige Sprengkapseln
verklemmt in der Schachtel. Mit Hilfe eines Gegenstandes
wollte der Onkel die Kapsel lösen, dabei
ist die Explosion erfolgt. Es wurde sofort ein Rettungswagen
bestellt. Das dauerte natürlich alles seine Zeit.
Die Lage war sehr angespannt. Die Hilfe kam im letzten
Augenblick. Dank der tüchtigen Ärzte im Meseritzer
Krankenhaus ist Onkel Georg wieder den Umständen
entsprechend hergestellt worden.
Die rechte Hand war total zertrümmert, das rechte
Auge weg, an der linken Hand fehlte der Zeigefinger.
Natürlich enorme innere Verletzungen, die aber alle gut
verheilt sind. Nach Auffassung der Ärzte war ein kleines
Wunder geschehen. Er hat dann mit der linken Hand
Schreiben gelernt und sehr viel damit geschrieben. Onkel
Georg ist im Alter von 71 Jahren verstorben und hat
in Pritzwalk seine letzte Ruhestätte gefunden.
Der treue Hund „Tasso“ hat meinem Onkel damals das
Leben gerettet. Er ist daher auch bis zu seinem Tode
dementsprechend behandelt worden.
Nach dem Neuanfang der Firma Friedrich & Georg Schulz 1947 in der Prignitz habe ich 18 Monate mit Onkel Georg zusammen auf Baustellen gewohnt. Mein Rüstzeug für das Gewerk Tiefbau habe ich zum Teil in dieser Zeit erhalten. Über den Unfall bei der Sprengung in Schierzig hat Onkel Georg nicht gern gesprochen
Der Krieg kommt in unser Dorf
Das Jahr 1943 brachte uns nun doch den Krieg in das Dorf. Obdachlose Bürger aus den westlichen Großstädten suchten Quartier bei den Verwandten oder wurden auch auf dem Dienstweg bei uns einquartiert. In unserem seit 1939 leerstehenden Pastorenhaus zog ein Kinderheim aus Hamburg ein. Das Heim lebte völlig abgeschottet von der Gemeinde. Immer öfter mußten wir gefallene Soldaten aus unserem Kirchspiel überläuten. Das allgemeine Leben war plötzlich verändert.
Zu Pfingsten 1943 flog am 2. Feiertag, am frühen Nachmittag, ein mächtiger Bomberverband über Politzig von West nach Ost. Plötzlich tauchten deutsche Jagdflugzeuge auf und schossen das Führungsflugzeug ab. Der viermotorige Bomber explodierte in der Luft und die Teile landeten am Janauer Stadtweg. Am Himmel schwebten 10 Fallschirme. In Politzig eine Aufregung! Es waren etliche amerikanische Jäger im Verband, die sich dann mit den deutschen Jägern kräftig bekämpften. Vier Jäger von uns wurden abgeschossen. Wir waren plötzlich im Krieg!
Die Besatzung des abgeschossenen Bombers wurde festgenommen und von den 122ern aus Meseritz abgeholt. Im Sommer kamen immer wieder Bomberverbände über unsere Heimat, die uns aber nicht weiter störten. Ab Oktober hatte ich keinen Schulunterricht mehr. Alle Meseritzer Schulen waren zu Lazaretten ausgelegt. Die ersten Flüchtlinge aus Ostpreußen und auch aus Ostpolen kamen. In Politzig war eine Betreuungsstelle, wo wir Pimpfe dann auch schon beschäftigt wurden. Im Herbst fand eine große Kleider-, Schuhe- und Textilsammlung statt. Hierbei mußten wir auch helfen. Hoffmanns Saal war voll belegt.
Aus den Beständen wurden dann die Trecks mit trockner Kleidung versehen. Um die Weihnachtszeit mußten etliche Frauen Tarnhemden (Schneehemden) aus der gespendeten Bettwäsche nähen. Tag und Nacht war Fuhrbetrieb auf der Straße.Von Soldaten war nicht viel zu sehen.
Zum Jahreswechsel hatten wir sehr viel Schnee und auch grimmige Kälte. Die Zeit war so aufregend, daß wir selbst noch nicht an eine Flucht gedacht haben. Mitte Januar wurde der Volkssturm 1 mobil gemacht. Unser Vater war dabei. Die Männer zogen ab nach Meseritz. Am 26. 01. 1945 wurden am Weg nach Reinzig drei Flakgeschütze in Stellung gebracht. Wir großen Jungen haben uns die Sache noch angesehen, und fühlten uns nun auch etwas sicherer.
Am Sonnabend, dem 27.01.1945 fand in der Brennerei des Gutes eine Einwohnerversammlung statt. Es wurde bekannt gegeben, daß der Ort am 29.01.1945 geräumt werden solle. Alle verfügbaren Gespanne wurden erfaßt und mit dem jeweiligem Personenkreis versehen. Meine Mutter, mein Bruder und ich waren einem Gespann aus Ostpreußen zugeordnet. 12 Gespanne aus Ostpreußen hatten eine Woche in Politzig Pause gemacht, um sich von den bereits zurückgelegten Strapazen zu erholen. Die Lage war sehr bedrückend. Schon am Sonnabend wurde uns als Endziel die Prignitz genannt. Also etwa 300 km Fahrstrecke, ohne Umwege. An Gepäck konnte nur das Notwendigste mitgenommen werden.
Der 29. Januar 1945
Um 6 Uhr früh kam der Kantor Franzke und gab uns Bescheid, daß wir mit einem Zug evakuiert werden und dieser ab 14 Uhr am Bahnhof bereitgestellt wird. Mit einem entsprechendem Handgepäck hätten wir uns dort einzufinden. Ferner sollte ich mit noch einem Jungen des Dorfes sofort einen Brief nach Solben zum Bürgermeister bringen. Mit meinem Freund Gerhard Pidde machte ich mich noch in dunkler Nacht auf den Weg nach Solben. Unsere Mütter waren nicht begeistert von der Sache. Wir wählten den kürzesten Weg, über den Solbener Kirchsteig. Schneehöhe 50 cm, Temperatur - 22 °C , Entfernung 4 km, eine nicht leichte Aufgabe. Kurz vor dem Wald tauchten plötzlich zwei Gestalten auf, Abstand etwa 120 m, wir blieben stehen und die beiden Männer auch.
Unauffällig zogen sich die Beiden dann aber zurück in den Wald.Wir waren froh! Es waren keine deutschen Soldaten, das stand fest. Sicher handelte es sich um sogenannte Kundschafter, die der Russe in unserer Gegend ausgesetzt hatte, um die Lage zu erkunden.
Wir stampften weiter in Richtung Solben. Bei Anbruch des Tages war das Ziel erreicht.
In Solben trafen wir den Volkssturm aus Politzig. Mein Vater war nicht sehr erbaut, uns hier zu treffen. Wir berichteten von unserer Begegnung, gaben den Brief meinem Vater und mußten uns nach entsprechenden Anweisungen sofort nach Hause begeben.
Nach 90 Minuten Eilmarsch waren wir wieder heil angekommen. Im Dorf war natürlich große Aufregung, aber auch etwas Beruhigung, denn wir brauchten nicht mit dem Treck abfahren. Heute kann ich nicht mehr sagen, ob die Leute der 12 Gespanne aus Ostpreußen mit uns gefahren sind oder ob sie weiter mit dem Treck gezogen waren. Wenn ja, sind die armen Leute den Russen in die Hände gefallen.
Unsere Flucht beginnt
Es kamen nun auch bereits Leute aus Betsche, die mit dem Zug mitwollten. Die Straße war immer noch voller Pferdewagen, jetzt meistens Gespanne aus dem Warthegau.Wir hatten unser Gepäck fertig zur Abreise liegen. Es kam dann auch ein Gespann und hat die Sachen eingesammelt. Für uns Jungens war die ganze Sache ein Abenteuer, für meine Mutter dagegen ein furchtbarer Augenblick. Es hatte sich nun herumgesprochen, daß wir nach Perleberg fahren werden. Auf dem Schulatlas habe ich mir die mögliche Fahrtroute eingeprägt. Die Haustür wurde verschlossen und der Opa bekam den Schlüssel. Er blieb ja mit noch mehreren älteren Männern in Dorf.
Wir fanden dann den Wagen mit unseren Sachen und suchten uns einen entsprechenden Waggon in dem langen Zug, der außerhalb des Bahnhofes stand. Die Obrabrücke war zur Sprengung vorbereitet, daher stand der Zug vor dem Bahnhof. Alle Leute mußten auf freier Strecke einsteigen. Durch den tiefen Schnee stapften die Menschen zum Zug. Es waren alles Personenwagen, sogenannte Eilzugwagen mit den vielen Abteiltüren nach draußen und innen nicht durchgängig. Natürlich besser als Viehwagen.
Nach etwa einer Stunde war alles verladen und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Sicher waren alle Fahrgäste gespannt, was sich nun wohl in den nächsten Tagen ereignen würde? Wir fuhren durch den Wald, wo unsere beiden russischen Kundschafter heute Deckung gesucht hatten. Ob die unsere Flucht erkennen?
In Bobelwitz gab es einen kurzen Aufenthalt, um einige Leute aufzunehmen. Weiter geht die Fahrt nach Meseritz. Auch hier steigen etliche Leute ein. Unser Abteil ist besetzt. Mit uns sind Kaufmann Fechner und Gattin, Hieronymus Binder und Gattin, meine Mutter, der Bruder und ich. Also sieben Personen und das Gepäck. Die in Decken verpackten Betten wärmen uns gut. Der Zug wird nicht geheizt und ist auch nicht beleuchtet.
Die Stadt Meseritz hat noch keinen Räumungsbefehl, obwohl die Panzer bereits in Heidemühle stehen. Bei Einbruch der Dunkelheit setzt sich der Zug in Bewegung. Da die ersten Panzer die Eisenbahnlinie nach Reppen schon besetzt haben, bewegen wir uns in Richtung Schwerin/Landsberg, also in nördlicher Richtung.Werde ich wohl noch einmal mit dem Zug über die Meseritzer Obrabrücke fahren? waren meine Gedanken.
Bei der einbrechenden Dunkelheit stellten wir fest, daß in Richtung Politzig der Himmel rot gefärbt war. Zu dem Zeitpunkt waren die Russen bereits in Politzig und hatten die Häuser in der Mitte des Dorfes in Brand gesetzt. Unser Zug bewegte sich jedenfalls in Richtung Landsberg langsam voran. Ob wir von Landsberg nach Küstrin die Ostbahn benutzten oder aber die Nebenstrecke über Kriescht Sonnenberg kann ich nicht sagen. Die Fenster waren dicht zugefroren und wenn ich mal eine kleine Fläche frei hatte, war alles nur weiß.
Wegen der eisigen Kälte, die draußen herrschte, durfte ich auch nicht die Tür öffnen. Kurz vor Berlin hielt der Zug auf freier Strecke und wartete einen Luftangriff ab. Deutlich waren kräftige Detonationen zu hören und auch das ewige Motorengeräusch der Bomber lag in der Luft.
Bei Anbruch des Tages fuhren wir dann in die durch dauernde Bombenangriffe zerstörte Hauptstadt ein. Auf einem Güterbahnhof war eine längere Pause vorgesehen. Sicher wurde die Lokomotive mit Kohle und Wasser versehen. Es ging auch bald wieder weiter und am frühen Nachmittag waren wir dann in Nauen. Hier war ein offizieller Aufenthalt eingeplant. Es wurden belegte Brote und Getränke verteilt. Wir waren ja auch schon 24 Stunden unterwegs. Auch konnten Toiletten aufgesucht werden. Es ging dann auch bald wieder weiter gen Westen.
Die zweite Nachtfahrt lag vor uns. Auf dem Bahnhof Neustadt/Dosse war wieder ein Versorgungsstützpunkt vorhanden. Also die Versorgung war abgesichert. Weiter ging die Fahrt in eine dunkle Nacht hinein. Jetzt hatten wir auf jeder Station einen Halt.
Wir fuhren auf einer eingleisigen Bahnstrecke, wo unser Zug als Güterzug behandelt wurde. Gegen 23 Uhr etwa wieder ein Stopp auf freier Strecke. Fast zwei Stunden lagen wir fest. Was ist hier denn los? Unsere älteren Leute wurden bereits unruhig. Meine Mutter hat immer wieder die Gemüter beruhigt. Der alte Herr Binder, ein sonst sehr spaßiger Typ, war völlig verzweifelt.
Plötzlich hörten wir einen langen Ton der Sirene, Entwarnung! Der Zug war vor dem Bahnhof wegen eines Fliegeralarmes gestoppt worden. Im Schritttempo ging es nun weiter.Wir fuhren in den Bahnhof Pritzwalk ein. Die Stadt war uns fremd. Es wurde bekannt gemacht, daß wir unser Ziel erreicht haben.
Am Ziel in Pritzwalk in der Prignitz
Hier in Pritzwalk war Tauwetter. Pimpfe und auch Jungmädchen transportierten unser Gepäck zur Gaststätte Gaffron, ca. 1 km entfernt vom Bahnhof. Der große Saal war mit Stroh ausgelegt und jeder bekam einen Platz. Auch die Gasträume standen uns zur Verfügung, natürlich ohne Stroh. Wir waren ja bestimmt 500 bis 600 Leute, wenn nicht noch mehr.
Nachdem jeder seinen Platz hatte, haben wir älteren Jungen uns auf den Weg gemacht, um die Stadt zu erkunden. Nach etwa einer Stunde Bummel durch das nächtliche Pritzwalk, mit seinen vielen Parkanlagen, standen plötzlich zwei kräftige Polizisten vor uns. Der nächtliche Ausflug war damit beendet, die Beamten brachten uns auf kürzestem Weg zurück in den Saal. Wir suchten uns ebenfalls einen Schlafplatz. Meine Mutter hatte nicht gemerkt, daß ich verschwunden war. Sie hatte sich um die älteren Leute gekümmert und denen Mut und Zuversicht zugesprochen.
Am Morgen des 31. Januar 1945 wurde dann auch bald mit der Verteilung der Flüchtlinge begonnen. Ein großer Teil wurde mit der Kreisringbahn in mehreren Etappen in Richtung Putlitz Suckow gebracht. Alle Dörfer entlang der Bahnstrecke wurden bedacht. Es war eigentlich alles sehr gut vorbereitet. Ein weiterer Teil unserer Leute kam nach Liebenthal Papenbruch, bei Wittstock. Der Rest blieb in Pritzwalk.
Mehrmals ging ich mit zum Bahnhof, um mich von den Kumpels zu verabschieden. Eine sehr intakte Jugendfreundschaft wurde in einer Nacht plötzlich völlig zerrissen. Bei vielen war es eine Trennung für immer. Meine Oma und auch meine beiden Tanten waren in Pritzwalk untergebracht worden.
Eine erste Unterbringung
Es war 23 Uhr des vorgenannten Tages und wir waren immer noch im Saal, laufend kamen wieder neue Flüchtlinge an. Wir waren wohl übersehen worden. Kurz vor Mitternacht brachte uns schließlich ein uniformierter Parteigenosse zur Familie Vogelsang. Bisher hatte die Familie jegliche Aufnahme von Flüchtlingen verweigert. Unser Gepäck wurde wieder von den jungen Leuten transportiert.
Nach heftiger Diskussion kamen wir bei der Schwiegermutter von Frau Vogelsang unter. Eine super Bleibe für uns. Wir wohnten im Eßzimmer der alten Dame, die bereits ihre Schwiegertochter mit Enkelin aufgenommen hatte. Wir paßten sehr gut in das Trio und haben bis zur Katastrophe am 15.04.1945 friedlich miteinander gewohnt.
Wir hatten uns sehr bald eingelebt. Zur Schule konnten wir nicht, da alle Klassen überbelegt waren. Für mich war diese Lösung zunächst nicht schlecht, im späteren Leben hat sich dieser Leerlauf natürlich sehr nachteilig ausgewirkt und ich hatte sehr viel nachzuholen.
Für uns und auch für die Oma und Tante Ida, mit den beiden kleineren Kindern sammelten wir etliche Tage trockenes Holz im Hainholz. Frau Vogelsang hatte uns einen Sammelschein besorgt. Wir bewohnten doch Räume, die sonst nicht geheizt wurden, da mußten wir zusätzlich in den Wald. Die Oma hatte ein besonderes Auge für trockene Holzstücke, wir sind nie leer nach Hause gefahren. Transportiert wurden die Äste mit der Sportkarre meiner Cousine Krimhild. Die Kleine war oft völlig eingepackt oder saß oben auf der Ladung. Mit meinem Bruder haben wir die Äste dann gleich zerkleinert und zur Trocknung aufgestapelt.
Am Konfirmandenunterricht konnte ich teilnehmen und wurde dann am Palmsonntag konfirmiert.
Wir waren über 100 Flüchtlingskinder, es kamen sogar noch Teilnehmer von den Trecks, die zu der Zeit sich in der Stadt aufhielten. Die gesamte Feierlichkeit fand bei Vollalarm statt.
Das Frühjahr 1945 war recht mild und die Natur weit fortgeschritten.Wir hatten viele Freunde gefunden und fühlten uns in Pritzwalk recht wohl. Oft kamen Politziger bei uns vorbei. Die Hauptfrage war immer: „Wann können wir wieder zurück?“ oder „Wo werden unsere Väter sein?“.
Aus den Wehrmachtsberichten war nichts Gutes zu entnehmen. Das Kriegsgeschehen belastete uns doch sehr. Die Amerikaner waren bereits bis zur Elbe vorgestoßen, 40 km von Pritzwalk entfernt. Die Russen waren an der Oder.
Unser Opa hatte nach meiner Konfirmation die Oma nach Berlin mitgenommen. Wenn die Russen in Berlin sind, können wir auch gleich nach Hause, so seine Devise. Er hat im Mai seinen Plan auch verwirklicht.
Ein Schreckenstag in Pritzwalk
Am 15. April 1945 war für die Stadt Pritzwalk das normale Leben schlagartig beendet. Speziell der Bereich um den Bahnhof wurde Opfer einer gewaltigen Explosion. Am Abend gegen 23 Uhr unternahmen Tiefflieger einen Beschuß auf dort abgestellte Transportzüge.
Hervorgerufen durch den Beschuß, explodierten nacheinander V-Waffen, die sich auf dem Wege nach Peenemünde befanden. Gleich nach der ersten Detonation waren der Bahnhof und alle Häuser im Umkreis von 150 m zerstört.
Im Haus Vogelsang waren alle Türen und Fenster aus dem Mauerwerk gerissen. Eine totale Verwüstung im Haus. Selbst die Treppengeländer waren aus den Halterungen gerissen und hatten sich im Treppenflur verkeilt. Etwa alle 20 Minuten gab es eine weitere Explosion. Es trat erst wieder Ruhe ein, als der letzte Waggon zerstört war.
Erst vermuteten wir den Abwurf von Bomben. Nach geraumer Zeit kamen Flaksoldaten zu uns in den Keller um Schutz zu suchen. Von den Soldaten erfuhren wir dann, was sich auf dem Bahnhof ereignet hatte.
Durch den Beschuß entzündeten sich mit Heu und Stroh beladene Waggons, die die Raketen zum Bersten brachten. Komplette Güterwagen waren bis 3 kim und mehr durch die Luft geflogen und im Hainholz gelandet. Ich selbst hatte etliche Schnittwunden am Kopf und an den Händen. Nach notdürftig angelegten Verbänden waren die Blutungen abgestellt Es war eine schreckliche Nacht!
Bei Anbruch des Tages mußte das zerstörte Gebiet um den Bahnhof von Zivilpersonen geräumt werden. Wir wurden in dem Saal der Gaststätte Jacob untergebracht. Zum Abend holte uns der Landwirt Walter Strenge aus Neu-Krüssow ab. Unter Tieffliegerbeschuß erreichten wir noch unversehrt das Dorf.
Der bereits mit Obdachlosen und Flüchtlingen voll belegte Ort mußte nun noch 18 heimatlose Seelen aus Pritzwalk aufnehmen. Wir waren der Hölle entronnen und wurden von den Leuten dort bewundert. In Neu-Krüssow selbst waren alle Scheunentore, die in Richtung Pritzwalk standen, durch den Luftdruck zerstört. Entfernung zum Explosionsort 6,5 km!
Eine gute Bleibe
Bei der Bauersfrau Helene Reibe fanden wir eine gute Unterkunft. Wir hatten fast kein Gepäck mehr. Ein Bett konnten wir aus den Trümmern bergen. Bekleidung hatten wir nur die Sachen die wir auf dem Leib hatten. Bei mir war es eine kurze Unterhose, eine Skihose, eine Jacke vom Schlafanzug und eine schöne Wolldecke, aber voller Blut. Frau Reibe war äußert nett und besorgte uns nach und nach Kleidung. Zwei Wochen später kamen die Russen und nach noch einer Woche war der Krieg aus.
Die Fremdarbeiter von Frau Reibe machten sich dann bald auf den Weg nach Hause. Es wurden einige Zimmer frei und wir konnten unsere neue Unterkunft einrichten.
Von nun an sind wir alle Landarbeiter. Zum Glück war die Frühjahrsbestellung erledigt. Die ersten Arbeiten waren die Versorgung der noch verbliebenen Viehbestände und die Unkrautbekämpfung auf dem Acker.
Die Russen hatten bis auf ein 18 Monate altes Fohlen alle fünf Arbeitspferde aus dem Stall geholt. Wir hatten für die 50 ha große Wirtschaft, in der wir nun lebten, keine Pferde mehr. Im Grunde genommen waren wir eigentlich froh, hier auf dem Dorf zu sein. In Pritzwalk hätten wir die Nachkriegszeit nicht so gut überstanden.
Im Moment war die Versorgung, also das tägliche Brot die Hauptsache und die Voraussetzungen waren hier gegeben. Meine Verwundungen heilten zügig ab, im Juni waren bis auf einen Glassplitter alle Fremdkörper verschwunden. Der letzte Splitter kam allerdings erst im Juni 1948 zum Vorschein.
Auf Grund meiner Verletzungen war ich im Sommer 1945 von der Feldarbeit befreit und Kuhhirte im Dorf. Unsere Weideflächen lagen 2 km entfernt vom Ort. Da mehrfach Vieh abgetrieben (gestohlen) wurde, entschloß man sich zur Bildung einer Wachmannschaft von fünf Personen. Es war eine verantwortlungsvolle Aufgabe, aber auch eine schöne Zeit.
Es gibt kein Zurück in die Heimat
Die Gedanken und Gespräche über eine Rückkehr in die Heimat flachten immer mehr ab. Wir jungen Leute hatten damit auch kein Problem. Bei unseren Eltern sah es natürlich anders aus. Im November 1945 kam plötzlich mein Vater aus russischer Gefangenschaft in Neu-Krüssow an. Welch ein Ereignis! Über Tante Emma in Berlin hatte er unsere Anschrift erfahren.
Während der Entlassung in Frankfurt/ Oder traf er noch seinen Bruder Georg, der auch entlassen wurde. Onkel Georg war sehr schwach und fast am Ende seiner Kräfte. Mit letzter Kraft schleppten sich nun beide nach Berlin zu Tante Emma.
Hier bekamen beide die Adressen der Familien und erfuhren gleichzeitig, daß Alle am Leben sind. Nach vier Tagen Aufenthalt und Stärkung bei meiner Tante hatten die Männer nun die Kraft, sich auf den Weg in die Prignitz zu begeben.
Ein weiteres freudiges Erlebnis hatten die Brüder dann noch in Wittenberge auf dem Bahnhof. Es war Abend, nach Pritzwalk fuhr kein Zug mehr, der Bahnhof wurde von allen Reisenden geräumt. Alle mußten zur Jahnschule und dort die Nacht verbringen.
Auf dem Wege dorthin treffen beide ihre Schwester Gertrud aus Meseritz. Welch eine Freude! Tante Trudchen war mit ihren beiden Kindern auf dem Weg von Berlin nach Niesky. Zu der Zeit war die Strecke nach Cottbus noch gesperrt.
Bei all den traurigen Anlässen gab es immer wieder auch freudige Erlebnisse. Am nächsten Morgen fuhr jeder seinem Ziel entgegen, mit der Gewißheit, daß die gesamte Familie bis jetzt den Krieg überstanden hatte.
Hier finden Sie die Fortsetzung: Neubeginn westlich der Oder.
von Herybert Schulz
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